Problem von J. - 18 Jahre

Angst vorm Psychologen - Was könnte passieren?

Hallo liebes Kummerkastenteam :)

Erstmal möchte ich euch für die Zeit und Mühe, die ihr in diese Seite investiert meinen Respekt aussprechen. Ich finde es einfach toll, dass ihr hier Menschen hier so uneigennützig helft. :)

Meine Situation ist folgende: Ich bin 18 Jahre alt, habe letztes Jahr mein Abitur gemacht, und bin momentan arbeitslos. Zwar habe ich mich um eine Ausbildung bemüht, aber der Ausgang hiervon liegt noch offen (außerdem plane ich seit einigen Wochen ein Praktikum in einem sozialen Beruf) .

Das Problem hierbei ist, dass ich vermute, dass bei mir psychisch etwas nicht stimmt. Das ganze fing schon vor meinem Schulabschluss an (ungefähr 1 Jahr). Obwohl mir mein Abitur und meine Zukunft eigentlich sehr wichtig waren (sehr wichtig; ich hatte große Angst, dass aus mir nichts wird, weil ich kaum eine Vorstellung davon hatte, wohin ich beruflich gehen möchte), war ich antriebslos und konnte mich zu fast gar nichts mehr aufraffen. Ich hatte große Probleme morgens aus dem Bett zu kommen, und habe deswegen auch einfach öfters die erste Schulstunde verpasst, im Unterricht konnte ich mich kaum mehr konzentrieren, an Wochenenden habe ich teilweise ca, 12 Stunden pro Nacht geschlafen. Früher ins Bett zu gehen hat nichts genützt, dann habe ich einfach noch länger geschlafen. Das Hauptproblem war jedoch, dass ich auch sonst kaum Energie für irgendetwas hatte. Keine Energie für die Abiprüfungen zu lernen, oder Bewerbungen zu schreiben oder sonst etwas. Glücklicherweise habe ich mein Abi dann doch noch irgendwie geschafft.

Ich schob das alles auf die Pubertät und auf den Schulstress, und dachte mir, dass das besser wird, wenn ich nach meinem Abschluss etwas zur Ruhe komme. Aber es hat sich allenfalls verschlimmert. Ich hab einfach so vor mich hin gelebt, hab überhaupt nichts mehr zustande gebracht, die meiste Zeit hab ich einfach in meinem Zimmer gesessen und die Zeit vorm PC totgeschlagen. Wenn ich mich dann mal aufgerafft hab, irgendwas produktives zu tun, wie Staub zu saugen o.ä. war das schon ein besonderes Ereignis, und das passierte dann auch nur 2 Mal die Woche oder so. Ich schäme mich dafür, weil ich weiß, dass das ein extrem trauriges Leben ist. Ich hab viel geweint und wollte irgendwie da rauskommen, aber es ging einfach nicht. Ich hab auch keine Bewerbungen geschrieben, weil meine ganzen Gedanken nur waren "Wozu eigentlich? Die nehmen dich doch eh nicht! Du kannst doch eh nichts!".

In letzter Zeit ist es etwas besser geworden. Zumindest hab ich nun auch einen Ansatz, wo ich beruflich hin möchte, habe ein paar Bewerbungen geschrieben und konnte mich auf 8 Stunden Schlaf einpendeln, und ich kann an manchen Tagen sogar richtig viel schaffen! Aber solche "Fortschritte" hatte ich schon öfters, und am Ende bin ich dann immer "rückfällig" geworden.

So langsam glaube ich, dass es besser wäre, deswegen zum Arzt/ Psychologen zu gehen. Aber um ehrlich zu sein, fürchte ich mich davor. Meine Mutter hat mich ausgelacht, als ich ihr das erzählt habe (wir haben ein eher schlechtes Verhältnis zueinander), und mein Vater meinte, dass ich das lassen sollte. Falls ich dann eine Diagnose bekommen würde, würde mich auf dem Arbeitsmarkt sowieso niemand mehr wollen, und um ehrlich zu sein, kann ich mir das gut vorstellen.

Ich weiß, wie das alles klingt. Als wäre ich einfach nur zu faul den A**** hochzukriegen und mein Leben in die Hand zu nehmen. Aber für mich fühlt es sich nicht an wie Faulheit oder Bequemlichkeit. Ich fühle mich komplett ausgelaugt und antriebslos, als hätte ich keine Kontrolle mehr über das, was ich tue.

Sollte ich mir "Hilfe" besorgen oder nicht? Was würde das für meine beruflichen Chancen bedeuten, wenn ich dann eine Diagnose bekäme, also im Lebenslauf stünde "Pause aufgrund einer (psychischen) Erkrankung" (momentan interessiere ich mich sehr für soziale Berufe, auch solche mit recht hoher "Belastung". ) Macht das dann zwangsläufig den Eindruck "Oh, die nehmen wir nicht, die ist nicht belastbar genug für den Job!" auch wenn es mir dann längst wieder gut geht? Was ist eure Meinung dazu?

Ich danke euch für euren Rat.

Liebe Grüße,

J.

PaulG Anwort von PaulG

Liebe J.,

ich möchte meinen: Wenn du das Gefühl hast, dass ein Psychologe dir helfen könnte, dann ist es sicher nicht verkehrt. Mir fällt allerdings auf, dass du sowohl "ohne" als auch "mit" nicht zufrieden bist: Du hast bereits gewaltige Fortschritte auf dem Weg erzielt, dich ins Leben zurückzuholen und deinen Tagesablauf vernünftig zu gestalten, wirfst dir aber trotzdem noch vor, nicht genug und nicht ständig alles zu tun. Wenn du dir jetzt einen Psychologen holst, befürchtest du, deinem eigenen Anspruch und dem deiner Eltern ebenso wenig gerecht zu werden, und nebenbei deine berufliche Zukunft zu vermasseln.

Mir scheint, du denkst in sehr absoluten Kategorien, J. Du erwartest von dir, entweder zu funktionieren - und zwar permanent und total - oder du bist krank und ungenügend; und wenn dem so ist, ist eh alles verloren. Das sehe ich anders. Ich muss dir ein großes Kompliment machen: Du hast von dir selbst aus erkannt, dass eine depressive Stimmung dich im Griff hielt, und alle Schritte ergriffen, zu denen ich dir sonst geraten hätte. Du schaffst es, den Haushalt zu besorgen, weder zu viel noch zu wenig zu schlafen, und machst dir Gedanken, was du aus deinem Leben machen möchtest. Mehr noch, du ergreifst konkrete Schritte und hast den nächsten bereits ins Auge gefasst. Glaubst du nicht, dass das alles ein Grund ist, sehr stolz auf dich zu sein?

Rückschläge haben wir alle mal. Es ist deiner Einschätzung überlassen, ob sie bei dir überhand nehmen, und ob eine Therapie Hilfe bietet. Das wird sie jedoch sicher nicht, wenn du das Gefühl hast, dabei mehr aufs Spiel zu setzen, als du möglicherweise gewinnen könntest. Von einer Diagnose - wenn es sie geben sollte, muss es ja noch nicht die tragischste sein - muss dein zukünftiger Arbeitgeber ja nichts erfahren. Im Übrigen sind Depressionen (ich verwende den Begriff einfach mal) ja längst eine viel festere Größe in der Arbeitswelt, als man glauben möchte. Gesucht sind ja nicht Rossnaturen, sondern jemand mit Herz und Verstand. Wer nicht erfahren kann, kann auch schlecht beraten - und auch bei harten Gemütern bleibt auf Dauer eine Mehrbelastung nicht aus. Da mach dir keine Gedanken. Wenn du den Wunsch hast, jetzt das zu tun - dir einen Psychologen zu suchen - dann tu das. Denn du allein weißt am besten, was für dich sinnvoll sein könnte; und auch wenn es dir nicht oder nicht gleich hilft, wird sich auf die Dauer doch herausstellen, dass du richtig entschieden hast - weil es deine eigene Entscheidung war. Keine, zu der dich jemand gedrängt hat, auf welche Weise auch immer. Aber ob du das wirklich willst, oder ob deine Bedenken (noch) zu groß sind, kannst nur du wirklich beantworten.

Nach meinem Abitur hatte ich drei Monate frei. Soviel wie noch nie. Der Kontakt zu den Kurs- und Stufenkameraden verlief sich, um erst später wieder zaghaft zu beginnen; alle hatten sich verstreut, gedanklich und tatsächlich, und zwar über die ganze Welt. Wir haben die Schule erlebt als den immer gleichen, täglichen, quälenden Trott von Aufstehen, Hetzen, Funktionieren und erschöpft wieder abtreten. Das Ganze angereichert mit Tests und Klausuren, die oft gar nicht so wild waren, wie wir es uns ausgemalt hatten. Aber das zu realisieren, fiel bis zum Ende, bis zum Abitur, oft schwer. Oft genug hatte man sich entweder aus Unentschlossenheit und Abgelenktheit zu wenig vorbereitet - oder man hatte vor lauter eigenem Druck mehr getan, als das Erlebnis letztlich vermuten ließ. Selbst das Abitur war ja nicht der Kreuzesgang, den wir erwartet haben, wenn wir mal ehrlich sind. In größerem Maßstab brachte es das, was wir kannten. Die notenmäßige Gewichtung ist das Eine - aber so spektakulär war es doch wieder nicht. Vielleicht, weil wir uns vorstellten, das Ganze wären gefühlte Wochen, in denen wir auf Herz und Nieren geprüft würden, auf alles, was wir nur je gelernt haben. In Wahrheit waren es Vormittage, anstrengende, ja - aber sie gingen vorbei, und dann war plötzlich die letzte Prüfung geschrieben, und wir hatten doch immer Fragen gehabt, die bekannt waren, und die man womöglich gern beantwortet hat. Das war das Abitur, das war - auf zwölf Jahre gestreckt - die gesamte Schulzeit. Und erst danach konnte man wirklich begreifen, was hinter dem Begriff "Schule" steht. Jemand stellt sich hin und sagt "Ihr habt noch Zeit, ihr lernt noch." Und als alles vorbei war, sahen wir plötzlich, wie der tägliche und wöchentliche Ablauf in einen noch viel größeren Rahmen eingebettet war. Wir hatten Sommerferien, und waren traurig, dass sie vorbei gingen. Wir hatten Weihnachtsferien, Oster- und Pfingstferien; ich sehe heute, wie die Kleinen (auch wenn sie es selbst nicht merken) nach den Ferien, über deren frühes Ende sie sich beschweren, sehr viel ausgeglichener sind. Und ich spüre zum ersten Mal einen Sommer vergehen, der nichts, aber auch gar nichts Vorherbestimmtes nach sich zieht. Es gibt kein weiteres Schuljahr mehr, über das ich mich ärgere, vielleicht auch freue, das mich aber vor allem mit dem Satz empfängt: "Du hast Zeit, viel Zeit..." Jetzt habe ich die auch noch. Aber ich gestalte sie selbst. Dreizehn Jahre hat mir jemand gesagt, was kommt, vor allem aber, dass das Leben, das eigentliche Leben, noch nicht begonnen hat. Jetzt ist das da, was wir ersehnt haben. Das Leben ist da. Und es vergehen keine Schuljahre mehr, nur noch das Leben. Tag für Tag. Ich gestehe dir offen, ich habe mich nicht gut damit gefühlt - und warum sollte ich der Einzige sein? Was du empfindest, hat sich vorbereitet, und es trägt sich jetzt aus. Nicht immer ohne Schmerzen. Verlang nicht zuviel von dir! Du hast mehr erreicht und überwunden, als du glaubst. Mehr geschafft, als viele in deiner Situation in diesem Zeitraum geschafft haben. Du kannst stolz auf dich sein, ob du dich entscheidest, dir Hilfe zu suchen, oder nicht.

Ich wünsche dir, dass du dir bewusster sein kannst, was du geleistet hast - und dass du etwas für dich mitnimmst, gleich wie deine Entscheidung ausfällt. Ausschlag gebend sollte nicht sein, was du an Folgen prophezeit bekommst oder befürchtest, sondern was du in dir für ein Bedürfnis hast. Denn auch diese Fähigkeit zur Einschätzung ist es, die - auch und gerade in sozialen Berufen - verlangt ist. Du kannst also nur gewinnen!

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul