Problem von Anonym - 17 Jahre

Ich komme irgendwie nicht mehr klar

Hallo erstmal,

Seit ein paar Monaten schon, bin ich am Überlegen ob das Leben noch etwas bringt. D.h ob mich überhaupt noch jemand liebt und wenn ich gehen würde, wer mich vermissen würde. Ich kann es nicht so richtig beschreiben. Angefangen mich zu ritzen habe ich auch schon aber habe auch sofort wieder damit aufgehört, weil es nichts gebracht hat es ist eher noch schlimmergeworden. Auch wenn ich mit jemandem rede und mich unterhalte, habe ich immer Angst etwas falsches zu sagen und das ich sofort ausgegrenzt werde. Ich habe eine beste Freundin, die aber eher mit ihrem Freund zusammenhängt als mir bei meinen Problemen zuzuhören. Sonstige Freunde habe ich eigentlich schon aber es sind halt nur normale Freunde die in der Schule oder im Sport zum "Reden" und Unterhalten dienen nicht wirklich Leute denen ich mich anvertrauen will.
Außerdem habe ich das Gefühl ich nerve alles und jeden und ja okay ich bin ein bisschen übermotiviert in manchen Fällen aber trotzdem. Meine Ausbildung macht auch sehr viel Spaß und sind auch alles nette Kollegen keine Frage aber auch bei denen habe ich das Gefühl alles falsch zu machen und sie zu nerven. Meine Familie ist auch nicht gerade die schlimmste auch wenn ich mit meinem Vater nicht so gut klar komme und meine Eltern sich öfters auch vor mir und meinem Bruder streiten. Mein Bruder und ich sind Zwillinge und sogesagt ein Herz und eine Seele. Trotzdem fühle ich mich hier auch als ob ich jeden Nerve oder alles Falsch mache.
Meine Gedanken, dass ich meinem Leben ein Ende setzen will werde ich auch nicht mehr los. Ich sitze jeden Abend in meinem Bett und fange an zu heulen, weil ich schon wieder die Gedanken habe: Mich braucht keiner und es wären alle froh das ich weg bin.

ich würde sehr gerne euren Rat hören und was ihr dazu sagt was ich ändern kann.

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

tatsächlich machst du alles richtig: Du verstehst es, zu schätzen, was du an deiner Familie, deinen Freunden und deiner Ausbildung hast. Ein großes Kompliment dir, weil du es geschafft hast, das Selbstverletzen zu stoppen! Bei alldem muss man natürlich sagen: Was man mit dem Verstand weißt - dass man im Leben recht viel Glück hatte - und was man in seinem Innern fühlt, das kann ganz unterschiedlich sein.

Ich habe den Eindruck, dass es besonders schwierig für dich ist, dem Schmerz keinen rationalen Grund unterschieben zu können. Aber es ist kein Widerspruch, sich unwohl und überflüssig zu fühlen, auch wenn man Menschen um sich hat, die einen lieben, einen Freundeskreis und eine tolle Arbeit vorweisen kann. Solcher Schmerz, solche Unsicherheit, wie du sie erlebst, können jeden treffen. Ich fände es wichtig, dass du dir nicht zusätzliche Schuldgefühle einredest, "weil es dir ja gut geht." Es mag zwar sein, dass deine Situation deutlich angenehmer ist, als die von vielen Leuten mit Selbstmordgedanken. Zumindest oberflächlich betrachtet. Dass du es siehst, ist schon eine große Leistung. Aber könnte es nicht sein, dass deine Gedanken gerade dadurch Nahrung erhalten: "Ich fühle mich so schlimm - aber habe ich das Recht dazu, wo ich es doch so gut habe? Wie komme ich nur dazu, so undankbar zu sein...?" Wenn das so ist, dann wäre schon eine Art kleiner Teufelskreis im Entstehen. Das ist mein erster Auftrag an dich: Gestehe dir zu, diese Gedanken zu haben, obwohl du - zum Glück! - nicht Gewalt oder Mobbing, oder ähnlich schlimmen Dingen, ausgesetzt bist. Auch du hast das Recht, diese schmerzliche Gefühlswelt zu erleben. Es ist nicht auf jemand beschränkt, dem es "schlechter" geht als dir. Ich würde mir wünschen, dass dein Unverständnis für das Warum dieser Ängste und Gedanken, sie nicht noch verschlimmert. Was du in deiner Überschrift mit "irgendwie" bezeichnet hast, hat seine volle Berechtigung. Auch du bist es wert, dass man sich damit auseinandersetzt, genau wie alle Anderen.

Es ist auf keinen Fall so, dass dich niemand braucht. Vielleicht kann es so erscheinen, wenn dein Leben im Augenblick nicht besonders spektakulär ist. Möglicherweise fehlt dir insgeheim ein Partner an deiner Seite, oder ein besonders guter Freund oder Freundin; das kann man gut verstehen. Doch besitze die Freundlichkeit zu dir selbst, darüber nicht zu verzweifeln: Was nicht ist, das kann noch werden. Dein momentaner Freundeskreis hat seine Berechtigung, darin nämlich, dass du Ansprache hast und nicht isoliert wirst. Einen besonders guten, vertrauensvollen Freund muss er nicht unbedingt vorstellen. Auch den oder die wirst du finden, da bin ich sicher. Vorerst, versuche, aus der Tatsache, dass es "nur normale Freunde" sind, keinen Vorwurf an dich mehr abzuleiten. Es ist gut, dass sie da sind, sehr gut sogar. Jedoch heißt es nicht, dass du versagt hättest, weil diese Kontakte nicht die allerintimsten sind, oder dass du keine enge Freundschaft mehr schließen könntest. Erlaube dir, dich zu dem zu beglückwünschen, was du schon erreicht hast. Hab Vertrauen darauf, dass es noch weitere, engere Freundschaften geben wird - alles kommt zu seiner Zeit. Es liegt nicht an dir, dass es gerade so ist; denn "gut Ding will Weile haben".

Kannst du dir vorstellen, dich über diesen Gedanken "ich nerve jeden" deiner Familie anzuvertrauen? Je länger du damit zu tun hast, umso intensiver könnten diese Gedanken werden. Nun wird das vielleicht das Letzte sein, was du willst - es offen erfragen. Denn danach, wirst du sagen, wird es noch schlimmer - besonders wenn es nicht weggeht. In der Tat, es kann nicht von heute auf morgen verschwinden. Doch wichtig ist es, dass du den Kreis dieser Gedanken unterbrichst: Fass dir ein Herz und sprich darüber. Das könnte so aussehen, dass du es z. Bsp. deinem Bruder erzählst, und ihn bittest, in dieser Hinsicht offen zu dir zu sein. Damit meine ich nicht, dass er dir gleich referieren soll, wo, wann und wie oft du ihn mal genervt hast. Vielmehr, dass du zu ihm kommen kannst, wenn dir mal ein konkretes Ereignis nicht aus dem Kopf will. Dann kannst du ihn fragen: "Du, erinnerst du dich noch an... Sag ehrlich, wie geht es dir damit? Warst du genervt von mir?" Seine Antwort wird, da bin ich mir sicher, völlig zu deinen Gunsten ausfallen. Wenn du ganz sicher sein willst, kannst du es ihm so mitteilen, dass das jetzt öfter vorkommen könnte. Sonst verfällst du noch wirklich auf die Idee, gerade nach einer solchen Situation besonders "störend zu sein"! Tatsächlich wirst du feststellen, dass hinter dem Gefühl, nervig zu sein, eine ganz andere Bewertung der Ereignisse steht. Was dir sehr wichtig ist, beschäftigt Andere längst nicht mehr, und umgekehrt. Durch die Gewöhnung an den Gedanken "Waren sie genervt, was denken sie bloß von mir?" hast du es so eingerichtet, dass selbst kleine Dinge dich sehr aus der Fassung bringen können. Vielleicht scheint dir selbst ein kleines Wort, eine achtlose Geste, über die du sonst kaum nachgedacht hättest, besonders falsch - weil du krampfhaft bemüht bist, ja niemanden zu stören. So kannst du erkunden, ob es wirklich so ist, und dich langsam mit dem Gedanken vertraut machen: Ich bin gar nicht so nervig. Stattdessen wird dein Bruder - oder wer es auch wird - in vielen Fällen nachfragen müssen, wovon du überhaupt redest. Weil seine Bewertung anders ist - wo du glaubst, ihm auf den Wecker gefallen zu sein, hat es ihn nur wenig gekümmert. Und solche Erlebnisse sind wichtig, damit du mit deiner Unsicherheit nicht allein bleibst.

Achte genau auf dich, wenn deine Suizidgedanken unerträglich werden, oder das Ritzen wieder anfängt. Im Zweifelsfall, sei so ehrlich, dir Hilfe zu suchen. Ich sage nicht, dass es sein muss; aber wenn es wieder anfängt, dein Gedanke, dein Leben zu beenden, einfach nicht weichen will: Dann solltest du nicht zögern, dir therapeutische Hilfe zu suchen. Es ist keine Schande dabei - am wenigsten vor deiner Familie. Denn dass du eine emotionale Zeit durchlebst, in der viele unschöne Bilder und Ängste dich heimsuchen, dafür musst du dich nicht schämen. Es ist jedem zugestanden, nicht allein denen, die es im Leben schlechter getroffen haben, als du oder ich.

Ich wünsche dir viel Kraft und, dass du mit deinen Zweifeln bald besser zurecht kommst. Es braucht seine Zeit, gib sie dir - das ist nur gerecht. Es ist sehr gut, dass du dich öffnen konntest, es zeugt von großer Reflexion und Vernunft. Nun habe den Mut, auch gegen diese Gedanken zu arbeiten - verzage nicht, es wird dir gelingen.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul