Problem von Emilia - 18 Jahre

Antwort bevorzugt von Paul

Hallo,

in letzter Zeit habe ich das Gefühl, weniger glücklich zu sein, als sonst. Es ist nicht so, dass ich ein besonders fröhlicher Mensch bin - ich bin recht pessimistisch -, aber irgendwas stimmt nicht so richtig im Moment.

Ich habe einen Freund, der mich über alles liebt und mich wohl nie hergeben würde. Er ist mir ebenfalls sehr wichtig, jedoch wage ich nicht zu sagen, dass ich ihn für immer als festen Freund behalten möchte/werde. Versteht mich nicht falsch, er ist wirklich vertrauenswürdig, liebevoll und aufmerksam; allerdings auch noch recht kindisch, bzw. unreif, anstrengend und manchmal sogar nervtötend. Zeitweise habe ich sogar das Gefühl, seine Mutter zu sein, die ihm immer sagen muss, wie er sich zu verhalten hat. Vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass mir Normen, Moral und all das sehr wichtig sind und ich zu einseitige Vorstellungen von so ziemlich allem habe. Ja, ich bin stur. Ein Dickkopf und ich will immer mit meiner Meinung durch die Wand.
Aber ist das evtl. ein Zeichen dafür, dass wir nicht so recht zusammen passen? Dass der Zeitpunkt einfach nicht der richtige ist und er noch reifer werden muss? Wir sind jetzt 1 1/2 Jahre zusammen, haben uns quasi von Anfang an regelmäßig gezofft (meist schnell wieder vertragen), aber irgendwie nagt das ja auch an einem. Es wird mit jedem Mal anstrengender und schlimmer für mich, weil es sich immer wieder wiederholt. Wenn ich drüber nachdenke, weiß ich eigentlich gar nicht, worüber wir immer streiten. Es sind wahrscheinlich die unmöglichsten Dinge...
Wäre das ein "angebrachter" Grund, irgendwann Schluss zu machen? Wenn ich den Eindruck habe, dass es unsere Beziehung nur noch belastet? Ich überlege jedes Mal, ob ich nicht übertreibe. Es gibt ja auch wiederum genügend Momente, in denen ich sehr froh mit ihm bin. Er hat eben so eine Art an sich, die ich manchmal nicht gut ertrage und ich habe das Gefühl, da draußen ist sicher noch irgendjemand, der besser zu mir passt.

Das wird wohl ein Grund sein, warum ich momentan etwas verstimmt und traurig bin.

Ein anderer Grund ist glaube ich, dass ich manchmal zu viel nachdenke. Dann denke ich an den Sinn des Lebens, an die Endlichkeit von eigentlich allem - und das macht mir Angst. Ich meine so eine Angst, die jeder einmal hat, wenn er daran denkt, dass es die Erde irgendwann nicht mehr geben wird, dass es einen selbst dann schon seit Ewigkeiten nicht mehr geben wird usw. Bei dem Gedanken wird mir fast übel.

Ich wäre so gerne ein glücklicherer Mensch, Optimistin, ein junges Mädchen, dass viele Freunde hat, Abwechslung im Leben, einen Plan für die Zukunft. Aber ich sitze meist nur rum und philosophiere vor mir her. Dann kritisiere ich die Menschheit, den technischen Fortschritt, der uns nicht nur Gutes bringt, sondern die Gesellschaft auch auseinander reißt. Uns alle voneinander isoliert.
Ich rege mich über Menschen auf, die nicht die wahre Liebe suchen, sondern jede Nacht mit einem anderen verbringen und sich damit auch noch brüsten. Allgemein Menschen, denen Sex so unheimlich wichtig ist. Ich habe da nicht so ein großes Verständnis für...
Darüber, dass Menschen rücksichtslos handeln, lügen, intrigieren, nur ihren eigenen Vorteil suchen.
Ich bin selbst nicht so ein "sozialer" Mensch; ich bin introvertiert, eine graue Maus, die niemals auffällt, habe wenige Freunde [weil ich niemandem traue, bzw. weil mir Menschen, die ich aus der Ferne beobachte, meist nicht gut genug sind. Ich glaube, dass ich Leute gut einschätzen kann, auch von Weitem, daher gehe ich auch erst gar nicht auf sie zu, wenn sie mir irgendwie unsympathisch erscheinen (z.B. wenn sie zu viel Aufmerksamkeit wollen, intrigant oder "falsch" sind).]
Wenigstens kann ich von mir behaupten, hilfsbereit zu sein, ein Ohr für jeden zu haben, ehrlich und verantwortungsbewusst zu sein. Und das macht mich, glaube ich, irgendwie zu einer weitaus sozialeren Person, als viele andere.

Ich weiß gerade gar nicht so genau, wo mein roter Faden bei dem Ganzen ist. Es tut mir leid, falls das alles nur verwirrend ist. Ich habe in gewisser Weise ein Mitteilungsbedürfnis, was diese Themen so angehen. Dass die Welt oft viel zu falsch ist.
Könnt ihr mir sagen, wie ich meine Meinung dazu ändern kann? Ich meine so, dass es mich nicht immer aufregt? Ich könnte predigen gehen, wenn ich nicht viel zu schüchtern wäre, um vor Menschen meine Meinung zu sagen.

Und dann wäre da noch das ungute Gefühl, depressiv zu sein. Jedenfalls manchmal, episodisch. Ich denke dann nicht zwingend an Suizid, wie die "schlimmen Fälle". Aber ich habe mich schon unzählige Male leer und verloren gefühlt. Dann bekomme ich einen Hass auf die Welt, auf die Tatsache, dass mir keiner helfen kann, wenn niemand so richtig davon weiß. Ich will zu keinem Therapeuten gehen, ich will es gerne selbst da heraus schaffen (auch wenn das im Falle einer wirklichen Depression wohl unrealistisch ist). Ich weiß nicht einmal, ob man das Depression nennen kann. Es ist eben phasenweise, aber wenn dieses Loch da ist, dann so richtig. In meiner Familie gibt es viele Mitglieder, die darunter leiden.

[Wenn Paul das hier beantworten sollte: Ich habe schon mal von einer nicht erwiderten Liebe und einer Zwangsstörung erzählt; im Nachhinein noch ein großes Danke für die Antwort! Es hat mir wirklich geholfen.]
Ich bin über diesen "M" relativ hinweg, aber die Spuren sind einfach noch da. Und die Narben werden immer größer, je mehr ich über negative Dinge nachdenke, die mich immer wieder beschäftigen.

Um all das eben nochmal in kürzerer Form zusammenzufassen: Ich weiß nicht so recht wer ich bin, was ich hier mache, wieso ich anders bin als andere, wieso ich mich so sehr mit solchen abstrakten Dingen beschäftige und warum ich es irgendwie gerne tue.

Was mein eigentliches Problem ist ... das ist mir selbst ziemlich schleierhaft. Vielleicht wird eine fremde Person ja schlauer daraus als ich.

Vielen Dank für das Durchhaltevermögen, all das hier tatsächlich gelesen zu haben.

Liebe Grüße

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Emilia,

danke für dein Zutrauen - ich erinnere mich noch an dich :) Dass ich dir mit deinem damaligen Problem helfen konnte, freut mich sehr. Dass in deiner jetzigen Situation die Erinnerung daran wach wird, die alte Wunde wieder schmerzt, ist verständlich. Es wird dir auch immer wieder so gehen - damit bist du nicht allein. Sieh es als Signal, so wie du es jetzt auch siehst: Du bist irgendwie festgefahren, irgendwas ist nicht in Ordnung. Und was und warum, hast du sehr gut reflektiert, und zeigst dich selbstkritisch. Das ist toll. Ich werde versuchen, die Dinge in der Reihenfolge zu besprechen, wie du sie aufgeführt hast.

Was du mit deinem Freund erlebst, erleben vielleicht etliche junge Frauen: Du schätzt seine Liebe und Aufmerksamkeit, er lässt keinen Zweifel daran, dass er dich liebt. Aber trotzdem ist vieles in seinem Verhalten für dich störend. Beides schließt sich keineswegs aus. Es wäre ja auch schlimm, würde man den Partner immer nur in einem positiven Licht sehen. Du hast geschrieben, dass er dir kindisch und unreif vorkommt, du immer wieder das Gefühl hast, ihn bemuttern zu müssen. Das könnten triftige Gründe sein, dich von ihm zu trennen. Was dich zögern lässt, sind möglicherweise auch Skrupel, ihm erzählen zu müssen, warum du dich trennst. (Könnte ich mir vorstellen.) Doch so weit sind wir noch nicht. Ich kann nicht entscheiden, ob es besser wäre, dich von ihm zu trennen, oder eine Auszeit zu nehmen. Wichtig wäre zunächst, zu klären, ob dein Frust wirklich von deinen hohen Ansprüchen an Moral und Verhalten herrührt - er es dir also schwerlich recht machen kann. Oder ob es tatsächlich so ist, dass du mit seiner Art zunehmend schlechter zurecht kommst.

Diese Frage hast du dir ja selbst schon gestellt, und ich möchte dir raten, sie noch etwas zu vertiefen. Vielleicht schreibst du einmal genau, Punkt für Punkt, auf, welche Dinge für dich störend sind, und welche Situationen, die du mit deinem Freund erlebt hast, dich noch immer beschäftigen. Dem gegenüber kannst du die Sachen stellen, die du an ihm schätzt, die dir fehlen würden, wärt ihr getrennt, und die Ereignisse, für die du ihm dankbar bist. Wenn die erste Spalte ein großes Übergewicht hat, wäre das schon kein gutes Anzeichen. Vor allem jedoch geht es darum, herauszuarbeiten, ob seine "Makel" Teil seiner Art und Natur sind - oder auch einfach daher kommen, dass seine Reife hinter deiner zurück bleibt -; oder ob es ungute Angewohnheiten sind, Züge, die ihm womöglich gar nicht bewusst sind, und für viele Menschen vielleicht nicht störend; die man ablegen kann, und wenn nicht, dann hinnehmen. Als ärgerliche Marotten, die das Gesamtbild zwar hin und wieder trüben können, aber nicht zerstören. Wenn das so sein sollte, dann kannst du mit ihm darüber sprechen. Bisher seid ihr darüber in Streit geraten - möglich, dass ihr beide noch nicht verstanden habt, was ihr vom jeweils anderen wollt. Möglich aber auch, dass ihr beide keine dankbaren Streiter seid, und sehr auf eurer Meinung besteht. Dann ist ein Kompromiss gefragt, und er kann von deiner Seite ausgehen.

Was ich wichtig finden würde: Dass du ihm auch erzählst, welche Erlebnisse mit ihm, für dich noch immer belastend sind, obwohl sie vielleicht schon lange zurückliegen. Du wirst nicht umhin kommen, einzuräumen, dass es dir leid tut, du ihn nicht verletzen möchtest, und selber schon dachtest, das Problem könnte nur deine "Kleinlichkeit" sein. Ohne ein bisschen Zuckerbrot zur Peitsche kannst du ihn nicht dahin bringen, wo du ihn haben willst. Wenn er dich wirklich liebt, wird er darüber nachdenken - hat es sicher schon. Ich könnte mir denken, dass ihm zu wenig klar ist, was genau dich stört, er aber auch unter der schieren Last deiner Ansprüche, nicht aus noch ein weiß. Ich habe solche Erfahrungen selbst gemacht, und ich muss sagen: Es gehören immer zwei dazu. So wie du von ihm viel erwartest - deine Wünsche mögen sehr berechtigt sein - solltest du auch ihm Gelegenheit geben, Wünsche zu äußeren. So könnt ihr, wenn ihr das wollt, eure Beziehung auf eine neue Basis stellen. Denn könnte es nicht auch sein, dass ihr euch gegenseitig auf den Füßen steht? Dass einfach irgendwie die Spannung raus ist? Dass du keine Luft mehr zum Atmen hast? Die kleinen Fehler der Person, und die vielen Patzer, Fettnäpfchen und Unüberlegtheiten, die du mit ihm erlebst, summieren sich und lassen dich zweifeln - und irgendwann machen sie dich wütend. Könnte es euch vielleicht schon gut tun, mal ein paar Tage nichts voneinander zu hören? Euch mehr um andere Freundschaften zu kümmern? Ein wenig mehr auf die Person konzentriert zu sein, statt auf längst gewohnte, spannungslose Rituale, und kleine, zur Gewohnheit gewordene Aufmerksamkeiten?

Ich kenne das als Junge / Mann: Man macht seiner Freundin Geschenke, nicht aus einer lieben Idee, sondern aus Pflichtgefühl; man sagt "Ich liebe dich", als gelte es das Leben, und ist so übertrieben fürsorglich, dass es fast schmerzt. Als Frau kann man sich da nicht wohlfühlen, das verstehe ich auch. Manchmal ist das, was du unreif nennst, vielleicht auch die Unfähigkeit, dir zu vertrauen, sich dir ganz hinzugeben - auch und gerade nach anderthalb Jahren. Um dauerhaft zusammen zu bleiben, muss eure Beziehung flexibler sein, das stimmt - und ich glaube, dass auch er diesen Wunsch verspürt. Teile dich ihm mit, versuch es noch einmal - ohne jeden Vorwurf. Ich glaube, wenn du nicht streitlustig an die Sache heran gehst, wird er deine Offenheit spüren - und sie belohnen.

Wenn du ein Mensch bist, der die Probleme der Welt sehr mitlebt, und dazu neigt, sie zu seinen eigenen zu machen: Dann ist es wichtig, dich hin und wieder auf den Boden der Tatsachen zurück zu holen. Du bist hilfsbereit, aufopferungsvoll und freimütig - das sind gute Eigenschaften. Aber es besteht auch die Gefahr, dass dein Pessimismus gegenüber der Welt, auch im Privaten Ausdruck findet. Könnte das der rote Faden sein? Oder wenigstens eine Faser davon? Denn die Welt so massiv und von Grund auf bessern, wie du es dir wünschst, kann niemand. Zudem ist es wichtig, nicht zu vergessen, dass jeder Quellen braucht, aus denen er seine Kraft schöpft. Wenn du dich durch übergroßes Engagement aufreibst, wird dein Partner, deine Freunde, deine Familie dir entgleiten - ob jetzt, in zehn oder dreißig Jahren. Die Menschheit kann einem vorkommen wie ein großes, tollpatschiges Kind, das einfach nicht auf eigenen Füßen stehen will: Es fällt immer wieder hin, rappelt sich auf, stößt die Bauklötze um. Nun ist jeder von uns genauso fehlerhaft, dabei aber genauso besonders und liebenswert, wie die Welt als Ganzes: Zwar mitnichten perfekt, aber wir sind ganz gerne darin. Wenn du die Maßstäbe, die die Welt nicht erfüllen kann, auch bei deinem Partner anlegst, wirst du kein vernünftiges Ergebnis erzielen. Möglich ist auch, dass er hin und wieder den Frust zu spüren bekommt, der gar nicht ihm gilt, sondern ganz fernen, größeren Dingen.

All das soll nicht heißen, dass er nicht wirklich Züge hat, die störend sind und ein Trennungsgrund sein könnten. Ich will ihn nicht entschuldigen, oder dich dazu bewegen, ihm alles nachzusehen. Aber deine Beziehung sollte nicht den Anspruch haben, ein schönes Abbild der Welt zu sein, die nicht perfekt ist - alle guten Dinge auf kleinstem Raum. Eine Trennung ist dann sinnvoll, wenn das Schlechte das Gute überwiegt, schon lange, und du keine Hoffnung siehst, etwas zu verändern. Beziehungsweise, dass er etwas ändert. Ob das zutrifft, kannst nur du entscheiden. Aber ich könnte mir vorstellen, dass einer der Gründe für deinen Frust, vielleicht wirklich in dem Zusammenfallen von Perfektionismus und Pessimismus liegt. So neigst du dazu, die Dinge negativ zu bewerten, die dir kaum aufgefallen wären, wärst du ein Mensch mit weniger schlechten Erfahrungen oder geringeren Ansprüchen. Die Welt wäre nie vorwärts gekommen ohne die Leute, die kompromisslos das Beste erreichen wollten - das ist wahr. Und somit sind es auch große Stärken, die du mitbringst: Die Offenheit, Probleme einzuräumen; die Ehrlichkeit zu dir selbst, Fähigkeit zur Selbstkritik; und schließlich die Bereitschaft, Konflikte auszutragen. Aber der Wunsch nach Volkommenheit, nach Weltverbesserung, Streitbarkeit und Bereitschaft zur Kritik - auch wenn damit viel erreicht werden kann, geschieht es oftmals zum Preis persönlichen Scheiterns. Für Menschen wie dich, die sich sehr um das Leid der Welt sorgen, die vielleicht viel zur Weltverbesserung beitragen werden, ist es wichtig, auch Schwächen zuzulassen: Nicht zu streng mit denen ins Gericht zu gehen, die sie lieben - und zu wissen, wann die Grenzen überschritten sind, nach denen man sich selbst schadet. Dein Freund bringt viele Qualitäten mit - und er hat auch Fehler. An einigen wird sich arbeiten lassen, und möglicherweise wird er dir für den Anstoß dankbar sein, schon lange bemerkte Probleme auszubügeln. Jedoch: Den perfekten Partner gibt es nicht. Und bei allem, was du über ihn denkst, und von ihm verlangst, stelle dir immer auch die Frage: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich in absehbarer Zeit einen Freund finde, der weniger von seinen Fehlern hat - besonders die nicht, die mich am meisten stören? Und der gleichzeitig all seine guten Eigenschaften mitbringt?

Ob es dir nützen könnte, einen Therapeuten zu haben, ist letztlich auch offen. Wenn du das Bedürfnis hast, dich jemandem zu öffnen, kann es nicht schaden. Dennoch verspricht es noch keine Lösung, sondern zunächst schlicht Erleichterung deiner Last, und vielleicht Denkanstöße. Es ist gut möglich, dass deine Stimmungstiefs, etwas mit einer Veranlagung in der Familie zu tun haben; der einzige Grund ist das aber nie. Hier spielen viele Begebenheiten zusammen, viele kleine Bedingungen und Faktoren, die in deinem Leben gegeben sind - die dich individuell machen. Dazu lasse ich einen Absatz aus dem Roman "Demian" von Hermann Hesse folgen:

"Meine Geschichte aber ist mir wichtiger als irgendeinem Dichter die seinige; denn sie ist meine eigene, und sie ist die Geschichte eines Menschen - nicht eines erfundenen, eines möglichen, eines idealen oder sonstwie nicht vorhandenen, sondern eines wirklichen, einmaligen, lebenden Menschen. Was das ist, ein wirklicher lebender Mensch, das weiß man heute allerdings weniger als jemals, und man schießt denn auch die Menschen, deren jeder ein kostbarer, einmaliger Versuch der Natur ist, zu Mengen tot. Wären wir nicht noch mehr als einmalige Menschen, könnte man jeden von uns wirklich mit einer Flintenkugel ganz und gar aus der Welt schaffen, so hätte es keinen Sinn mehr, Geschichten zu erzählen. Jeder Mensch aber ist nicht nur er selber, er ist auch der einmalige, ganz besondere, in jedem Fall wichtige und merkwürdige Punkt, wo die Erscheinungen der Welt sich kreuzen, nur einmal so und nie wieder. Darum ist jedes Menschen Geschichte wichtig, ewig, göttlich, darum ist jeder Mensch, solange er irgend lebt und den Willen der Natur erfüllt, wunderbar und jeder Aufmerksamkeit würdig. In jedem ist der Geist Gestalt geworden, in jedem leidet die Kreatur, in jedem wird ein Erlöser gekreuzigt."

Und das ist, denke ich, das Wesentliche: Viele Leute gibt es, die danach streben, einem Ideal zu genügen, ob es jetzt durch Gesetze, durch Moral oder durch den Auftrag einer anderen Person verordnet ist. Sie wollen vollkommen sein, ihre Lebensführung soll ohne Fehler und ihre Karriere ohne Abwege sein - und mit all dem soll auch noch ihr Privatleben Schritt halten. Viele scheitern, sehr wenigen nur gelingt es. Und auch nur solchen, die wirklich unheimliches Glück hatten. Jeder von uns macht Abstriche, muss sich entscheiden, Prioritäten setzen. Eine der ersten ist meistens, ob man privat glücklich sein will, oder beruflicher und persönlicher Erfolg wichtiger sind. Beides sind tragbare, verständliche, lobenswerte Optionen. Nur alles zusammen geht meist nicht. Und ich plädiere dafür, dass kein Mensch nach Erfolg streben sollte, wie er uns vermittelt wird: Viel Geld, viel Einfluss, viel Ansehen; das macht nicht glücklich. Geld und Vermögen sind wichtig, aber ab einer gewissen Größe bringen sie nur Neid, Unsicherheit und Isolation hervor. Einfluss haben wir nur auf sehr wenige Sachen, und Entscheidungsgewalt in einer Firma, oder in der Politik, täuscht darüber hinweg, dass wir die Zukunft nicht voraussehen können. Und wenn Ansehen bedeutet, viele Ehrungen zu bekommen, bei jedem Anlass über den Klee gelobt zu werden - dann überschätzt man früher oder später seine Fähigkeiten. Besser ist es da doch, kritikfähig zu bleiben, und die kleinen Aufmerksamkeiten, die subtileren Formen der Dankbarkeit und Freude zu suchen - die einem zufallen, wo immer man mit dem Herzen dabei ist.

Alles das heißt nicht, dass es falsch wäre, nach Erfolg und Einfluss zu streben, die Weltverbesserung zu versuchen. Aber man sollte sich damit nicht übernehmen. Sonst steckt man irgendwann mit dem Kopf in den Wolken, ohne die Sterne erreichen zu können - während einem der Boden unter den Füßen wegbricht. Die zentrale Frage ist also die: Will ich mit meinem Leben dem Ausdruck geben, das ich besonders bin? Ein Mensch, einzigartig, so noch nie und so nie wieder? Oder will ich deutlich machen, dass ich über den Anderen stehe, und allen Glanz auf meiner Person vereinen? Nach Vollkommenheit suchen, um meiner Meinung Autorität zu geben? Beides ist gut, beides ist nötig, dass Leute es wollen - aber das Zweite ist anstrengender, als man glaubt. Auch wenn wir häufig darauf hin erzogen werden. Ein Freund von mir hat es mal so formuliert, schlichter: "Möchtest du Recht haben oder glücklich sein?"

Hohe Ansprüche und Pessimismus gehen schlecht zusammen. Wenn du es soweit kommen lässt, dass dein Freund nur die Zeit überbrückt, "bis der Richtige kommt" - dann wirst du später vielleicht bitter enttäuscht werden. Denn du hast keine Gewähr, dass sich irgendetwas bessert, wenn du einen neuen Freund hast. Und dann bliebe dir nicht mal der tröstliche Gedanke, dein Liebesleben bis jetzt mit genossen, und mit ganzem Herzen dabei gewesen zu sein. Du begibst dich auf glattes Eis, denn auch wenn ich deine Linie vollkommen nachvollziehen kann: Wenn es so weiter geht, fängst du an, ihn auszuhalten, mit ihm zu spielen. Das beginnt völlig zwanglos dort, wo du denkst: "Lass ihn machen. Es ist ja eh bald vorbei." Ich werfe es dir nicht vor - ich sorge mich genauso um dich, dass du dir irgendwann schwere Vorhaltungen machst. Schenke ihm lieber reinen Wein ein, wenn du das Gefühl hast, er passt nicht zu dir, engt dich ein. Das allein harmoniert schon nicht mit den hohen Anforderungen, die du an dich und Andere stellst. Das soll kein Vorwurf sein, schließlich bemühst du dich ja selbst aufs Stärkste, ein bewusster, sozial engagierter Mensch zu sein - und die Tiefe deiner Gedanken beweist es. Jedoch sehe ich für dich die Gefahr, in eine Krise zu geraten, wenn das Leben dir aufzwingt, deine Ideale zu verletzen. Ja, man hat seine Prinzipien (glücklich, wer welche hat!) Aber das Leben gibt uns mancherlei Chancen und Verlockungen an die Hand, und es ist sinnvoller, auch mal nachzugeben, als sich selber einen Käfig aus Moral zu bauen. Was, wenn du auch du einmal dahin kommst, Abenteuer zu suchen und zu genießen? Nur so als Beispiel. Es wäre nicht falsch, es wäre sogar schön - vorausgesetzt, du kommst dir selbst nicht elend dabei vor. Das müsstest du aber, wenn du die Forderungen aufrecht erhältst, die du jetzt an dich hast.

Die, von denen du dich distanzierst, haben dir immerhin voraus, dass sie ihr Tun als legitim und gut ansehen. Du hingegen fühlst den Wunsch nach Veränderung kommen, nach Freiheit, nach Entdeckung von dem, was deine Bestimmung ist - alles nicht so einfach. Und vielleicht mit viel Turbulenzen verbunden. Und es birgt auch die Möglichkeit, Dinge zu tun, die dir falsch erscheinen: Andere verletzen, allen voran deinen Freund; Genüsse, die dir falsch vorkommen, weil sie scheinbar auf Kosten Anderer sind. Um es überspitzt zu sagen: Irgendwo in dir wohnt eine Sehnsucht, dein Leben so unbefangen zu genießen, wie jene, die du kritisierst. Und irgendwie zieht die Freiheit dich an, die sie sich nehmen, und die geistige Lockerheit hättest du gerne.

Ethik und Moral, Prinzipien wie Bescheidenheit, Rücksicht, Ehrlichkeit und Zurückhaltung: Sie sind zu begrüßen, das Beste der Welt gründet sich auf sie, und sie sind heute mehr gefragt als je zuvor. Aber es ist ungut, die Wurzel allen Elends darin zu sehen, dass sie nicht ständig eingehalten werden. In Wirklichkeit können wir dankbar sein, dass wir diese Freiheiten haben, weil wir heute jung sind. Nicht jeder gebraucht diese Freiheit zum Guten, aber ganz ablehnen sollte man sie deshalb nicht. In summa: Die Ansprüche an dich selbst zu lockern, ist der Schlüssel, auch dein Umfeld entspannter wahrzunehmen. Denn jeder Mensch zeigt ja auf irgendeine Weise auf, was du dir für dich selbst wünschst - oder was dir an dir selbst nicht gefällt. Jeder hat seine Schwächen, aber diese machen ihn oder sie auch aus. Du gehst mit dir selber hart ins Gericht, gönnst dir sehr wenig, und daher darfst du es durchaus auch mit Anderen tun; aber was, wenn dich das Leben dahin bringt, von deiner sicheren, moralisch gerechtfertigten Bahn abzuweichen? Sei etwas freundlicher zu dir, erlaube dir mehr - ziehe in Betracht, nicht immer moralisch zu sein. Dann wird es dir, vermute ich, leichter fallen, auch den Leuten um dich herum das nachzusehen. Denn wenn du stets das noch Bessere, noch Richtigere suchst, obwohl die Vorzüge deiner Umgebung offenkundig sind - dann kannst du nie zufrieden sein. Und das schließlich nimmt dir die Kraft, der Welt insgesamt etwas zu geben, und sie ein Stück zu bessern. Und würde dir diese Kraft genommen: Das wäre doch schade, oder nicht?

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul