Problem von Anonym - 16 Jahre

Zu schnell Erwachsen?

Hey :)

Ich war mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob ich hier wirklich eine Mail schreiben sollte, doch dann dachte ich mir - warum nicht?

In ein paar Monaten fange ich mir meinem Abi an und ich habe Angst. Viele Jahre habe ich mich darauf gefreut älter zu werden und mein Leben, leben zu können. Ich wollte ausziehen, Geld verdienen und meine Entscheidungen selbst fällen. Ich habe keinen Kontakt zu meinem Vater, eigentlich sprechen wir nur dann, wenn wir uns streiten. Aber jetzt frage ich mich, ob ich nicht viel zu viel verpasst habe. ich höre von meinen Freunden, dass sie mit ihren Eltern Ausflüge gemacht haben und dass sie auch schon viel Mist gebaut haben. Das fehlt mir alles. Ich frage mich, wenn ich später zurück denke, ob ich dann vielleicht bereue nicht mutig gewesen zu sein oder etwas anderes gemacht zu haben. Ich bitte darum, gebt mir keine Antworten wie, vertrage dich mit deinen Eltern oder genieße den Augenblick. Meine größte Angst ist einfach, dass ich in paar Jahren zurück blicke und mir wünsche, etwas anders gemacht zu haben.

Ich möchte jetzt noch nicht mit meinem Abi starten. Und erst recht möchte ich nicht mein Abitur beenden und dann in eine Wohnung ziehen, die kalt und leer ist, wo mich niemand Abends erwarten wird. So viele wissen schon, was sie später machen werden. Was sie erreichen möchten. Und dass sie einen Platz haben, zu dem sie zurück kommen können, wenn alles falsch läuft. Und genau das wünsche ich mir auch.

Bin ich schon bereit dafür jetzt Entscheidungen zu treffen, die meine Zukunft beeinflussen werden?

- Danke

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

mit Sicherheit bist du bereit dafür, solche Entscheidungen zu treffen! Deine Gedanken und deine Ausdrucksweise verraten es. Eine gibt es, die besonders wichtig ist: Nicht "Was für einen Beruf will ich haben? Wie soll mein Leben ablaufen", sondern: "Warum soll es denn so ablaufen, wie das der Anderen?"

Du bist eine von Milliarden Menschen auf der Welt, und jeder Einzelne ist ganz besonders. Die meisten Menschen haben kaum eine Möglichkeit, ihr Leben irgendwie zu gestalten. Sie müssen immer hoffen, dass das Glück ihnen hold bleibt. Du hast das Glück, zwischen tausend Möglichkeiten wählen zu können - und hier setzt dein Problem an. Denn es ist bei weitem nicht nur ein Segen, diese Freiheit zu haben. Im Moment vergleichst du dich mit deinen Mitschülern, deren familiäre Situation anders ist als deine, die die letzten Jahre mehr angestellt haben. Es ist klar, dass man leicht unter Druck gerät, wenn man merkt, ich gehorche ganz anderen Rhythmen, lebe anders, als der Großteil der Leute um mich herum. Aber es kann dich auch nicht glücklich machen, ein Leben zu leben, das nicht aus deinen innersten Empfindungen kommt, dass sich so gefügt und abgespielt hat, wie du es für richtig hieltest.

Deine Freunde haben die Zeit auf ihre Weise verbracht. Sie haben Mist gebaut, weil es ihnen so einfiel, und in diesem Moment gab es nichts, was interessanter und spannender war - gut. Du hattest zu diesem Zeitpunkt andere Schwerpunkte nach denen du dich gerichtet hast. Das ist ebenso in Ordnung. Nichts davon ist falsch. Was wäre gewesen, hättest du unbedingt alles mitmachen wollen, was in den letzten Jahren ohne dich stattfand? Hätte sich das wirklich gut angefühlt? Oder denkst du nicht: Es braucht dafür den Typ Mensch, die Laune, die Idee, die SIE in dem Moment hatten - ich aber halt nicht? Und wenn es so war, warum sollte das schlecht sein? Wie wäre es, wenn es jetzt losginge: Du versuchst, alles nachzuholen, was du glaubst verpasst zu haben. Kann das das Richtige sein? Ich bin nicht sicher. Denn ganz egal, ob du jetzt verrückt bist, etwas später, oder nie - alles hat seine Zeit. Wenn für dich der Zeitpunkt kommt, wo du verrückt sein willst, dann kommt er, auch wenn es ein ganz anderer ist, als bei deinen Freunden. Und DANN erst - nur dann - kannst du es auch wirklich genießen. Es nützt dir nichts, aus Pflichtgefühl, oder aus Angst, etwas zu verpassen, es allen unbedingt gleichtun zu wollen. Denn jeder Lebensstil, den du wählen kannst, ist der verkehrte, wenn du nicht mit dem Herzen dabei bist.

Lass dich nicht überzeugen, dass es nur einen Weg gäbe, zu seiner Lebensaufgabe zu finden - nur eine Weise, "seine Jugend zu verbringen". Manche werden früh erwachsen, manche spät. Manchen haben lange keinen Plan, und dann packt sie etwas völlig Unerwartetes an - weil sie offen sind. Manche machen sich große Pläne, rackern sich ab, ziehen alles durch - und stellen dann fest, dass sie sich irgendwie fremd geworden sind. Noch ist nichts sicher - weder, dass deine Freunde wirklich die Richtungen einschlagen, die sie jetzt angedacht haben, noch, dass du lange unentschlossen bleibst. Aber um wirklich prüfen und erkennen zu können, wie DEIN persönlicher Weg aussieht, musst du dich eine Weile der Unentschlossenheit hingeben. Versuche, sie nicht als Bedrohung zu sehen: "Hilfe, was wird bloß?", sondern als Chance, die du mit Neugier betrachten kannst: "Na, wollen doch mal sehen, was mich erwartet!"

Ich habe vor einem Jahr mein Abitur gemacht. Jetzt gerade höre ich viel von Freunden, die im Ausland sind, die dieses und jenes studieren, der eine dort, der nächste hier. Ich dagegen arbeite in einem Kinderhort in meiner Heimatstadt, und gehe so sehr in dieser Aufgabe auf, dass ich gestehen muss: Auch mich plagt manchmal die Unsicherheit! Auch ich fühle den Druck - und das ein paar Jahre nach dir. Aber hey, ich habe meine Wünsche und Interessen, und aus dem großen Teich muss ich eben die konkreten Pläne und nächsten Ziele noch herausfischen. Tag für Tag schreite ich auf diesem Weg voran, und ich weiß, dass ich im Herbst ein neues Kapitel beginnen muss. Auch ich, obwohl ich durchaus Pläne habe und diese verfolge, auch ich denke mir manchmal: Ich will noch nicht erwachsen sein! Da ist es wohl kein Verbrechen, dass du dir mit 16 diese Gedanken machst, oder? Wärst du dreißig, müsste man sich Sorgen machen. Aber warum verlangst du mehr von dir, als du leisten kannst? Diese Unsicherheit ist nicht nur relativ normal, sondern auch gesund: Nur so merkst du, dass es dir gut tut, Pläne und Ziele zu haben, und dass du welche finden möchtest. Erkenntnis ist der erste Weg zur Verbesserung. Dafür musst du dich nicht gleich mit deinen Eltern zusammenraufen, denn dazu gehören schließlich auch sie. In den meisten Familien liegt etwas im Argen - mal mehr, mal weniger, mal kurz, mal über längere Zeit. Daher sage ich dir: Lass auch hier keinen Druck entstehen. Denn es ist nicht alles Gold, was glänzt. Es ist dein Leben, und wenn du mit deinen Eltern Streit hast, ist es nicht nur deine Sache, daran was zu ändern. Selbst wenn der Konflikt mit deinem Vater nie geklärt wird, ist es doch immerhin eine Anregung, was du in deiner Beziehung und Familie - falls das zu deinen Wünschen gehört - einmal anders machen möchtest. Perfekt werden kann es nie; vielleicht wird dein Kind sich einmal ähnliche Gedanken machen, wie du jetzt. Aber das ist der Lauf der Welt. Es ist zu begrüßen, solange man sich nicht engstirnig festlegt, sondern offen ist, und das Beste versucht.

Ich habe nach meinem Abi zum Beispiel ein FSJ gemacht. Nicht zuletzt deswegen, weil ich für dieses Jahr einfach eine Aufgabe haben wollte. Und einen Rahmen, mir zu überlegen, was danach kommen könnte. Ich habe meine Entscheidung noch kein bisschen bereut, weil meine Kinder mir so viel zurückgeben, und ich soviel in meinem Leben positiv verändern konnte. Und es gibt viele ähnliche Möglichkeiten, wie du die Zeit nach dem Abi gestalten könntest, um zumindest beschäftigt zu sein, und Raum für deine Gedanken zu haben - die absolut gut und richtig sind. Mir fällt auf, dass in deinem Kopf ein bestimmtes Bild aufzuleuchten scheint, wenn du an die Zeit danach denkst: Du hast deine neue Wohnung genannt, in jedem Fall das Gelöst-sein von allem, was du kanntest. Das ist erstmal nicht zwangsläufig; es können dir tausend andere Dinge passieren, als in einer kalten, tristen Wohnung zu landen, wo du niemanden kennst, wo dir nichts zusagt. Vielleicht ist das die Angst, dies könnte dir passieren, wenn du nicht schnell eine Entscheidung triffst, die dir solche Bilder eingibt. Tatsächlich ist es ganz anders, viel offener, viel verlockender, und das weißt du doch auch? Und ist dieses Bild nicht auch ein Beweis, dass dein bisheriges Leben dir trotzdem lieb und teuer ist? Warum hätte es dann viele anders ablaufen sollen? Wäre das nicht auch ein Verlust? Bisher war dein Ehrgeiz darauf gerichtet, selbstständig zu werden, auszuziehen, nur ist es noch nicht so konkret geworden - und überdies kommt dich Furcht an, jetzt, wo das Ziel so nahe scheint. Das ist jedoch in Ordnung. Es wäre irgendwie schlimm, wenn es anders wäre. Mach kleine Schritte, setze dir realistische Ziele, und verlange nicht zu viel von dir - denn du kannst zwar noch nicht fixieren, was in den nächsten Jahren passiert. Aber du kannst langsam genauere Vorstellungen entwickeln, was dir wichtig ist - und nicht, wie du möglichst unabhängig wirst, sondern auch, wie du glücklich werden kannst.

Im Grunde kann ich dir nur raten: Versuche, dich etwas lockerer zu machen! Wenn es dir hilft, dann überleg dir, was du in dem halben Jahr oder Jahr nach dem Abi tun könntest, bevor du ein Studium oder eine Ausbildung beginnst; und wenn du dafür noch keine konkrete Idee hast, dann ist dann die Zeit, deinen Gedanken voll nachzugehen - ohne dass du in Selbstzweifeln versinkst. Es gibt viele Wege zum Glück, und der, der für dich richtig ist, wird dir nicht von anderen Leuten gezeigt. Du kannst ihn nur finden, wenn du in dir selbst nachspürst - und Geduld mit dir hast. Diese Geduld wünsche ich dir. Denn du hast in der Tat Recht: Es ist ein früher Zeitpunkt, zu dem man da ins Leben gestoßen wird. Das geht vielen so, und ich mache da keine Ausnahme. Aber es ist auch eine große Chance. Wenn man von der Möglichkeit Gebrauch zu machen versteht, die große Auswahl zu haben. Viele Menschen haben keine, wir haben sie. Ob wir einen Weg einschlagen, den wir in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren nicht bereuen, das wissen wir nie. Doch wir können viel tun, um uns darin sicherer zu sein. Vor allem, uns nicht von anderen Lebensentwürfen abhängig zu machen, sondern darauf zu vertrauen, dass es einen ganz besonderen Weg gibt, der in uns schon angelegt ist.

Das Ziel ist nicht: Viel erreichen! VIEL sein! Und es ist auch nicht: Etwas Bestimmtes zu sein! DAS zu werden, DAS zu leben, und alles Andere ist irgendwie falsch. Nein, das Ziel ist: In unserem Leben all unsere besonderen Anlagen und Ideen zum Ausdruck zu bringen, und das, was uns gefällt, zu dem Zeitpunkt zu tun, wo es uns in den Sinn kommt. Nicht so zu sein wie Andere, sich die Entscheidungen und Fristen und Zeitpunkte von ihnen vorgeben zu lassen, sondern nur von einem selbst. Natürlich gibt es gewisse Grenzen, die einfach vernünftig sind - schließlich will jeder irgendwann auf eigenen Füßen stehen. Aber im Endeffekt ist das Ziel, BESONDERS zu sein. Und besonders bist du auf jeden Fall. Daher kann ich deine Frage bejahen: Ja, du bist bereit! Aber triff deine Entscheidungen nur so schnell und so umfassend, wie es für dich angenehm ist.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul