Problem von Lena - 15 Jahre

War das Missbrauch?

Hallo liebes Kummerkasten-Team,

vielen Dank, dass Ihr so vielen Menschen helft!

Wie Ihr schon in der Überschrift gelesen habt, habe ich eine Frage. Ich habe eine sehr vage Erinnerung von einem Ereignis als ich ungefähr 4 war. Mein Cousin (der muss damals etwa 17 gewesen sein) war allein mit mir und meinem Bruder (der war ca. 5) in einem Zimmer im Haus meiner Großeltern. Er uns gezwungen, uns auszuziehen. Zuerst wollten wir nicht, aber er hat wohl darauf bestanden, denn ich erinnere mich wie wir dann in Unterhosen vor ihm standen. Diese mussten wir dann auch noch ausziehen und dann wollte er uns dazu bringen, Sex zu haben. Wir hatten natürlich keine Ahnung, wie das geht und lagen dann halt so aufeinander (Gott, mir ist das so peinlich das allein zu schreiben). Mein Bruder hatte dann irgendwann die Schnauze voll und ist gegangen. Dann war ich allein mit meinem Cousin. Er hat angefangen, mich zu streicheln und ich musste ihn anfassen. Er hatte nur eine Unterhose an.

Ich weiß nicht genau, was dann passiert ist. Aber ich glaube, er hat das nicht noch einmal gemacht mit mir. Ist das sexueller Missbrauch gewesen, weil wir hatten ja keinen Sex? Oder übertreibe ich? Ich verstehe jetzt fast genauso wenig wie ich damals verstanden habe. Ich habe ja auch noch nie jemandem davon erzählt. Als kleines Kind kann man das ja gar nicht so ausdrücken. Und jetzt habe ich Angst, meine Familie zu zerstören. Das Verhältnis zwischen meiner Tante (der Mutter des Cousins, von dem ich hier rede) und meinen Großeltern ist eh schon nicht so gut. Und ich möchte nicht Schuld daran sein, wenn die ganze Sache dann eskaliert. Außerdem schäme ich mich, wegen der Sache mit meinem Bruder. Das war ja dann sozusagen Inzest. Und wo ich gerade von meinem Bruder schreibe: ich habe das Gefühl, er hat das alles vergessen. Ich habe Angst, dass unsere Beziehung verändert, wenn ich was sage. Wie kann es denn sein, dass ich mich daran erinnere und er nicht? Kann es überhaupt sein, dass er das vergessen hat?
Meinen Cousin sehe ich zum Glück nicht oft. Ich hatte im Grundschulalter immer Angst vor meinem Cousin und seinen Geschwistern, ich wusste nie warum, aber vielleicht liegt es an dieser Sache...die sehen sich nämlich alle so ähnlich, ich konnte die schlecht auseinander halten. Wenn ich meinen Cousin doch mal an einem Familienfest sehe, ignoriert er mich und ich ihn. Ich glaube, er denkt ich hätte es vergessen. Hab ich aber nicht. Ich habe zwar einige Zeit nicht daran gedacht, aber ich glaube, es war immer irgendwo in meinem Hinterkopf.

Ich verstehe nur nicht, warum diese Erinnerung mich jetzt wieder so quält. Ich zerbreche mir den Kopf darüber, warum er das getan hat und wie das mich beeinflusst hat. Letztes Schuljahr habe ich mich richtig runtergehungert (ich war nicht untergewichtig, aber ich hatte nicht mehr meine normale gesunde Figur). Ich weiß nicht, warum, vielleicht weil ich Aufmerksamkeit wollte. Die habe ich aber trotzdem nicht bekommen, außer einmal kurz als ich durch das ganze Hungern bewusstlos geworden bin. Die Ärztin hatte damals angedeutet, dass ich vielleicht eine Essstörung haben könnte. Dann bin ich aber auf eigenen Wunsch frühzeitig aus dem Krankenhaus entlassen worden und dann wurde das Thema Essstörung nicht mehr erwähnt. Irgendwann habe ich das Hungern dann gelassen, keine Ahnung warum.
Seit diese Erinnerung wieder so präsent ist, fühle ich mich teilweise richtig schlecht. Mal stehe ich vor dem Spiegel und hasse alles, was ich sehe. Manchmal fange ich ohne Grund zu weinen an, bekomme Kopfschmerzen und kann mich gar nicht mehr beruhigen. Ich weine mich oft in den Schlaf. Oft kann ich aber gar nicht einschlafen. Ich bin auch nicht mehr gern mit anderen Menschen zusammen. Das war schon immer ein bisschen so, aber ich habe das Gefühl, das ist stärker geworden. Ich kann keine Gespräche aufrecht halten, weil ich immer so viel nachdenke. Ich grüble den ganzen Tag rum, und ich frage mich immer, ob das normal ist so viel nachzudenken. Außerdem hatte ich noch nie einen Freund. Ich weiß noch nicht mal, ob ich lesbisch bin oder nicht. Es interessiert mich auch so gar nicht. Aber alle in meinem Alter machen sich immer total für die Jungs hübsch und ich schminke mich nie. Und dann erzählen sie, wie sie das erste Mal Sex hatten. Und ich hab noch nicht mal jemanden geküsst. Ich will eigentlich auch niemandem so nahe sein und dann irgendwie doch, weil es "normal" ist. Ich habe Angst, dass ich niemals eine eigene Familie haben werde und einsam werde. Meine Familie hat von all dem keine Ahnung, und ich will es auch niemandem erzählen. Ich hab nicht so ein tolles Verhältnis zu meinen Eltern und Geschwistern, ich bin so ein bisschen der Außenseiter-Streber-Freak. Sogar meine kleine Schwester findet mich mittlerweile uncool, genau wie mein großer Bruder, aber daran habe ich mich schon gewöhnt.

Wie gesagt, ich würde nie mit jemandem über all das, was ich hier geschrieben habe, reden. Allein schon wegen der Sache mit meinem Cousin schäme ich mich wahnsinnig.

Danke an die Person, die das gelesen hat (falls es überhaupt jemand liest). Ich weiß, der Text ist ganz schön lang, aber ich musste das hier mal loswerden.

Viele Grüße und nochmals vielen Dank,
Lena

Bernd Anwort von Bernd

Liebe Lena,

Danke für Deine Zuschrift. Und für das Vertrauen, dass Du uns damit entgegenbringst!
Du schreibst:
" Ist das sexueller Missbrauch gewesen, weil wir hatten ja keinen Sex? Oder übertreibe ich? Ich verstehe jetzt fast genauso wenig wie ich damals verstanden habe."
Du übertreibst ganz sicher nicht! Dein Cousin ist auf einem ganz gefährlichen Weg! Er ist nach Deiner Rechnung nun etwa 28 Jahre alt?
Als er Dich und Deinen Bruder dazu gebracht hat, Dinge zu tun, die ihr nicht tun wolltet, war er fast volljährig: erwachsen? Auf jeden Fall für das verantwortlich, was er euch angetan hat!
Er wusste, was er getan hat! Er hat es mit Absicht getan!
Er weiß und er rechnet damit, dass Du Dich schämst. Er rechnet damit, dass sich Dein Bruder vor Dir schämt!
Wofür?
Für seine (Deines Cousins) Unverschämtheit!
Und es war ganz perfide, zuerst Dich und Deinen Bruder zu benutzen, bevor er mit Dir allein war: genau die Gefühle, die Du nun schilderst hat er sich wohl bewusst zunutze gemacht! Er geht davon aus, dass ihr beide schweigen werdet, weil ihr ja sonst das Geschwister mit einbeziehen müsst? "Hineinziehen"? In etwas was euch beiden peinlich ist. Worüber ihr nicht einmal miteinander sprechen könnt?!
Entschuldige, wenn ich gerade in Gedanken mehr mit Deinem Cousin beschäftigt bin, als mit Dir: auch wenn er Dir danach nichts mehr angetan hat, bekomme ich durch Deine Beschreibung Angst um die Kinder, die nun zum direkten Umfeld Deines Cousins gehören.
Es sind zwei Sachen, die mich schier wahnsinnig machen. Wozu ich aber auch nur Fragen weiß und keine Antworten:
- wie bringst Du Deinen Bruder dazu, seine Scham abzulegen und mit Dir offen über das, was euch von eurem Cousin aufgezwungen war, zu reden? Er wird sich Dir gegenüber schuldig fühlen! Und das macht es ihm schwer, es sich selbst einzugestehen?
- wie hindert ihr gemeinsam Deinen Cousin, weiter seinen pädophilen Neigungen nachzugehen?

Liebe Lena,

ganz ohne darüber zu sprechen wird es niemals aus der Welt geschafft!
Mir liegen da zuallererst Dein Bruder und Du am Herzen! Es wird wichtig für euch beide sein, einmal das Geschehene zuzuordnen. Falsche Scham abzulegen und den Schuldigen zu benennen!

Und dazu braucht ihr eine(n), der euch hilft, euch nicht gegenseitig zu zerfleischen (statt den Schuldigen!).
Eine(n), der euer Schweigen bricht!
Eine(n) der euch hilft, euren Weg zu finden. Heraus aus dem Geschehenen und hinein in eine unbeschwerte Zukunft.

Das wichtigste ist, einmal das erste Wort gefunden zu haben!
Wir wollen Dir zuhören! Wir wollen Dir helfen!
Jeder mit den Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung stehen!
Wir können Dir eine Antwort auf Deine Anfrage geben! Ich hoffe, Deine Fragen und Deinen Widerspruch gekitzelt zu haben! Und auf Nachfragen werde ich Dir gerne antworten!
Die "großen" Antworten werdet ihr aber wohl selber mit professioneller Hilfe vor Ort erarbeiten müssen:

Wirklich "Auge in Auge" mit Deinen Anliegen auseinandersetzten wird sich ein Sozialpädagoge, Therapeut oder auch Pfarrer in Deiner unmittelbaren Umgebung!

Traue Dich! Suche den Menschen, dem Du vertrauen kannst. Dem Du Dich anvertrauen willst!

Schreib mir, wie Du Dich entschieden hast?!

Alles Liebe

Bernd