Anwort von Dana

Meine liebe Sarah.

Ich stelle immer wieder fest, dass es extrem harte Probleme gibt, mit denen sich junge Menschen herum schlagen müssen. Es tut mir sehr leid, dass du Menschen als Eltern hast, die nicht sehen, was sie mit ihrem Verhalten auslösen.

Es ist verständlich, dass es dir im Herzen weh tut, so "verstoßen" zu sein. Du suchst nach dem Grund, du suchst diesen Grund vor allem in dir. Ich möchte dir mal erzählen, wie es oft ist, wenn ein Kind abgeschoben wird. Und warum es so ist.

Natürlich gibt es mannigfaltige Gründe, warum eine Familie ihr Kind nicht behalten kann. Auch wirklich natürliche und logische Gründe. Bei deinem Fall fällt es zwar schwer, das zu sehen, aber ich gehe davon aus, dass deine Eltern zu dem Zeitpunkt (und eigentlich jetzt auch noch, wenn man ihr Verhalten sieht) überhaupt nicht in der Lage waren, ein Kind zu erziehen und groß zu ziehen. Wahrscheinlich waren sie selbst jung...und/oder mittellos. Auf jeden Fall waren sie zu unreif.

Was wir ihnen aber unbedingt zugute halten sollten: sie haben dich nicht abgetrieben. Du durftest leben.

Und das ist der Fakt, der deinen "Fall" besonders macht, liebe Sarah. Denn dieser Fakt zeigt, dass dein Leben deinen Eltern etwas wert war. Es war ihnen nicht egal. Heute ist es oft so, dass, wenn zwei Leute zu blöd zum "safe poppen" sind, wie man das so schön nennt, die Frau panisch zum Arzt rennt "mach es weg!!". Dies haben deine Eltern nicht getan. Deine Mutter hat dich bekommen...nur danach ging halt nix mehr. Wir wissen nicht, unter welchem Druck die beiden standen, was in ihrem Leben nicht stimmte, dass sie dich nicht behalten haben.

Du kannst aber davon ausgehen, dass nicht du als kleiner Mensch es warst, sondern die Umstände und die emotionale Reife deiner Eltern. Sei sicher, dass du nicht aus deiner Mutter kamst und sie sich dachte: "Och nö, DIE will ich net..." Das kann ich mit nahezu 100% Sicherheit sagen. Lass es chronische Überforderung gewesen sein, lass es panische Angst gewesen sein, lass es die Lebensumstände gewesen sein...du als Person warst es sicher nicht.

Eltern, die ihr Kind nicht automatisch schützen (das ist nämlich eigentlich sogar genetisch einprogrammiert), haben einen generellen Defekt. Das könnte noch dazu kommen. Und ganz ehrlich: vielleicht haben sie dich sogar vor schlimmerem bewahrt, nämlich Vernachlässigung und dem furchtbaren Gefühl, keine Liebe zu erfahren. Nicht, weil du so furchtbar bist...sondern weil sie unvermögend sind. Unvermögend im Bereich der Emotion, im Bereich der Zuwendung. Egal, woran ich denke, dich trifft in keinem Fall die Schuld. Wie auch? Du warst ein Baby. Ein Baby KANN überhaupt nicht Mist bauen, ein Baby kann nicht fies sein und gemein, dass man es nicht mehr leiden kann. Ein Baby ist 100% schutzbefohlen. Sollte es also Störungen im Bereich Eltern-Kind-Beziehung geben, gehen die zu 100% von den Eltern aus. Weil DA dann irgendwas nicht stimmt.

"Mach dir nicht so viel daraus" ist leicht gesagt. Es schmerzt trotzdem. Ich versuche nur, dir Gründe aufzuzeigen, warum du weg gegeben wurdest und zu erklären, dass du genau NULL Schuld daran hast.

Warum wollen sie nun keinen Kontakt zu dir?
Oh, DAS ist einfach.

Stell dir mal vor, du hast etwas Schlimmes getan. Es nagt immer noch an dir, nicht, weil du es bereust, sondern weil das eine einschneidende Sache in deinem Leben war. Und dann gibt es jemand, der dich alleine durch seine bloße Existenz genau daran erinnert. Immer wieder. Du erinnerst deine Eltern an ihr eigenes Unvermögen. An ihr Versagen. Sie schauen dir in die Augen und alles kommt hoch. Sie fühlen sich unangenehm berührt. Wieder nicht durch dich als Person. Sondern nur durch das, was SIE damals getan haben und was scheinbar null reflektiert und verarbeitet ist.

Du persönlich verstehst nicht, dass man zu seinem Kind keinen Kontakt haben will, ja, dass man es überhaupt abgibt. Weißt du, was das über dich sagt? Es besagt, dass du das Glück hast, dieses Unvermögen deiner Eltern nicht geerbt zu haben. Du bist emotional, du bist warmherzig. Du würdest dein Kind niemals weggeben. Und das zeigt ebenso, was für ein wunderbarer Mensch du bist, wie der Fakt, dass du wohl Freunde hast und, obwohl du im Heim groß geworden bist, ein rundum gelungenes Mädchen geworden bist. SO viele Menschen, die im Heim groß werden, haben wilde Probleme. Du bist ein Erfolg. Und genau das solltest du dir bewusst machen und jeden Tag klar sagen.

DU BIST EIN ERFOLG, Sarah. Ein Erfolg, der du wahrscheinlich nie geworden wärst, hättest du deine Eltern um dich gehabt. Ja, es sticht, dass du deine Familie nicht kennst...aber sind sie wirklich deine Familie? Ich glaube nicht. Deine Familie sind die Menschen, denen du wichtig bist. Die Menschen, die versuchen, dich aufzurichten. Die Menschen, mit denen du dich gerne umgibst. Und es klingt so, als habest du einige Freunde um dich.

Es wird immer wieder in dir arbeiten. Diese Zweifel bekommt man nicht so schnell aus dem Kopf.
Ich möchte dich aber herzlich einladen, dir immer wieder die schönen Gedanken in den Kopf zu rufen. Dass du ein Erfolg bist, dass du Familie HAST, die zwar nicht deine Erzeuger sind, die dich aber lieb haben oder sehr schätzen.

Und weißt du, was das Beste ist? Familie kann man sich nicht aussuchen. Freunde hingegen suchen sich einen aus. Auch Betreuer, die dich kennen und mögen, müssten dich ja nicht mögen. Sie tun es freiwillig. Und das sollte dir Bestätigung geben.

Liebe Sarah, ich wünsche dir, dass du weiter ein so sympathischer Mensch bleibst...und dass du fühlst, wo die Menschen sind, die wichtig für dein Leben sind. Deine Erzeuger...sind es nicht.

Alles, alles Liebe!
Solltest du noch Fragen haben, kannst du dich gerne nochmals an uns wenden.

Dana