Problem von Tobi - 15 Jahre

Ich habe ihren Suizid verhindert und jetzt komm ich selbst nicht mehr von dem Gedanken weg

Hallo,

Sorry aber ich muss jetzt einfach mal irgendwo des aufschreiben und brauch Hilfe.

Also, gerade eben ging alles verdammt schnell. Meine Freundin (16, seit ca. einem Jahr depressiv) hat einen Versuch gemacht und ich konnte ihn noch verhindern (sie hatte schon 9 Tabletten 800mg Ibuprofen genommen. Ich habe dann auf jeden Fall ihren Vater verständigt der jetzt noch mit ihr redet und wahrscheinlich nachher ins Krankenhaus oder die Psychiatrie bringt.
Ich habe jetzt aber voll Schuldgefühle und wurde am liebsten selber sterben. Von dem Gedanken komme ich nichtmehr weg.
Was soll ich machen?

MFG,
Tobi

PaulG Anwort von PaulG

Lieber Tobi,

mittlerweile konntest du dich hoffentlich ein wenig sammeln; dass du nach diesem Ereignis aufgewühlt warst, das wird wohl jeder verstehen. Ich hoffe natürlich auch, dass es deiner Freundin besser geht, und sie keine bleibenden Schäden davontragen wird. Zwar weiß ich nicht, ob sie bereits in einer Therapie war, und es vielleicht schon Ansprechpartner gibt, an die ihre Familie sich wenden kann. Falls nicht, wäre das tatsächlich eine Überlegung wert.

Zuerst will ich dir ein großes Lob mitgeben: Du darfst sehr stolz auf dich sein! Was es auch war, das deine Freundin zu diesem Versuch bewogen hat, du warst es, der sie davon abgehalten hat. Du hast ihr das Leben gerettet. Und einen größeren Dienst kann man kaum tun. Ich bin sicher, dass sie sich dessen bewusst ist, und im selben Moment, indem die Verzweiflung sie weiter gepackt hielt, auch erkannt hat: Da ist jemand, der mich braucht, und auf den ich zählen kann. Ist es nicht so? Das heißt nicht weniger, als dass du ein dauerhaftes Hindernis vor ihre Selbstmordabsichten gebaut hast. Sicherlich werdet ihr gemeinsam noch daran arbeiten müssen, ihre Depression in den Griff zu bekommen. Wenn es allerdings zwei gibt, die das gemeinsam schaffen können, dann seid ihr es.

Und das führt mich zum nächsten Punkt: Dir selbst etwas anzutun, wäre im Augenblick das Verkehrteste, was du tun könntest! Nicht nur, dass es im Grunde unüberlegt wäre - du stehst noch unter dem Eindruck ihres Selbstmordversuches, und die Sorge um sie nimmt dich mit. Das ist begreiflich und hat seine Richtigkeit. Doch auch wenn dich jetzt Fragen quälen: Was war da los? Habe ich was falsch gemacht, das vielleicht sogar herbeigeführt? Warum habe ich es nicht früher bemerkt, was mit ihr vorging? - nun, ich kann verstehen, dass diese Fragen dich beschäftigen. Ich will dir auch gar nicht verschweigen, es kann durchaus sein, dass ihr zu dem Zeitpunkt auch Zweifel an euch beiden kamen. Das jedoch geht keinesfalls auf ein Fehlverhalten deinerseits zurück. Du hast dich mit Sicherheit sehr korrekt zu ihr verhalten. Dein beherztes Eingreifen bildet nur den Höhepunkt in deiner Fürsorge für sie. Was davor war, kann man nicht nach einem Grund durchsuchen, du hast keinen geliefert. Vergiss nicht, dass die Wahrnehmung deiner Freundin durch ihre Depression getrübt ist; dass auch kleine und kleinste Dinge, die dem Gesunden belanglos scheinen, sie sehr aus der Fassung bringen können. Zu gewissen Zeiten gibt es da wohl nichts, was man in dem Sinn "richtig" machen könnte; man ist mit seinem Latein am Ende. Du hast zum rechten Zeitpunkt ihren Vater verständigt, und dir eingestanden, dass sie ohne Hilfe von Anderen nicht weitermachen kann. Das mag dir vielleicht wie ein Verrat vorkommen, es ist aber keiner. Denn hättest du versucht, alles selbst zu lösen, und wärst ein Risiko eingegangen, das dir nicht geheuer ist, hättest du dich auf dünnes Eis begeben. Du hast dich richtig verhalten, indem du für Sicherheit gesorgt hast, auch wenn das möglicherweise eine stationäre Unterbringung zur Folge hat. Diese wird jedoch nicht für ewig sein. Auch wenn deine Freundin darüber verbittert ist, dass sie ihr Vorhaben nicht umsetzen konnte - was ich nicht weiß -: Du hast auf jeden Fall richtig gehandelt. Im Moment musst du, so schwer dir das fällt, ein wenig Verantwortung für sie abgeben. So allerdings gewinnst du neue Kraft, um ihr noch besser beizustehen.

Sie braucht dich, und bald. Sie braucht vielleicht niemanden so sehr wie dich. Du hast eine sehr verantwortungsvolle Rolle inne, und solltest immer darauf achten, dass du nicht zuviel von dir verlangst. Ihr ist nicht damit geholfen, dass du alle Kräfte aufbietest, und dir dabei selbst schadest. Suche immer auch die nötige Distanz zu dem, was mit ihr geschieht, und behalte im Hinterkopf, dass sie gegen ihre Depression kämpft, und unter ihrem Einfluss steht. Wenn dir etwas zu heikel wird, die Verantwortung abzutreten, ist das Beste. Denn so sehr du den Wunsch hast, sie gesund zu machen: Es braucht noch Andere dazu. Es müssen Schritte unternommen werden - ihr abverlangt werden - die nicht angenehm für sie sind, und die du nicht über dich bringen wirst, von ihr zu fordern. Ich kann nur begrüßen und dir "auf die Schulter klopfen", dass du zu ihr stehst und dich um sie kümmerst. Jedoch solltest du nicht vergessen, dass auch du deine Stärkung und deine Pausen brauchst, und dass es Belange gibt, die außerhalb deiner Macht liegen. Gleiches gilt für ihre Familie. Dafür gibt es Therapeuten, vielleicht auch in einer Klinik; und wenn sie erst in den richtigen Händen ist, wirst du an sie herantreten, und sie nach Kräften bei ihrer Gesundung unterstützen können.

Das kann aber nicht gelingen, wenn du ihr den vielleicht wichtigsten Menschen - dich - nimmst! Erkenne an, dass niemand von dir die Aufmerksamkeit und den Einsatz gefordert hat, ihr noch früher in den Arm zu fallen. Du konntest es nicht, und niemand kann dir dafür böse sein. Sei stolz auf das, was du geleistet hast, und widme dich weiter dem Kampf für sie, um euretwillen. Dabei ist es aber wichtig, dass du nicht aus lauter Fürsorge dich selbst vergisst. Du bist an eine Stelle gelangt, wo du nicht weiter helfen konntest, und das mag dich erschrecken. Es war aber das einzig Richtige, und damit auch der größte Beweis dafür, was sie dir bedeutet.

Ich wünsche euch beiden alles Gute, und dass es euch bald gelingt, deine Freundin wieder die Sonne sehen zu lassen. Vertraue auf dich und darauf, dass du richtig gehandelt hast. So verständlich dein Schuldgefühl ist, so sehr muss ich ihm widersprechen: Es war das Beste, wie du vorgegangen bist. Das wird auch sie einsehen. Ich denke, dies ist kein Moment, ein Ende zu machen, sondern einer für einen Neuanfang.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul