Problem von Laura - 16 Jahre

Die Rückkehr aus meinem Austauschjahr

Hallo liebes Kummerkasten Team,
ich bin vor einem halben Jahr aus meinem Austauschjahr aus England zurückgekehrt und schaffe es einfach nicht, mich wieder einzuleben.
Es gibt Tage da sitze ich in meinem Zimmer und weine. Ich will so gerne zurück und ich habe das Gefühl keiner versteht mich. Meine Eltern sind sauer, dass ich lieber in England wäre als hier und verstehen das alles nicht. Meine Freunde fühlen sich vernachlässigt.
Ich habe schon mit Freunden und Bekannten gesprochen, die auch ein Austauschjahr gemacht haben, aber denen geht es nicht so schlimm. Klar ist es hart für sie, aber sie weinen nicht so oft oder liegen nachts wach im Bett und denken an die tolle Zeit.
Ich fühle mich so zerrissen, als ob ein Teil von mir noch dort lebt. Ich habe fast täglich Kontakt mit meinen Gasteltern, wir hatten ein sehr gutes Verhältnis und sie kommen mich auch bald für eine Woche besuchen.
Was soll ich tun? Nicht mal Ratgeber haben mir geholfen. Ich weiß nicht, wie ich mich hier wieder eingewöhnen kann. Es ist so schwer über die Zeit dort nachzudenken und zu wissen, dass ich vielleicht nie mehr hinkann.
Danke für die Hilfe.

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Laura,

es ist schade, dass deine Freunde und Eltern nicht das Verständnis für dein Problem haben, das du dir wünschst. Ich denke, gerade jetzt um Weihnachten rum muss es besonders schmerzhaft sein. Meine Meinung ist: Deinen Schmerz teilen vielleicht nicht alle, die von einem Auslandsjahr kommen, aber deswegen ist es trotzdem kein Grund, sauer auf dich zu sein. Das Erste, was er bedeutet, ist ja: Es hat dir super gut gefallen! Demnach hat das Jahr dir vermutlich alles gebracht, was du dir davon erhofft hast: Dein Englisch zu verbessern, dich in deiner Gastfamilie einzuleben, Anschluss finden und das Land und die Menschen besonders eng kennen lernen; näher, als das in jedem Urlaub geht. Mit Sicherheit hat dieses Jahr dich einen großen Schritt vorangebracht, was deine Erfahrung, deine Menschenkenntnis, dein Sprachvermögen und überhaupt deine Weltoffenheit angeht. Also, sei stolz darauf! Dein Schmerz steht für die besonders intensive, erfahrungsreiche Zeit. Dass dieser große Gewinn sich so äußert, ist nicht schön, aber irgendwie logisch: Für dich ist Vieles weggebrochen, das du kennen und lieben gelernt hast. Das bedeutet ja nicht, dass du im Umkehrschluss Deutschland nicht mehr leiden magst. Dir fehlt einfach etwas, und das sollte auch verstanden werden.

Ich kann umgekehrt genauso nachvollziehen, dass es deine Eltern oder Freunde frustriert: Sie können sich nur schwer in deine Lage versetzen, zumal ja schon etwas Zeit seit deiner Rückkehr vergangen ist. Hier sind wieder andere Ansprüche an dich, andere Leute, die Zeit mit dir verbringen und genießen wollen, deutsche Schule, anderer Ablauf - diese Ansprüche sind zwar gerechtfertigt; aber es zeigt auch, dass sie eben nicht das erlebt haben, was du erlebt hast. Dadurch bleibt immer ein gewisses Unverständnis, das sich schwer überbrücken lässt.

Mit 16 war ich eine Zeit lang bei Verwandten von mir in Australien. Zwar längst nicht so lange wie du in England, aber ich glaube, das Gefühl zu kennen, das du beschreibst: "The grass is always greener on the other side", erklärte mein Onkel, als ob er geahnt hätte, was nach meiner Heimkehr passieren sollte. Tatsächlich war dieses andere Land in meiner Vorstellung einfach perfekt, und weil die Menschen dort anders auftraten, die Landschaft zumal ganz anders war, sehnte ich mich danach zurück, sobald mich hier der Alltag wieder eingeholt hatte. Es dauerte eine ganze Weile - vielleicht bis vor relativ kurzer Zeit - ehe ich mich von dem Bild lösen konnte, das ich verfolgte. Die Erinnerung an eine schöne Zeit hochzuhalten ist das Eine; aber je mehr man sich auf eine Erinnerung einlässt, desto mehr verändert sie sich in winzigen Details, und wird ausgerechnet durch den Wunsch, sie zu erhalten, ein Stück weit verzerrt. Mit anderen Worten: Es ist wichtig, darauf zu achten, dass man das andere Land nicht idealisiert. Du warst ein ganzes Jahr in England, und hast daher vermutlich ein sehr realistisches Bild vom Alltag deiner Gasteltern, und von den Pflichten und Aktivitäten der Schüler; man kann nicht sagen, dass es dir leicht fiele, deine Zeit zu beschönigen. Das tust du sicher nicht. Nichtsdestotrotz hast du dein Auslandsjahr auch in einem geschützten Rahmen verbracht, und hattest immer eine gewisse Sonderstellung inne. Ich möchte damit auf keinen Fall deine Erfahrungen abwerten. Jedoch: Würdest du tatsächlich in England leben, und berufstätig sein, mit all den familiären Bindungen und Pflichten, die man so hat (und die du jetzt nicht hattest); würden Behördengänge und Vereine und Steuern, und was es alles gibt, dir tatsächlich den Druck aufgeben, den du hier in Deutschland gewohnt bist (soweit es dich betrifft): Dann wäre dein Bild deutlich anders. Keineswegs negativ, aber sehr viel mehr durch Stress und Alltagsroutine und "Ernst des Lebens" gekennzeichnet, als es dein jetziges ist. Ich bin nicht mit dir dort gewesen, und möchte nichts klein reden und keine falschen Behauptungen aufstellen. Es tut mir leid, sollte ich das in deinen Augen getan haben. Aber gerade, wenn du vielleicht planst, einmal dauerhaft nach England überzusiedeln (was toll wäre!), ist eins wichtig: Dein Erleben und Erinnern wird dann anders sein.

Deine Metapher von der Zerrissenheit trifft es wohl sehr gut. Aber vielleicht könnte man sie etwas positiver formulieren? Zum Beispiel: Ja, du bist nicht mehr ganz hier angekommen; ein Teil von dir wird immer dort sein, und du wirst immer davon zehren. Schade wäre es, wenn du immer mit Schmerz daran denken müsstest. Mit deinen Gasteltern zu schreiben oder zu telefonieren ist eine tolle Möglichkeit, den größten Schmerz (vielleicht) für diese kurze Zeitspanne zu verringern. Die Gefahr ist nur, dass du, wenn ihr aufgelegt habt, umso tiefer "ins Loch fällst". Auf Dauer wäre es daher vielleicht sinnvoll, euren Kontakt ein wenig zu begrenzen - oder sagen wir, mehr ein Ritual daraus zu machen: Zum Beispiel, indem ihr nur noch einmal die Woche telefoniert. Dann alle vierzehn Tage. Oder wie wäre es, wenn ihr euch darauf verlegt, hin und wieder einen Brief zu schreiben? Das hat den Vorteil, dass man sich Zeit nehmen kann, um in Ruhe über die Gestaltung nachzudenken - und ob es vielleicht Dinge gibt, die man lieber nicht erzählen mag. Die Antworten kannst du sammeln, und hast damit wiederum wertvolle Erinnerungsstücke. Gleichzeitig könntest du versuchen, die Erinnerung an das Jahr in eine besonders würdige Form zu bringen: Lege mit den Fotos, die du besonders gern hast, ein Album an. Oder auch zwanzig. (Wenn du es noch nicht hast). So kannst du jederzeit ans Regal schauen, und weißt, dass deine Fülle an Eindrücken wohl verwahrt ist - die jetzt noch sehr lebendig ist, in einem Jahr oder zwei aber vielleicht nicht mehr so. Mit der Zeit wird die alte Heimat dich auch in Gedanken mehr in Beschlag nehmen, spätestens, wenn das Frühjahr kommt und dann der Sommer. Bis dahin könnte ich mir vorstellen, deiner Zerrissenheit auch in deinem Zimmer Ausdruck zu verleihen: Eine Wand wird mit Bildern und Sachen gestaltet, die dich mit Deutschland verbinden - die andere mit Mitbringseln aus England. Denn was du erlebt hast, geht dir ja nicht verloren. Es gehört ab jetzt untrennbar zu dir. Worum es geht, ist ja nur, deinen gedanklichen Schwerpunkt besser steuern zu können. Wenn dich also gar nichts weiterbringt, solltest du besser alle Fotos und Erinnerungen erstmal wegräumen. Wenn der Zeitpunkt kommt, an dem du Lust kriegst, sie dir anzusehen (ohne dass du gleich einen Kloß im Hals bekommst), wirst du merken, dass es sich gebessert hat.

Wenn deine Gasteltern da sind, wird es sicher sehr schön. Aber was, wenn sie wieder gehen? Dann wird es möglicherweise nochmal sehr schwer. Ich denke, es könnte dir helfen, diese Woche mit ihnen genau zu planen: Was ihr unternehmen wollt, was du ihnen zeigen willst. So hast du eine Aufgabe, und stimmst dich gleichzeitig darauf ein, ihnen deine alte Heimat zu zeigen - was dich wieder enger an sie knüpft. Was schön wäre, wenn ihr nochmals über deine Zeit dort resümieren könnt, du deinen Dank zum Ausdruck bringen, vielleicht auch durch ein Geschenk; einen Abend solltet ihr vielleicht einer Art Abschlussritual widmen. Nicht in dem Sinn, dass ihr den Kontakt abbrecht, sondern gute Wünsche und Gedanken austauscht, und einander sagt, was euch besonders gefallen hat. Aber deine Gasteltern könnten dann auch davon erzählen, was ihnen gerade Sorgen macht, ob es familiär ist, in ihrem Freundeskreis (eurem gemeinsamen?), oder ihr Land als Ganzes betrifft. Das kann dir eine Ahnung geben davon, was an England auch nicht so perfekt ist. Als ich nach Australien ging, hatte ich drei kleine Engelchen aus Ton dabei - für mich, meine Tante und meinen Onkel, die dort sind. So sind wir aneinander geknüpft. Vielleicht denkst du dir etwas Ähnliches für dich und deine Gasteltern aus?

Versuche auch - selbst wenn es schwer fällt - wenigstens hin und wieder auf deine Freunde einzugehen. Nimm dir fest vor, an bestimmten Tagen ihre Unternehmungen mitzumachen. Spätestens, wenn es wieder wärmer wird, kann Beschäftigung dir am besten Linderung bringen. Denn ob es DVD-Abende oder Kino ist, Disko oder gemeinsam essen, oder im kommenden Jahr Schwimmen, Radfahren und Konzerte: Je mehr du es schaffst, dich durch andere Dinge in Beschlag nehmen zu lassen, desto weniger spürst du die Trauer. Es ist ein wenig wie bei einer Liebesbeziehung, die in die Brüche gegangen ist. Oder ich sage mal, die gerade eine Weile ruhen muss. Das Tolle ist ja, das Leben liegt vor dir - und England läuft dir nicht weg. Wer sagt denn, dass du nicht irgendwann dorthin gehst, um zu bleiben? Um dich abzulenken, solltest du natürlich auch eher Sachen machen, die du schon kennst, wo du dich sicher fühlst, und wirklich gern tust. Denn die Eingewöhnungsphase muss zu keiner bestimmten Zeit abgeschlossen sein; sie kann sich sehr lange hinziehen. Du hattest dich stark auf dein anderes Leben in England eingestellt, jetzt wirken vielleicht auch Dinge komisch, die zu deinen Lieblingsbeschäftigungen zählten, bevor du gingst; und Orte erscheinen fremd, die deine Lieblingsplätze waren? Als du nach England gegangen bist, war alles neu und aufregend, und du wusstest: Falls was schiefgeht, kann ich zurück, und ich weiß dann, wohin ich komme. Das ist zum Glück nicht geschehen, sondern du hast dich gut eingelebt und eine tolle Zeit verbracht. Jetzt, mit deiner Heimkehr, bist du quasi ins kalte Wasser geworfen worden. Es braucht seine Zeit, bis du die Schwimmzüge wieder sicher machst, die du vorher gewohnt warst. Und wie lange das dauert, kann dir niemand vorschreiben. Dein Schmerz ist okay - verlange nicht von dir, dass er weggehen muss, jetzt und sofort und ganz. Damit legst du dir selbst das größte Hindernis in den Weg. Es wird sich bessern - aber zuvor wäre mein Wunsch, dass du dich freuen kannst über diese schöne, einzigartige Erfahrung, und die ganz neuen Einsichten, die du gewonnen hast.

Ich wünsche dir guten Rutsch ins neue Jahr, und dass es dir die Verbesserung bringt, die du dir wünschst. Aber was es dir - hoffe ich - auch bringt, ist größere Leichtigkeit mit dir selbst, und Freude, statt leisem Schmerz, an deiner Zeit in England.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul