Problem von Anonym - 16 Jahre

Schwere Amokgedanken

Ich bin nicht so der Typ, der ewig lange Geschichten schreibt, deshalb werde ich alles so kurz, wie möglich halten.
Seit ich in der 7. Klasse war wurde ich gemobbt, hintergangen und gedemütigt. Die Schule war die Hölle auf Erden für mich. Jeden Tag Schikanierungen. Meine früheren Freunde haben mir den Rücken gekehrt, mich verraten.
Als das mit dem Mobbing besser geworden ist, haben sich meine Eltern getrennt. Und das nicht gerade auf die nette Art. Sie haben mich nicht geschlagen oder so, aber es machte mich trotzdem fertig.
Nach einem halben Jahr musste ich erfahren, dass meine Freundin mehrfach sexuell genötigt und vergewaltigt wurde und gamobbt dazu.
Jetzt stehe ich da, sie redet die ganze Zeit von Selbstmord und meine Eltern streiten sich immernoch, auch nachdem sie sich getrennt haben.
Ich sitze in meinem Zimmer und überlege, wie ich mich an diese ganzen, die mein und ihr Leben zerstört haben rächen kann.
Ich kann im Moment an nichts anderes denken, als sie alle zu töten.

Ich hoffe, dass das hier ernst genommen wird...

PaulG Anwort von PaulG

Lieber Anonymer,

ich nehme dich ernst und möchte versuchen, dir in dieser Sache zu raten. Deine Zuschrift verstehe ich nicht als Androhung, sondern dass du deinem gerechten Zorn Luft machst. Obwohl deine Wut mehr als verständlich ist, möchte ich doch vor allem einer Frage nachgehen: Ist Gewalt ein Weg, die Vergeltung zu bekommen, nach der du verlangst? Und wer wird am Ende der eigentliche Leidtragende sein?

Du bist verraten und schikaniert worden, warst ein Spielball im Streit deiner Eltern. Deiner Freundin ist Gewalt angetan worden. All das kann dir das Gefühl geben, dass sie es verdient haben. Wer so gewissenlos ist, Anderen das Leben - direkt und indirekt - zur Hölle zu machen, verdient es nicht anders. So denkst du, und ich kann das nachvollziehen.

Allerdings: Kannst du Dummheit wirklich bestrafen? Oder wird sie sich gegen dich wenden, nachdem du ein Verbrecher wirst? Es hat in den letzten Jahren mehrere Amokläufe gegeben. Und in den meisten Fällen muss man zumindest eines anerkennen: Die Täter hatten Grund, bodenlos wütend und verzweifelt zu sein. Sie sahen keine Zukunft mehr für sich. Sie wollten am liebsten alles aufgeben. Aber zuvor wollten sie sich an denen rächen, die an dieser Lage eine Schuld trugen: Lehrern, Mitschülern, einstigen "Freunden". Wie diese Geschichten ausgegangen sind, ist jedermann bekannt.

Auch du weißt, wie diese Ereignisse in den Medien verarbeitet wurden. Wenn du die Bilder von den weinenden Menschen und Kerzen und Blumen siehst, dann huscht vielleicht ein höhnisches Lächeln über dein Gesicht: "Warum trauert ihr", denkst du dir vielleicht, "woher wollt ihr wissen, dass die alle nichts getan haben?" Und in der Tat, wir werden nie wissen, ob die Täter nicht vielleicht genau wussten, wen sie töteten. Ich beabsichtige NICHT, ihre Taten irgendwie zu verharmlosen oder zu entschuldigen. Und ich habe auch NICHT das Ziel, dich zum Verbrecher zu stempeln. Bitte glaub mir das. Mir geht es um etwas Anderes: Wie würde es aufgenommen werden, wenn du deinen Rachegedanken wahr machen würdest?

Ich kann es dir sagen: Die Eltern der Mobber würden sich auf Titelseiten ausweinen. Die Gesichter der Leute, die dich fertig gemacht haben, würden millionenfach als unschuldige Engel abgebildet, die ja noch sooo viel vor hatten. Du hingegen wärst ein Verbrecher, und wenn du noch am Leben wärst, was für ein Leben wäre das? Deine Eltern haben sich getrennt, und haben immer noch nicht damit abgeschlossen. Die Scham und die Vorwürfe, die sie ertragen müssten, wünschst du ihnen vielleicht. Was aber ist mit denjenigen, die rein gar nichts damit zu tun haben? Der Rest der Schule, die Kleinen, die für ihr Leben an einem Trauma tragen? Es mag viele geben, die du tot sehen willst, ohne das ich dir diesen Wunsch vorwerfen könnte. Aber hast du deshalb das Recht, ihren Geschwistern, die von all dem nichts wissen, Schwester oder Bruder zu nehmen? Ihre Eltern, die es nicht besser wussten, als Augen und Ohren zu verschließen, um die Gesundheit zu bringen, und damit um ihren Job, und damit die Familien um ihr Leben? Liegt dir wirklich daran, dass dein Name für alle Zeit der eines Mörders ist? Für das, was dir angetan wurde, wird man sich nicht interessieren. Du wirst hinter Gefängnismauern verschwinden, oder selbst nicht mehr am Leben sein. Und wer wird draußen bleiben? Deine Eltern, ja. Um die magst du es nicht schade finden. Aber was ist mit deinen Großeltern, der restlichen Familie? Sind die für dich auch alle verdorben? Was ist mit deiner Freundin - sie ist doch der wichtigste Mensch in deinem Leben? Ihre Psyche würde endgültig zugrunde gerichtet. Sie wäre ein Wrack, unwiderruflich. Wenn du auf niemanden sonst Rücksicht nehmen willst, dann tu es für sie. Bitte.

Du klingst für mich so, als wärst du wild entschlossen, dein Leben in die Hand zu nehmen. Ich weiß nicht, wie du in der Schule dastehst, und was du für Pläne hast. In jedem Fall müssen wir eines bemerken: Alles Mobbing, aller Scheidungskrieg, haben dich nicht brechen können. Sie haben im Endeffekt nichts erreicht. Sie sind sogar dafür zu erbärmlich. Wäre es nicht sinnvoller, sie spüren zu lassen, dass sie nichts erreicht haben? Rache hat ein Problem: Man verliert leicht das Verhältnis zu dem Schlimmen, das einem selbst angetan wurde. Die Gefahr ist immer da, ungleich Schlimmeres zu tun. Und das ist eigentlich genau das, was sie mit dem Mobbing erreichen wollten: Sie wollten, dass du dich entblößt, deine unschönsten Seiten hervor kehrst, und damit jeder von ihrer eigenen Unschuld überzeugt ist. Solche Taten bauen darauf, dass die Reaktion sie rechtfertigt. Man kann von dir nicht erwarten, dass du Vergebung übst; jedoch, nichts würde sie so verärgern. Nichts kann eine wirkungsvollere Rache sein, als umso entschlossener den Erfolg zu suchen. Nichts kann einen Feind mehr ärgern, als dass sein Handeln wirkungslos bleibt. Du bringst die Voraussetzungen mit, dich auf produktive Art zu "rächen". Rohe Gewalt hast du nicht nötig. Begeh nicht den Fehler, zu tun, was sie von dir wollen. Sicher haben sie es sich nicht so ausgemalt. Aber wenn es so käme, wären die Rollen von damals für alle Zeit zementiert: Du der Idiot, auf den man treten kann, sie die Lämmer. Ist das in deinem Sinne? Ich glaube nicht. Werde nicht schwach, lass dich nicht hinreißen, ihnen ihren Willen zu geben.

Wer dich jetzt vor allem braucht, ist deine Freundin. Wenn es jemanden gibt, der ihr helfen kann, bist du es. Und so beschreitest du gleichzeitig den besten Weg, die Bilder zu bewältigen, die dich selbst noch verfolgen. Hat sie über eine Therapie nachgedacht, oder ist dabei, eine zu machen? Was man ihr zugefügt hat, wird sie nie ganz vergessen können. Aber man kann es überwinden, in der Weise, dass sie einen verständnisvollen Mann - dich - an ihrer Seite weiß, der sie beschützt, und mit dem sie die Liebe ganz neu, und schön, erfahren kann. Es ist eine besondere Leistung von dir, ihr Vertrauen zu haben. Was dich selber quält, ist der Gedanke, dass deine Schikanierer ungestraft davon kommen könnten. Aber sie haben ihre Kraft ja völlig umsonst aufgewendet, um dich zu brechen. Aus dir ist jemand geworden, der ein ganz besonderes Verständnis von Schmerz und Leid hat, und das Vertrauen eines Mädchens genießt, wie deine Freundin eine ist. Deine Eltern sind erwachsen, traurig genug, dass sie sich so unreif verhalten. Aber kann das nicht eine Aufforderung an dich sein, es besser zu machen als sie? Niemand verlangt von dir, das Vergangene ruhen zu lassen. Aber es kann dein Ehrgeiz sein, die Fehler, die deine Eltern gemacht haben und machen, nicht zu wiederholen. Und dich gegen das Leid einzusetzen, statt neues zu bereiten. Es wird ihnen nicht verborgen bleiben. Sie alle werden mit dem Gefühl der Scham leben müssen, das nie endet und immer wieder aufflackert. Und obwohl sie bereit waren, dich nach Strich und Faden fertig zu machen, werden sie doch niemals den Schneid aufbringen, sich bei dir zu entschuldigen. Lache über sie! Freu dich, dass du besser bist! Und trachte danach, es allen zu beweisen! So kann und wird es dir gut gehen. Ich habe Vertrauen in dich, was das betrifft, und wünsche dir, deiner Freundin und allen, die dir wichtig sind, alles Gute.

Liebe Grüße,

Paul