Problem von Tobi - 17 Jahre

Wer bin ich?

An Paul G.

Hallo,
Ich weiß nicht ob du dich noch an mich erinnern kannst, ich hoffe schon, da nur du meine ganze Geschichte kennst.

Es ist jetz schon fast ein halbes Jahr her, seitdem ich das letzte mal Kontakt zu ihr hatte. Die Zeit danach hat mir echt gut getan.
Doch es scheint Folgen hinterlassen zu haben.

Ich kann mich einfach nicht mehr verlieben, es klappt nicht mehr, ich kann die Person auch noch so toll finden und mit ihr reden, es funkt nicht. Mein Hirn scheint etwas zu blockieren.

Ich bin auch nicht schüchtern oder so, sonst könnte ich im Club nicht einfach so ein Mädchen ansprechen und mit ihr Tanzen (obwohl ich ne totale Tanzniete bin :) ich bemühe mich!)

Sobald mich ein Mädchen interessiert anguckt fange ich an komisch zu werden, ich kann ihr ja nicht 10 Min. in die Augen schauen, ich empfinde einfach nichts. Es scheint dann so, wie wenn eine Wand zwischen mir und ihr wäre.

Woran liegt es, dass ich bei Mädels so bin?
Auf einer Seite will ich jemanden der mich liebt, ja ich sehne mich schon fast danach andererseits bin ich aber froh dass ich an niemanden gebunden bin. Ein Widerspruch an sich.

Meine Freunde sind schon toll, ich hab schon so viel mit ihnen erlebt, mit einigen mitgelitten wenn es ihnen schlecht ging. Sie haben für mich immer ein offenes Ohr und lenken mich ab. Doch ich seh auch wie ihre Beziehungen aufblühen, wie glücklich sie dann sind wärend ich allein bin.
Es ist schon bisschen Ironie wenn sie bei ihren Beziehungsprobleme ausgerechnet mich fragen obwohl ich damit keine Erfahrung hab.

Ich muss dich noch etwas fragen: Mein
Alter Chef sagte nach meinem Abteilungswechsel, dass er gerne mehr Ecken und Kanten von mir gesehen hätte. Darum frag ich dich, was sind für dich Ecken und Kanten? Reicht es etwa nicht, dass ich so bin wie ich bin?

Ich weiss nicht mehr wer ich bin, ich war mal anders, lebensfroher.
Mein leben langweilt mich oft. Es passiert immer das gleiche.

Nun denn, ich hoffe du bekommst diese Mail. Ich bedanke mich trotzdem schon mal bei dir für deine Hilfe.

PaulG Anwort von PaulG

Lieber Tobi,

natürlich erinnere mich an dich, sehr gut sogar - und schreib gern immer wieder, wenn du das Bedürfnis danach hast!

Folgendes ist mein Eindruck: Du stehst fester im Leben denn je, dazu beglückwünsche ich dich. Und doch scheint es, als lebtest du hinter Sonne und Mond. Die Metapher von der Wand, die du gewählt hast, trifft es, wie ich finde, gut: Nur fragt sich, woraus besteht eigentlich diese Wand?

Dass du den ausbleibenden Kontakt zu deiner alten Liebe als positiv empfindest, begrüße ich. Doch diese Liebe hat in dir Spuren hinterlassen. Dem größten Geheimnis, dem wir Menschen nachgehen - was eigentlich Liebe sei? - kann weder ich, noch du, noch irgendjemand anders je eine vollständige Antwort zugesellen. Denn jeder Mensch fordert durch seine ganz eigene, ganz besondere Persönlichkeit eine völlig andere Art der Zuneigung heraus.

Ist es wirklich so, dass sich bei dir keine Liebe einstellen will, wenn du mit einem Mädchen zu tun hast? Oder hast du in dir einen Anspruch, "was ich jetzt fühlen sollte", dem du nicht gerecht wirst? Das ist nur eine Idee. Aber wenn du dem zustimmen kannst, frage ich dich: Wie solltest du ihm gerecht werden? Was du zurückgelassen hast, ist eine Liebe voller Tragik und unangenehmer, oft peinlicher Verwicklungen, die dich trotzdem gekräftigt und in eine gute Lebensrichtung gestoßen haben. Die Liebe zu dem Mädchen, die uns in Kontakt gebracht hat, war ein in sich gutes Gefühl; viele unerfüllte Träume und herbe Enttäuschungen heften sich daran, doch auch viele richtige Einsichten und hoffnungsvolle Pläne. All das macht dich aus. Wärst du ein weniger reflektierter, umsetzungsstarker Mensch, als du es bist, hättest du dies alles nicht zu einem so guten Abschluss bringen können. Das ist deine Leistung, Tobi, vergiss niemals, darauf stolz zu sein! Allerdings: Was dir diese Liebe an guten und schlechten Gefühlen beschert hat, ist nicht zu vergleichen mit dem, was hinter den Augen der - quasi - Unbekannten aus dem Club lockt. In ihnen wohnen tausend verführerische Herrlichkeiten, greifbare und nicht greifbare, aber auch ungeahnte Gefahren und Fallstricke. Sie alle locken dich, aber vor dieses Tor zu einem neuen Paradies sind zwei Wächter gestellt. Zwei Engel mit flammenden Schwertern, wenn du so möchtest: Das eine Schwert heißt "Was sie war". In dem vereinigt sich alles, was deine alte Liebe ausgemacht hat - ob tatsächlich, oder deinen Gedanken entsprungen. Du weißt, dass das andere Mädchen nicht schlechter ist, jedoch anders, völlig verschieden - und das hemmt dich. Das zweite Schwert heißt "Was sie sein könnte". Es meint all die verborgenen Eigenschaften, schöne und weniger gute, meint die neuen Risiken und Peinlichkeiten, die dein Gegenüber mitbringen könnte. Deine alte Liebe als Person hast du hinter dir gelassen. Jetzt gilt es, dich innerlich von dem Anspruch zu lösen, sie wiederzufinden - nur besser, in anderer Verkleidung. Denn deine Freundin, die vielleicht gar nicht mehr weit ist, wird im Grunde nichts mit ihr gemein haben; zwar magst du auf Anhieb Parallelen erkennen. Vielleicht sind es sogar gerade die Dinge, die dir ähnlich scheinen, die dich abschrecken. Aber sei getrost: Es gibt sie nicht. Das Abenteuer, das du wagen möchtest, ist ein ganz neues Kapitel. Wohl kannst du in den vorherigen nachschlagen - aber darfst darüber nicht vergessen, die neuen Zeilen zu schreiben.

Ich glaubte stets, in dir einen Menschen vor mir zu haben, der nach Perfektion strebt. Dieser Perfektionismus wurzelt in den hohen Ansprüchen, die du an dich selbst hast, und die etwas Gutes sind. Aber Vollkommenheit zu wünschen, kann dich daran hindern, das Leben voll auszukosten. Denn es ist nie etwas völlig perfekt. Das Mädchen, die du einstmals liebtest, hättest du auf Händen getragen - und ich zweifle nicht daran, dass es allein in deiner Stadt ca. 1000 junge Frauen gibt, die exakt nach dir suchen. Nach einem Freund, der sie als Person respektiert, selbstkritisch ist, der an sie denkt und bereit ist, für sie Umstände in Kauf zu nehmen, die nicht so easy sind. Du bist ein toller Kerl - aber würdest du durch die Clubs ziehen, und denken "Ich bin unwiderstehlich" - nun, dann wäre all das Tolle an dir zu Rauch verweht. Ohne die immer wieder kommenden Zweifel, die gesund sind, ohne die Frage, was dein Handeln bewirken könnte; ohne den Gedanken, ob du auch alles richtig machst, und ohne das Wundern über eigentliche Widersprüche - ohne all das wärst du nicht der liebenswerte Mann, der du bist. Beides gehört zusammen; du wärst nicht so ein Traumtyp, wenn du das immer und ständig von dir denken würdest. Der Zweifel gehört dazu, er ist dein wichtigster Garant für dein Glück im Ganzen. Der Schritt, den du gerade gehst, ist ebenfalls nicht leicht. Denn du hast zwar die Liebe zu IHR aufgegeben; aber erst allmählich drängen sich die neuen Gesichter vor SIE, und die Einsicht, dass viele dir bieten können, was SIE vielleicht geboten hätte. Nun, ihr Pech. Aber in der Summe ist das, was du erlebst, sehr positiv. Denn es braucht oft Jahre, um eine wirklich starke Liebe wirklich umfassend zu verarbeiten. Auch wenn wir uns das nicht eingestehen. Du brauchst deine Zeit, und du nimmst sie dir; wenn dein Herz bereit ist, wird es dir das sagen. Und hab keine Angst - es passiert.

Möglicherweise war es auch das, was dein früherer Chef meinte. Denn du bist nicht so sehr zu Risiken bereit, du möchtest gerne auf der sicheren Seite sein - auch wenn du dich nicht scheust, deine Gefühle zuzugeben. Aber was bedeutet das im Betrieb? Du möchtest gefallen, das ist gut. Du musst umgekehrt auch nicht auf Konfrontation aus sein. Und doch: Trau dich was - sei auch mal launisch, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Lasse deine Gedanken und Ideen den Leuten zuteil werden. Denn es beeinflusst durchaus das Betriebsklima, wenn jemand zwar sehr bemüht ist, aber sich im Großen und Ganzen einordnet. So bist du ein solider Mitarbeiter, aber die Impulse überlässt du anderen. Zu Kompromissen wirst du stets bereit sein - aber was spricht dagegen, Einfluss auf sie zu nehmen? Vielleicht konnte ich dir eine Vorstellung geben, was ich meine. Du hast dich zwar als verlässliches Glied der Firma profiliert, aber nicht als treibende Kraft, nicht als Inspirationsquelle. Als belastbares Rad im Ablauf, aber nicht als schillernde, unverzichtbare Persönlichkeit, die einen denken lässt: Der gehört dazu, ohne den geht es nicht so gut! Der man auch mehr anmerkt, dass sie ihren Job gern macht, bei aller sonstigen Mühe. Du hast einen guten Job gemacht, aber dabei blieb deine Persönlichkeit auf der Strecke, du wirktest etwas farblos. Aber es braucht Zeit; und ich würde, was dein alter Chef gesagt hat, auch nicht als Vorwurf auffassen. Denn wo das alles seine Gründe hat, wissen wir - und sie müssen sich auswachsen.

Es gibt mehr als Liebe auf den ersten Blick - auch mehr, als Liebe auf den zweiten. Es gibt: Lieben zu lernen. Und dazu gehört auch, sich wieder an die Fähigkeit heranzutasten, die man unter Aufopferung und idealisierenden Träumen begraben hatte. Wirklich unbefangen, neugierig zu lieben - und an die Liebe nicht gleich Hoffnung aufs große Glück zu knüpfen - das gewinnst du gerade wieder. Es ist durch und durch etwas Gutes. Könnte es nicht schön sein, einfach wieder sagen zu können: Ich bin verliebt? Sicher doch - oder? Wenn du daran gleich die Pläne zu einer neuen Beziehung knüpfst, die unbedingt kommen soll, geht das womöglich schon etwas zu weit. Was ich dir wünsche: Dass dir ein Gesicht zuschwebt, das du makellos schön findest; Züge, die dich zum Dichter machen. Und die dir nicht den Wunsch eingeben: Ich muss ihr gehören!, und die nagende Furcht, sie könnte sich anders entscheiden. Sondern eine weniger anspruchsvolle, auf den Genuss des Gefühls ausgelegte Liebe. Dass du dich traust, auf Mädchen zuzugehen, ist ein gutes Zeichen - und dass du auf mehr als das Eine aus bist, werden sie merken. Vorerst aber wünsche ich dir, dass du träumen kannst. Einfach träumen von Kuscheln und Tanzen und Spaziergängen mit EINER - die aber vielleicht, von heute auf morgen, dir wieder entfliegt. Was liegt daran? Was zählt ist, die Liebe neu zu ertasten. Du hast sie von ihrer tragischen Seite kennen gelernt; jetzt versuche, sie von der sorgenfreien kennen zu lernen. Eine Freundin zu finden, lässt sich nicht planen. Es wird geschehen, ohne dass du es erwartest - so ist es immer. Bis dahin: Es ist Frühling! Und jetzt braucht Liebe keine knallharte Planung fürs Leben; sie braucht noch nicht mal Sex zu ihrem Glück. Sie braucht jemanden, der einfach Freude daran hat, zu lieben. Ohne Plan, ohne Verstand, ohne Begierde, ohne Anspruch - das kannst du sein.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul