Problem von Tobi - 17 Jahre

Warum musste ich das erleben?

Hallo Paul

Den Montag werde ich wohl nie mehr vergessen. Ich war wie jeden Morgen mit dem Zug unterwegs zur Berufsschule. Alles schien eine ganz normale Zugfahrt zu werden. Doch plötzlich hörte ich nur noch, wie der Zug pausenlos Hupte, er bremste ab - dann ein Aufprall, eine leichte Erschütterung geht durch den Zug. Da bekam ich ein komisches Gefühl. Dann bestätigte sich, was ich vermutet hatte: Ein Mensch war vom Zug erfasst worden. Das Zugpersonal war angespannt, der Lokführer stand unter Schock.
Ich zugegebenermaßen auch. Der Zug stand mitten im nix, es ging nur ein Feldweg am Gleis entlang.
Nach 10 Minuten kamen die ersten Rettungskräfte an. Es war Polizei, Feuerwehr und Notarzt. Der Notarzt fuhr aber wieder, von dem Mann war nur noch Matsch übrig. Bald kamen Seelsorger vom Roten Kreuz in den Zug und vernahmen jeden einzelnen Fahrgast. Dann kam der Krisenmanager der DB, er sollte entscheiden, was zu tun sei. Es war geplant die Passagiere mit Bussen wegzufahren. Die Idee wurde verworfen, denn sobald man den Zug verlässt würde man ein Schlachtfeld sehen, sagte das Personal. Wir waren fast 4 Stunden im Zug. Die Polizei machte Fotos. Als der Beamte direkt vor meinem Fenster stehen blieb und genau die Stelle unter meinem Platz fotografierte wurde mir übel beim Gedanken daran, ob da die Teile eines Menschen unter mir liegen. Die Kriminalpolizei war auch da, ich sah Beamte mit Gummihandschuhen und in Gummistiefeln, sie hatten viele weiße Tüten dabei, ich will mir gar nicht vorstellen, was da drin war.
Nachdem die Kripo fertig war, durfte der Zug ein kleines Stück weiterfahren, dann blieb er stehen, ein Feuerwehrauto fuhr zum Zug, ein Schlauch wurde ausgerollt - sie spritzten den Zug vom Blut sauber....
Ich kann mich an jedes Detail erinnern.
Doch an die Zughupe und den Aufprall am besten, mir geht diese Szene nicht mehr aus dem Kopf. Ich krieg jedes mal ein schlechtes Gefühl wenn ich den Zug hupen höre.
Doch ich Frage mich auch, warum dieser Mensch das gemacht hat, sein Auto stand neben dem Gleis. Warum an einer so abgelegenen Stelle, warum unser Zug? Warum diese Uhrzeit?

Es beschäftigt mich einfach, es ist jetzt nicht so, das ich ein Trauma deswegen habe. Was verleitet Menschen zu so etwas?

PaulG Anwort von PaulG

Lieber Tobi,

es gibt tausend Antworten auf deine Frage nach dem Warum; und vermutlich würde keine der Verzweiflung, die er empfunden hat, wirklich gerecht werden. Wieso es ausgerechnet dein Zug zu dieser bestimmten Uhrzeit war - vielleicht hat die Person nicht einmal groß darüber nachgedacht. Vielleicht war es ein Kurzschluss, vielleicht aber auch nicht; vielleicht fuhren zehn Züge vorbei, bevor es geschah. Und alle Anderen, die mit dir darin saßen, können sich ebenso fragen, wieso ihre Umstände an diesem Tag mit diesen zusammentrafen, warum ein Mensch entschieden hat, sich das Leben zu nehmen, indem er ausgerechnet ihren Weg quert.

Ein Selbstmord ist meist nur das letzte Ereignis in einer langen Kette von Demütigungen, die sich ein Stück zu weit gezogen hat. Es war ein Montagmorgen. Viele von uns sind montags schlecht drauf, und nicht gerade in bester Erwartung der Arbeits- oder Schulwoche. Dieser Mann fühlte noch etwas ganz Anderes neben der körperlichen Müdigkeit, mit der wir uns oft in den Montag schleppen. Seine Erschöpfung war nicht bloß physisch, sondern vollkommen, sein Herz war gealtert. Es gab niemanden mehr, es zu verjüngen. Ohne dass ich seine Tat im Mindesten verharmlosen will, möchte ich eine Metapher wählen, die mir angemessen scheint: Gerade so, als ob er nach einem langen, ernüchternden Arbeitstag schlafen ging, so war es für ihn. Das Sterben selbst mag für ihn seine Schrecken gehabt haben, der Tod nicht; er bedeutete ihm Erlösung. Es ist furchtbar, aber es gibt diese Geschichten. Seiner Müdigkeit konnte kein Wochenende und keine Pause abhelfen. Der Schmerz wurde erst Resignation, dann zu dem Entschluss, nicht mehr des Lebens wert zu sein. Er wollte seinen Abschied nehmen, weil er glaubte, damit der Welt einen Dienst zu erweisen. So verzweifelt, so absolut gar nicht von sich überzeugt war er. Er wählte diese Art, es zu tun, weil sie zuverlässig ist - was du ja gemerkt hast. Niemand kann es ihm vorwerfen, und doch sollen diejenigen nicht vergessen werden, die diese Bilder vielleicht nie loswerden. Allen voran der Fahrer des Zuges, der nicht anders konnte, als Werkzeug zu sein. Was, so wenig wir einen Vorwurf daraus machen können, auch schlimme Konsequenzen für Dritte hat. Mag sein, dass dieser Mann nie mehr einen Zug wird fahren können.

Dieses Erlebnis kann Anlass zu einem Gedankenspiel sein. Eines, von dem sich möglicherweise profitieren lässt: Sich öfter mal zu fragen, was alles hinter der Stirn der Leute steckt, die einem täglich begegnen. Sie geben sich selbstsicher, forsch oder sind zurückhaltend, höflich, gemessen; tatsächlich kann man davon ausgehen, dass eine Masse offener Fragen dabei liegt, unbewältigte Probleme, unausgelassene Wut, die sich nur hier und dort, ganz dezent, Bahn brechen. Aber manchmal - und das ist das Entsetzliche - kulminiert diese Mischung in einer solchen Tat, einem Selbstmord. Und noch viel mehr als du und deine Mitfahrer, werden seine Familie, Freunde und Kollegen sich jetzt fragen, wie das sein konnte. Vielleicht hatten einige von ihnen eine Ahnung, waren womöglich sogar eingeweiht; vielleicht wusste niemand etwas. Vielleicht haben sie es aber auch geschehen lassen? Wir wissen es nicht, welche Verstrickung dahinter steckt, welche Details wir nie erfassen können. Jeder Mensch hat seine ganz besondere, ganz komplexe Geschichte, und nicht mal man selbst ist in der Lage, alle Facetten abzubilden. Sie äußern sich oft von selbst, in Zwischentönen, die wir nicht bemerken, oder krampfhaft vermeiden wollen - aber nicht können.

Wenn es im Augenblick jemanden gibt, den du nicht ausstehen kannst - was nur menschlich ist; wenn du den Eindruck hast, jemand in deiner Klasse oder deinem Freundeskreis sei seltsam angespannt oder verschlossen, oder patzig und zynisch: Dann halte die Augen offen. Ich meine nicht, dass du potenzielle Selbstmörder aufdecken sollst, das wird hoffentlich nicht nötig sein. Allerdings, wann immer dir jemandes Verhalten unangemessen vorkommt, wenn er oder sie bissig und unnahbar, oder nachdenklich und leise ist - wann immer dir etwas auffällt, das nicht sein müsste, beobachte es, und höre gut zu. Über kurz oder lang wirst du es mitbekommen, wie es dazu kommt. Wirst du den Grund erfahren, warum jemand zu dir patzig und ungeduldig war, den Grund, warum jemand deinen Blicken ausweicht; vielleicht wird deine erste Reaktion Verwunderung sein, dass nicht nur du es so erlebt hast. Die nächste Erleichterung, dass du nicht der Grund warst. Und in der Tat, so ist es oft: Irgendwo steckt ein geheimer Anlass, den du bisher gar nicht auf dem Schirm hattest, der auf einmal alles klar werden lässt. Solche Situationen hatte ich in den letzten Wochen oft. Man muss nur geduldig sein, und ein offenes Ohr haben. So hilft man vielleicht nicht, aber macht es nicht noch schlimmer für sie - und erfährt die Gründe. Warum hat die Frau in der Cafeteria mich neulich so angeblitzt, konnte ihr nichts schnell genug gehen? Jetzt weiß ich, dass nicht ich in meiner Persönlichkeit der Grund bin. Ich weiß jetzt, dass ihr Mann arbeitslos geworden ist; sie haben drei Kinder und ein Haus abzubezahlen. Es geht auch ganz anders: Warum war ein Deutschlehrer, den ich als eiligen, knapp grüßenden, sarkastisch lächelnden Mann kannte, an den letzten Sonnentagen so redselig, und hat sich mit mir eine Stunde über seine jüngeren Klassen unterhalten? Er kehrte die Seite hervor, die immer da war, aber die man als Schüler nicht zu spüren bekommt. Jetzt bin ich kein Schüler mehr, zwar auch kein Lehrer. Aber letzte Woche habe ich die Glückwunschkarte zur Geburt seiner Tochter unterschrieben.

Der Selbstmord, den du sozusagen miterlebt hast, kann ein Anstoß sein, aufmerksamer zu werden. Für alle Beteiligten. Aufmerksamkeit kann auch heißen, auf eine Stimmung nicht einzugehen, die jemand zur Schau trägt. Weiterhin höflich und ruhig zu bleiben, sich nicht wegschicken lassen, und nicht kontern. Das ist nicht immer Zeichen von Schwäche, das wird manchmal zu der Auszeichnung führen, eingeweiht zu werden. So kann man sich Festigung erwerben. Denn wie viele Kränkungen erfahren wir, die eigentlich gar nicht uns meinen, und wie oft gehen wir auf die Nerven, obwohl eigentlich gerade jemand anders derjenige ist, der nervt? Er oder sie ist nur nicht da, und wir baden es aus. So ist es eben, und so lassen wir es selbst Andere ausbaden, wenn es uns schlecht geht. So kannst du in deiner Familie und bei Freunden einüben, dich nicht provozieren zu lassen. Denn vielleicht bist nicht du das eigentliche Ziel ihres Ärgers? So kannst du auch einüben, dein eigenes Verhalten zu beurteilen, und, wo nötig, kritisch zu sein - um dich zu entschuldigen. Ich denke, in dir einen sehr aufmerksamen und empathischen Menschen vor mir zu haben, dessen sei sicher. Jedoch kann jeder, und ich als einer der Ersten, von Zeit zu Zeit einen Schuss Reflexion gebrauchen. Glücklich, wenn es uns gelingt, ihn zu schaffen.

Und schließlich, Tobi: Kein Selbstmord ist zwangsläufig, keiner ist gerecht, das ist klar. Aber stell dir vor, du kommst durch dieses Erlebnis dahin, nicht zu streiten, wo du dich sonst gestritten hättest. Höflichkeit zu zeigen, wo du sonst Kontra gegeben hättest. Trost auszuteilen, wo du sonst abschätzig gewesen wärst. Ich werde es nach deiner Zuschrift auch so versuchen. Und wenn wir beide das schaffen, dann war dieser Tod - so tragisch er ist - immerhin nicht umsonst. Dann hat sich gezeigt, dass nicht alles notwendig ist - wie etwa ein Selbstmord, was zu den schrecklichsten Dingen gehört. Aber gleichzeitig zeigt sich auch, dass aus deinem Erlebnis ein neuer Anfang, ein neuer Eifer entstanden ist. Wenn mit uns zwei Menschen sind, die daraus ihre Schlüsse zu ziehen versuchen, ist das doch schon viel wert? Ich denke doch. Wer immer sich dort das Leben genommen hat, hätte damit nie gerechnet. Er war zu versunken ins seine Verzweiflung, als dass er hoffen konnte, Gutes und Wertvolles zu tun. Das aber hätte er in diesem Fall. Lass uns diesen Mann nicht umsonst gestorben sein, Tobi.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul