Problem von Elektro - 28 Jahre

Generalprobe

Hallo,

Nun, ich brauche dringend Rat!

Es geht um Heiligabend! 

Ich habe viele Probleme die letzten Jahre gehabt. Zuerst fand ich halt in der Rockerszene, danach kamen Sucht, Ärger mit der Polizei, Depressionen. Das alles zu erklären und zu beschreiben würde Bücher füllen. 

Vor etwa eineinhalb Jahren geriet ich mit meinem Schwager in einen Streit, der in einer Prügelei endete, bei der ich letztendlich ein Messer zog.

Das alles tut mir so leid und da er eigentlich auch zu einem meiner besten Freunde geworden war, ärgerte mich das sehr. Wie konnte es nur so weit kommen? 

Jetzt sitze ich bei meiner anderen Schwester, bei der morgen meine ganze Familie Weihnachten feiert und mein Schwager will mitkommen.

Ich hatte eigentlich damit abgeschlossen, dass wir uns je wieder vertragen würden, aber aus unerklärlichen Gründen, möchte er nun morgen mitkommen. Das alles kommt so unerwartet.

Ich muss sagen, dass ich Anfang diesen Jahres mein Suchtproblem angegangen bin und seitdem komplett clean bin. Nächstes Jahr werde ich meine Haftstrafe wegen Altlasten antreten, um letztendlich komplett mit meiner Vergangenheit abzuschliessen. 

Ich habe mich wirklich wieder im Griff und versuche gerade von vorn anzufangen. 

Meine Pläne sind geschmiedet und ich rücke jeden Tag ein bisschen näher an das Ziel wieder alles in den Griff zu bekommen. Ich habe ein abgeschlossenes Studium. (Bevor das alles anfing hatte ich Elektrotechnik studiert und die Aussicht zu promovieren.) Jeder sieht das auch. Glaubt ihr, dass er mir deswegen verzeihen will? Meine Schwester hat damit nichts zu tun, denn sie steht zu ihm, egal ob er mit mir wieder klar kommen will oder nicht. Da ist also kein Druck dahinter. 

Vor nichts hatte ich je mehr Angst als vor morgen. Ich habe keine Angst vor dem Knast. Vor wenigen Dingen eigentlich. 

Nicht einmal hatte ich Angst als ich meine Frau wieder traf, nachdem sie mich mit meinen Kindern verlassen hatte. Ich hatte ihnen nie schlechtes getan. Ich war einfach immer nur unterwegs und zu, sodass sie irgendwann dachte, dass ich sie betrügen würde. 

Heute lebe ich wieder mit ihr und meinen Kindern zusammen und möchte, das nie wieder verlieren. Clean zu bleiben war die ganze Zeit nicht leicht, aber jetzt nach einem Jahr wird es immer besser und ich kann auch wieder glücklich sein.

Trotzdem habe ich Angst vor morgen und mein Kopf sagt mir Nein, aber mein innerer Schweinehund sagt mir: "Hol dir was oder trinke morgen einfach was, dann überstehst du das alles!" Natürlich höre ich auf meinen Verstand, aber ich weiss einfach nicht, wie ich mit ihm umgehen soll! Ich weiss es nicht.

Mit meiner Frau möchte ich darüber nicht reden. Mit jemandem anderem aus meiner Familie auch nicht. Ich möchte ihnen Weihnachten nicht versauen. Das würde die Angst wieder wecken, dass es für mich noch ein weiter weg ist. Allein Weihnachten kommt mir wie eine Generalprobe vor und jetzt noch das.

PaulG Anwort von PaulG

Grüße dich!

Hier schreibt dir jemand, der ein ganzes Stück jünger ist als du, und vom Leben nicht annähernd soviel Ahnung hat. Vielleicht steckst du schon mitten in der Situation, wenn meine Antwort dich erreicht. Aber ob das so ist, oder nicht, möchte ich dir trotzdem ein paar Dinge mitgeben.

Mein erstes Gefühl, als ich deinen Text las, war Respekt. Du hast wirklich keine leichte Zeit hinter dir, und du hast sehr viel geleistet. Ich ziehe absolut den Hut vor dir, dass du dich so am Riemen gerissen hast, und weißt was du willst. Die Fehler, die du gemacht hast, werfe ich dir nicht vor. Auch das, was nicht in Ordnung war, hatte seine Gründe bei dir, und du hattest mit am meisten darunter zu leiden. Es verdient wirklich hohe Achtung, was du geschafft und dir aufgebaut hast. Und du liebst deine Familie und magst sie um keinen Preis verlieren. Alles, was du dir mühsam wieder erarbeitet hast - und das ganz aus eigener Kraft! - steht für dich tausendmal höher im Wert, als die Ausrutscher, die es vorher gab. Heute ist Heiligabend - und heute entscheidet sich, ob deine Mühe Früchte trägt.

Du hast vollkommen Recht: Es ist eine Generalprobe! Es mag sein, dass dein Schwager nie mehr so leicht mit dir umgehen wird, wie es früher der Fall war. Möglicherweise wird er reserviert sein - vielleicht wird es zum Streit kommen. Das alles muss man sich klar sein, und das bist du. An dir ist es jetzt, koste es was es wolle, Ruhe zu bewahren. Trink nicht, halte es aus. Es ist tausendmal besser für dich, von ihm rund gemacht zu werden, blamiert zu werden, als die Fassung zu verlieren. Denn sonst könntest du tatsächlich alles verlieren. Doch ich habe vollstes Vertrauen in dich, dass es nicht soweit kommt. Niemand verlangt ja von dir, dass du ihn überschwänglich begrüßt. In gewisser Weise erwartet er wohl, dass du dein Fehlverhalten von damals eingestehst. Auch wenn er sich dessen selber nicht bewusst ist, nagt es an ihm. Und auch wenn er mit dem festen Vorsatz da ist, dir zu verzeihen, wird er nicht wollen, dass du tust, als wäre nichts. Was also kannst du tun? Ich würde ihm zu Anfang freundlich zunicken, und ansonsten eher im Hintergrund bleiben. Jeder Handgriff, der irgendwo geholfen werden muss, ist deiner. Und wenn es eine ruhige Minute für euch gibt, kannst du ihm ehrlich, aber nicht übertrieben, sagen, dass es dir leid tut. "Ich weiß, dass es sich nicht wieder gut machen lässt; ich weiß auch, dass du mir vielleicht nicht glauben kannst. Das respektiere ich. Aber ich bereue, was ich getan habe. Es war meine Verantwortung, und ich wünsche mir nicht mehr, als dass wir höflich miteinander umgehen können. Wenn es irgendetwas gibt, das ich für dich tun kann, sag es." Wie solche Worte quittiert werden, weiß auch ich nicht. Aber ganz gleich, ob die Reaktion überrascht oder verärgert, höhnisch oder nichtssagend ist: Was zählt ist, dass es ausgesprochen wurde. Doch dafür muss die Gelegenheit auch kommen. Wenn sie nicht heute kommt, wäre es vielleicht gut, es zwischen den Jahren per Brief zu tun; denn die Haft solltest du ruhigen Gewissens antreten können. Bedenke immer: Ungeschehen machen kannst du es nicht. Aber du kannst anbieten, was in deiner Macht steht. Wir alle sind nicht ohne Fehler, und es ist genauso ungerecht, es dir bis in alle Ewigkeit nachzutragen.

Aber glaubst du nicht, dass alles gut gehen könnte? Dass die Kälte in der Familie vielleicht gar nicht so groß ist? Vielleicht wird es nicht gerade zur Aussprache und Versöhnung kommen, wenn ihr euch seht. Aber dass er da sein wird, ist auch ein Zeichen von seiner Seite. Er ist dein Schwager, und somit hat auch er an Ansehen zu verlieren - bei seiner Frau und allen Anderen. Zwar mag deine Schwester nicht von ihm verlangen, dass er dir vergibt. Er kann es ja auch nur aus sich selbst heraus. Aber denkst du wirklich, dass es sie nicht beschämen würde, ihn als Ankläger auftreten zu sehen? Wenigstens wird ihnen an einem ruhigen Fest gelegen sein, das ja allen gilt. Dein Vorsatz könnte sein, um jeden Preis eine Eskalation zu vermeiden. Vermutlich wirst du nicht als der Leidtragende dastehen, vielleicht ist man eher auf seiner Seite. Aber was auch passiert, ist es für dich die Gelegenheit, zu zeigen, dass du dich unter Kontrolle hast. Dass du auch einstecken kannst, und dir deiner Fehler in der Vergangenheit bewusst bist.

Sag nicht: "Ich habe mich gebessert!" Denn du musstest dich nie bessern. Du warst immer schwer in Ordnung, warst im Grunde immer ein liebender Mann und Vater, und ein guter Freund, und das wird auch immer so bleiben. Du hast gewisse Irrwege beschritten, aber auch das hatte seine Auslöser, der Grund war nicht etwa, dass du verdorben wärst: Auch du hattest Dinge zu bewältigen, Schwierigkeiten zu stemmen, was auch immer das für welche waren. Du hast sie auf ungünstige Weise angefasst, aber das sagt noch nichts darüber aus, was sonst in dir steckt. Ich bin sicher, dass du es schaffen kannst. Dass du alles noch weiter ins Lot bringen wirst, und dein Glück dir erhalten. Das wäre doch gelacht, wenn du das nicht schaffen würdest! Ich vertraue auf dich. Es geht um dein Leben, deine Familie - und die wirst du dir von nichts nehmen lassen. Keine brenzlige Lage kann es schaffen, dass du das aufs Spiel setzt. Du bist der Mann, zu wissen, was sich gehört, und den Punkt zu kennen, wo du Haltung zeigen musst. Das ist heute, du hast es erfasst. Und du wirst es schaffen, sag es dir! Es wird dir gelingen. So ein kleines Weihnachten wird dich nicht um dein Glück bringen. In vielen Familien wird gestritten werden, heute, und heftig. Aber was immer bei euch geschieht, du wirst diese Probe bestehen. Vielleicht nicht sehr glanzvoll - aber dann auch nur, weil man dir gar nicht die Chance dazu gibt. Du wirst es aber packen, und hinterher freier atmen. Die Haft und alle anderen Steine, die dir noch im Weg liegen, schrumpfen dann zu einem Nichts. Du wirst sie lächelnd aus dem Weg räumen.

Du hast es bis hierher geschafft, und das nötigt mir allen Respekt ab! Ich bin fest davon überzeugt, dass es dir gelingt. Und ich wünsche dir von Herzen - trotz allem - Frohes Fest, einen guten Rutsch, und dass deine Wünsche in Erfüllung gehen.

Liebe Grüße,

Paul