Problem von Anonym - 23 Jahre

Enorme Selbstzweifel

Hallo liebes Kummerkastenteam,

da ich mich momentan im Rahmen meines Studiums für ein Semester im Ausland befinde und hier auch niemanden habe, an den ich mich wenden kann, möchte ich mich gerne auf diesem Weg jemandem mitteilen.
Die Universität bietet zwar eine kostenlose psychologische Hilfs- und Beratungsstelle an, aber die ist jetzt während der Klausurenphase vollkommen überlaufen und man muss mit mehreren Wochen Wartezeit rechnen.

Nun, zu mir. Ich bin 23 Jahre alt, studiere, bin ein aufgeschlossener Mensch, kontakfreudig - und vollkommen von Selbsthass zerfressen. In meinem 10. oder 11. Lebensjahr wurde eine Borderline Persönlichkeitsstörung und Depression diagnostiziert, was bisher trotz regelmäßiger Therapie und Medikamenteneinnahme nicht erfolgreich behandelt werden konnte.
Angefangen hat alles beim Übergang von Grundschule auf Gymnasium mit den üblichen Verdächtigen: Überforderung, Pubertät, Mobbing, familiärer Druck, usw., das hat sich wahrscheinlich alles addiert und zu meinen psychischen Erkrankungen geführt.
Eines der Hauptprobleme war schon immer, dass ich recht hohe Anforderungen an mich selbst gestellt habe und dabei auch viel zu oft gescheitert bin: Ich wollte nie nur Mittelmaß sein, was Noten und Können anging, was unter dem ganzen psychischen Druck irgendwann nicht mehr zu schaffen war, Unterstützung von den Eltern gab es in der Hinsicht auch leider auch nicht. Für meine Eltern war -so glaube ich es zumindest, wir haben nie darüber gesprochen- nur sichtbar, dass ihre Tochter offenbar zu faul zum lernen war und deswegen schlechte Noten hatte. Die Tatsache, dass ich mir regelmäßig Beine und Arme blutig gekratzt habe, bzw Wunden so lange offen gehalten habe, bis sie eitrig wurden und vernarbt sind, wurde unter der Kategorie "die will nur Aufmerksamkeit" abgestempelt und demnach ignoriert. Auf die Idee, dass das 11-jährige Mädchen eventuell professionelle Hilfe brauchen könnte, kamen sie leider nicht. Gegen die Idee mich vom Gymnasium zu nehmen, habe ich mich jedoch erfolgreich gewehrt und schließlich mit einem guten Notendurchschnitt mein Abitur abgeschlossen.
Wie bereits beschrieben wurde ich weitestgehend während meiner gesamten Schulzeit gemobbt, was natürlich dazu beigetragen hat, dass ich während meiner Pubertät nie wirklich gelernt habe, mit den Veränderungen an meinem Körper positiv umgehen zu können. Ich war immer ein sehr dünnes und schlankes Kind, habe sehr viel Sport gemacht und war in der Hinsicht auch immer sehr erfolgreich auf Wettkämpfen. Bis eben die Pubertät kam. Mit der Tatsache, dass ich eine recht große Oberweite und breite Hüften bekommen habe, konnte ich einfach nicht umgehen und ich blieb nicht schlank wie alle anderen Mädels auch, sondern wurde fülliger/ kurviger. Der Sportunterricht wurde mein größter Horror, und ich habe mich unter weiter Kleidung versteckt, den Sport habe ich auch aufgegeben, weil ich nicht mehr länger so sportlich schlank wie meine Kameraden aussah.
Die Folge war, dass ich dadurch natürlich noch mehr zugenommen habe, da ich mein Zimmer so gut wie gar nicht mehr verlassen habe, mit der Ausnahme, dass ich zum Reitunterricht bin, aber das ist ja nun wirklich kein Sport, bei dem man sich allzu körperlich betätigen muss.
Das Ganze ging solange weiter bis ich im Alter von 19 Jahren anfing zu studieren und dachte, dass jetzt endlich alles besser wird. Endlich daheim ausziehen, vielleicht neue Freundschaften schließen und einfach nochmal von Vorne anfangen, eventuell endlich mal ein männliches Wesen finden, dass Interesse an mir hat.
Letzteres hat tatsächlich funktioniert, genau dreimal und immer mit dem Ergebnis, dass ich innerhalb kürzester Zeit von heute auf morgen durch eine schlanke Blondine ersetzt wurde. Das hat natürlich in keinster Weise dazu beigetragen, dass ich mich in meinem eigenem Körper wohl gefühlt habe, hat jedoch bewirkt, dass ich mich endlich aufraffen konnte etwas dagegen zu unternehmen. Da mir Sport immer sehr viel Spaß gemacht hat und ich im Schwimmen sehr gut war und gerne laufe, bin ich einfach regelmäßig joggen und schwimmen gegangen. 20 kg habe ich dadurch von Ende 2011 bis 2013 verloren.

In den letzten zwei Jahre habe ich meinen Tagesablauf wie folgt gestaltet: Jeden Tag um 5.30 Uhr aufstehen, 40 - 60 Minuten joggen, Vormittags und Nachmittags in die Universität. Zweimal die Woche gehe ich zum Bogenschießen, einmal zum Schwertkampf und einmal zum Kampfsport, und jeden Samstag 2 -3 Stunden schwimmen. Zusätzliche arbeite ich in studentischer Teilzeit 20 Stunden pro Woche und schaffe es mich in der Universität auf einem sehr guten Notenschnitt zu halten.
Trotzdem setzte ich mir jedesmal eine heiße Nadeln auf die Haut, wenn ich Fehler mache, dabei kommt es immer auf meine Stimmung an, wie schwer dieser Fehler oder das Versagen aussehen muss, um mich selbst zu verletzen. Nach meiner letzten Trennung musste ich jedoch ins Krankenhaus, weil die Verletzungen zu tief und zu groß waren und behandelt werden mussten. Außerdem hatte ich in diesem Moment auch daran gedacht dieses Mal ein Messer zu nehmen, weshalb ich mich selbst eingewiesen habe.

Aber an meinem Gewicht tut sich nichts, absolut nichts. Ich ernähre mich gesund, hauptsächlich von Obst und Gemüse, verzichte jedoch nicht auf Kohlenhydrate, aber achte darauf, so wenig raffinierten Zucker wie möglich zu mir zu nehmen. Schokolade oder Eis ist auch einmal die Woche drin, einfach um mich vor möglichen Heißhungerattacken zu schützen.
Hier im Ausland habe ich leider nur begrenzt Möglichkeiten Sport zu treiben, deshalb beschränkt es sich auf die tägliche Joggingrunde, das Schwimmen und regelmäßiges Volleyball in einer Hobbymannschaft. Zusätzliche habe ich angefangen 5mal pro Woche ins Fitnessstudio zu gehen und dort mit Gewichten zu arbeiten.
Und ich sehe absolut keinen Fortschritt. Wenn ich mich wöchentlich auf die Waage stelle, könnte ich mich jedes Mal selbst ohrfeigen, weil ich mich einfach frage, was falsch läuft.
Um mich herum nehmen gerade alle Freundinnen ab, aber die machen überhaupt keinen Sport, gehen nicht einmal joggen, sondern lassen einfach das Nutellabrot zum Frühstück weg und nehmen deutlich sichtbar ab. Inzwischen bin ich selbst so weit, dass ich mir das Essen verbiete. Meine letzte Pizza habe ich wohl vor mehr als einem Jahr gegessen, während alle anderen gemütlich ihr Eis bei sommerlichen Temperaturen schlecken, trinke ich nur Wasser (was ich immer tue, wenn ich Hunger bekomme) und bis auf eine Tasse Kaffee zum Frühstück und eine Scheibe Käsebrot und eine rohe Karotte esse ich nichts.
Ich weiß, dass Hungern definitiv der schlechteste Weg ist, um abzunehmen, aber offensichtlich bringt es nichts, wenn ich mich jeden Tag stundenlang beim Sport abrackere und ich muss ehrlich gestehen, dass ich anfange mich vor Essen zu ekeln und zudem nicht mehr in Gesellschaft essen möchte. Ich fühle mich jedes Mal beobachtet und äußerst unwohl.

Hinzu kommt, dass ich mich am liebsten gar nicht mehr in die Öffentlichkeit traue. Nicht, weil ich Angst habe, dass andere über mich lachen könnten oder mich als zu fett empfinden, sondern weil ich mich selbst dabei erwische, dass ich mich ununterbrochen mit anderen Mädchen vergleiche. "Warum kann ich nicht so hübsch sein?", "Wieso werde ich nie schlank sein?", "Ich bin 23 und habe in meinem ganzen Leben noch nie ein Kleid, einen Rock oder Shorts getragen, weil ich mir das ja eh nicht erlauben kann, bei mir schwabbelt doch alles, du Elefant.", "Was habe ich in meinem Leben falsch gemacht, dass ich nicht so sein kann wie sie?", "Wenn ich die Chance hätte, würde ich mein Leben/ ihren Körper gegen mit ihr tauschen, sofort und ohne ein zweites Mal darüber nachzudenken."

Mit meinen 23 Jahren sollte ich eigentlich aus solch einer Phase raus gewachsen sein, aber stattdessen wird es mit der Zeit immer schlimmer. Momentan wiege ich 77kg bei einer Körpergröße von 1.72m und wenn ich vor dem Spiegel stehe, würde ich am liebsten ein Messer nehmen und die Fettrollen an meinem Bauch einfach wegschneiden, meine Oberschenkel kommen mir auch doppelt so breit vor wie die der schlanken Mädchen und es gibt nichts an meinem Körper, was ich als schön bezeichnen würde oder mit dem ich zufrieden bin. Außerdem fange ich an, alle meine Probleme auf meinen Körper zu projizieren: "Wenn ich schlank bin, wird mein Leben einfacher.", "Wenn ich schlank bin, bekomme ich vielleicht auch endlich mal männliche Aufmerksamkeit und werde nicht ersetzt. Schließlich waren die Mädels, die mir vorgezogen werden ja immer blond und schlank."

Hinzu kommt noch, dass ich keinerlei positive Rückmeldung bekomme. Im Schwimmbad wird mir ins Gesicht gesagt, das fette Menschen hier eigentlich verboten gehören und ich hier nichts zu suchen habe. Und mir fiele das Schwimmen nur so leicht, weil Fett ja schließlich auf der Wasseroberfläche treibt.
Im Bekleidungsgeschäft muss ich mir, wenn ich nach einer größeren Variante frage, anhören, dass in diesem Laden keine Übergrößen geführt werden und ich mich doch bitte woanders umschauen sollte. Und auf dem Volleyballfeld, im Fitnessstudio, im Seminar oder in Vorlesungen gehöre ich immer zu übergewichtigen Liga, aus der ich definitiv heraus möchte, es aber seit Jahren nicht schaffe.
Und egal, mit wem ich darüber rede, Psychologen, Freunde, Familie, Ärzte, ich erhalte immer die gleiche Antwort: Iss weniger, mach mehr Sport. Funktioniert bei jedem.
Und ich frage mich ernsthaft, wie ich noch mehr Sport in meinen Tagesablauf packen soll. Schon jetzt halte ich mich nur noch zum schlafen in meiner Wohnung auf, die restliche Zeit über pendle ich zwischen Sporthalle, Schwimmbad, Park, Uni und Arbeit hin und her und, wie bereits erwähnt, verliere jegliche Lust am Essen.
Gleichzeitig komme ich mir so verdammt lächerlich vor, weil niemand einsehen kann oder möchte, dass ich mit meinen 23 Jahren in diesen pubertären Selbstzweifeln stecke und das einzige Problem, das mich momentan beschäftigt, nur noch mein Gewicht und mein Körper ist und das leider schon seit 4 Jahren.
Zudem wird mir oftmals nicht geglaubt, dass ich so viel Sport mache. Mit Kommentaren wie "Na, wenn du so sportlich bist, müsste man das doch eigentlich sehen, oder?" und irgendwie hatte ich von anfang an gehofft, dass ich wenigstens im Sport etwas Anerkennung von anderen erhalte.

Zwischendurch, so wie heute, habe ich dann auch mal ein paar "wache Momente", in denen ich mir sage: "Kann mir doch egal, sein, was die anderen von mir denken!" und fasse den Entschluss bei fast 30 Grad endlich doch einmal eine kurze Hose kaufen zu gehen, und 5 Minuten später macht mir der Gedanke im Bekleidungsgeschäft zwischen den ganzen schlanken Mädchen stehen zu müssen, absolute Angst und laufe lieber weiterhin in meinen dicken Jeans durch die Gegend.

Ich hasse mich einfach selbst. Sowohl weil ich so "kindisch" und oberflächlich denke und zum anderen, weil ich es einfach nichts schaffe, irgendetwas an meinem Körper zu verändern, während es um mich herum für jeden anderen offensichtlich möglich ist.
Außerdem finde ich mich inzwischen nicht mehr von meinen Freunden und Ärzten ernst genommen, weshalb ich einfach überhaupt nicht mehr weiß, an wen ich mich wenden soll. In meinem Kopf bin ich ehrlich gesagt schon so weit, einfach magersüchtig zu werden und außer Wasser nichts mehr zu mir zu nehmen, aber der letzte Funken Vernunft, der mir noch geblieben ist, hält mich davon ab, weil ich weiß, dass das in keinster Weise eine Lösung ist und über kurz oder lang nur dazu führen wird, dass ich irgendwann nicht mehr in der Lage wäre Sport zu treiben. Und der Sport ist einer der letzten Strohhalme, die mich gerade so psychisch "stabil" halten und davor bewahren komplett abzustürzen.

PaulG Anwort von PaulG

Ein Nachtrag ganz vorne: Du hast ein Feedback bekommen. Hier folgt der Link dazu:

http://mein-kummerkasten.de/318822/Feedback-zu-Enorme-Selbstzweifel.html


Liebe Anonyme,

ich danke dir sehr, dass du dich an uns gewandt hast. Zuerst einmal muss ich dir ein Kompliment machen: Es mag sein, dass du die Behandlung deiner psychischen Probleme nicht als eben erfolgreich ansiehst. Wenn ich mir aber überlege, wieviel zutiefst positive Dinge über dich allein aus deinem Text hervorgehen - die du wenig bis gar nicht zu sehen scheinst - dann muss ich schlucken. Schlucken vor Ehrfurcht, liebe Anonyme, über deine Selbstlosigkeit.

Nicht allein, dass du zurzeit im Ausland studierst, was in deiner Situation sicher eine enorme Leistung darstellt. Du hast es geschafft, deinen Tag minutiös zu planen, sämtliche Versuchungen und "kleinen Sünden" in enge Schranken zu weisen, du lebst durch und durch strukturiert und gesund. Was ist dein Ziel? Dein Aussehen zu optimieren? Noch mehr abzunehmen? Wie wäre es, dich erst einmal über die Erfolge zu freuen, die du bereits hattest? Es ist gewiss hart, das von mir anzunehmen, aber: Deine Bemühungen werden ins Leere laufen. Du bist wie die Asketen in alter Zeit, die sich jeden Genuss versagten - mit dem Unterschied, dass du dich zutiefst nach menschlicher Achtung, menschlicher Liebe, menschlichem Verständnis sehnst. Und nicht nach dem Jenseits. Auch das Letzte, was die Büßer und Heiligen noch auszeichnete, wendest du an: Selbstbestrafung. Heiße Nadeln, als ob auf deinem Herzen nicht schon genug säßen. Ihnen erschien der gekreuzigte Christus als himmlisches Bild, das zum erstrebten Ziel führt. Und ebenso kommt es dir passend und gerecht vor, wenn du dich verstümmeln würdest. Du hast es mit dem Bild des Messers vor dem Spiegel ausgedrückt. Kann das der Weg sein? Kann das die Lösung sein? Ich beschwöre dich: Wenn du nicht mehr so leiden möchtest, sondern leben, dann musst du einsehen, dass das Erste nicht der Weg zum Zweiten ist. Dieses ewige "Wenn ich erst... bin, dann aber...!" führt vollkommen in die Irre. Wenn du leben willst, dann lass dir von mir sagen, dass du äußerst lebenstüchtig, tough und beherrscht, kritisch und eifrig und mit Sicherheit schön bist. Um Gottes willen, wenn du es sehen könntest! Ich bin mir dessen sicher, auch wenn ich dich noch nie gesehen habe. Das Kunststück ist, dass du es merkst, die du dich jeden Tag siehst, wie toll du bist. Es ist nicht leicht. Aber es kann gelingen.

Du hast geschrieben, dass der Sport dir Halt gibt, dass er dich vor dem Absturz bewahrt. Kannst du das sicher wissen? Vor allem verspricht der Sport doch Erfolge, Schritte, die dich deinem Ziel näher bringen? Und je weniger er diese Versprechen einhält, desto frustrierter bist du. Ich will dich mit allem, was ich schreibe, nicht ermuntern, etwas sein zu lassen, das dir Kraft gibt. Trotzdem möchte ich dich auf den Gedanken bringen: Nährt mich das? Oder beruhigt es bloß mein Gewissen, ohne mich meinem Ziel näher zu bringen?

Jedes deiner Rituale, die du beschrieben hast, zeugt doch davon, wie du die Demütigungen deiner früheren Jahre in Kraft umgewandelt hast. Dein Studium, deine Sprache und Selbstreflexion, deine ganze Lebensweise verraten doch, dass du - unter viel schwereren Bedingungen! - viel mehr Stärke und Disziplin gewonnen hast, als viele deiner Altersgenossen. Wenn du etwas ändern möchtest, rate ich dir, deinen Text noch einmal durchzugehen. Prüfe all das, was du tust, um dir zu gefallen, auf den einfachen Grundsatz hin: Gefällt mir das echt? Ist das für mich ein Hobby, das mich entspannt, das ich mit Leidenschaft betreibe? Oder bin ich krampfhaft bemüht, es zu tun, weil ich mir etwas davon verspreche? Glaube ich, das tun zu müssen - oder will ich es? Würde ich es auch tun, hätte ich morgen meine Traumfigur? Und wie steht es mit der Ernährung: Ich habe den Eindruck, dass du innerlich glühst vor Wut und Neid, weil alle essen können, was sie wollen - aber das ihre Linie scheinbar nicht beeinflusst. Sagen wir, okay, es gibt Leute, die haben wirklich Glück. Die können machen, was sie wollen: Süßigkeiten, Eis, Zigaretten, Alkohol - und es klappt trotzdem. Mit dem großen Rest sieht es jedoch ganz anders aus.

Jeder hat so seine persönliche Bürde. Der eine fühlt sich zu dick, der nächste zu klein, der dritte findet, er müsste mehr Muskeln haben... diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Es ist ja auch nichts dagegen einzuwenden, wenn man sich Ziele setzt und auf seine Gesundheit achtet. Da gibt es bloß zwei Tendenzen, um deren Begrenzung du dich bemühen solltest: Erstens, dich so anzustrengen, dass du gar nicht mehr genießen kannst. Zweitens, dir Maßnahmen aufzuerlegen, die du ohne diese quälende Unzufriedenheit nie gewählt hättest. Zurzeit rennt alle Welt ins Fitnessstudio. Warum? Doch wohl nicht nur, weil man da besonders gut trainieren kann, besser noch als beim Radfahren, Schwimmen, Joggen. Das ist ja gar nicht so. Sondern Fitness ist ein soziales Event, bei dem man sich zeigt, und das dadurch von ganz allein für die Motivation sorgt. Toll, wenn du einfach so hingehen kannst, und dein Programm absolvieren, und dich danach besser fühlst. Ist das so? Oder rackerst du dich mit gefletschten Zähnen, den Tränen nahe, ab, weil du nie so sein kannst wie die, die mit dir im Raum sind - und die du beneidest? Ich will dir nicht Unrecht tun. Ich empfinde es so, dass du im Augenblick nichts Anderes tust, als Frust und Stress anzusammeln. Und ganz egal, wie gesund und fit du den Tatsachen nach lebst - auch das sind Faktoren, die die Gesundheit beeinflussen. Und das Aussehen.

Wer kräftig gebaut ist, eine sinnliche Figur hat, wird kein Bikinimodel, sondern höchstens magersüchtig. Wenn du so sehr unter Leidensdruck stehst, warum gehst du darauf ein? Ich erkläre dir, wie ich das meine: Du hasst diese Perfekten um dich herum, diese schlanken Blondinen und muskulösen Machos, diese leichtlebigen Genießer... und trotzdem versuchst du alles, um so zu sein wie sie? Warum wählst du nicht ein Modell, das DIR gerecht wird? Und nicht dem Rest der Menschheit, allen, bloß nicht dir selber. Warum tust du das? Weil du, wie du selbst sagst, von Hass auf dich selber zerfressen bist. Aber auch wenn ich diesen Hass nicht wegzaubern kann, sage ich dir, dass du jeden Grund hast, dich selber zu mögen. Und gemocht und geliebt zu werden.

Willst du einen konkreten Rat von mir? Guck auf den Kalender, und schau nach, wann du am Montag deine erste Vorlesung hast. Steh so spät auf, wie es geht. In der Pause gehst du ein Eis essen. Und dann sprichst du zu dir selber: Heute fange ich neu an. Denn im Moment besteht dein Tag aus Handlungen, die dich zu einem Menschen machen sollen, der du nicht bist. Und der du niemals werden kannst. Dein Ziel muss es sein: Sport zu machen, weil du Lust hast, weil es für dich ein Hobby ist - und keine Pflicht. Im Allgemeinen ausgewogen zu essen, aber auch ohne Reue naschen zu können. Wenn du dafür durch eine Phase gehen musst, in der du dich absolut ungesund ernährst - gut, dann ist es so! Das ist heftig, ich weiß, womöglich langst du dir jetzt an den Kopf. Aber so wie es gerade steht, wirst du nicht glücklich werden. Natürlich solltest du gesund leben - aber eben ohne Schmerz. Wenn dich eine Laune ankommt, und du isst Schokolade, weil sie da ist, dann ist das OKAY. Dazu musst du vielleicht die Erfahrung machen, dass zuviel genauso wenig glücklich machen kann, wie zu wenig. Wie wäre es, statt bis zum Abwinken Obst und Gemüse zu essen, diejenigen Sachen auszuwählen, die dir wirklich schmecken? Und entsprechend zu kochen, einfach weil's Spaß bringt und schmeckt? Lass einen Teil deiner Sport-Termine mal eine Weile sausen. Ich weiß, es hält dich am Leben, aber es kann auch eine Art von Zwang werden. Wähle dir eine Sache aus, die dir Spaß macht, und versuche, sie entspannt zu betreiben, und dann regelmäßig. Ob es das Schwimmen ist, das Laufen, das Gewichte stemmen - es muss dir liegen, es muss dir gefallen. Dann kannst du immer noch nachlegen, und dein Pensum steigern. Jetzt musst du erstmal wieder lernen, zu ruhen, statt zu rotieren, zu genießen, statt abzuhaken. Und dafür ist es unerlässlich, dass du aus deiner jetzigen Routine ausbrichst. Was immer du tust - tu es nur, weil es dir wirklich zusagt. Und belohne dich, hörst du? Es gibt viele gute Gründe dafür.

Derzeit schaust du wuterfüllt auf die Leute, die die Figur haben, die du dir wünschst. Als Kind warst du schlank, die Pubertät hat dich fraulicher gemacht, als es dem "Ideal" entspricht. Das in Wirklichkeit gar keines ist. Du hast eben das Pech, das deine eigene, ganz persönliche Schönheit nicht so öffentlich gewürdigt wird. Deswegen gibt es trotzdem Nachfrage danach. Deine bisherigen Freunde hatten eben den Fehler, zu sehr von sich überzeugt zu sein. Oder zu wenig, sodass sie jemanden an ihrer Seite brauchten, der diese Makel (was sie auch seien) kompensierte. Und du, von dir selbst nicht überzeugt, hast vermutlich nach jemand Ausschau gehalten, der eben auch eine vollschlanke Strandnixe haben kann. Dabei gibt es jede Menge Männer, die ebenfalls auf ihre Art attraktiv sind - eine Art, die möglicherweise über das bloße Äußere hinausgeht -, die dir sehr wohl Liebe und Zufriedenheit bieten können. Du hast solchen Mann noch nicht gefunden. Möglicherweise hast du einfach Pech gehabt. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass du ihnen noch keine Gelegenheit gegeben hast, dich zu entdecken. Und um eine Angriffsfläche für solche Eroberungen zu bilden, solltest du versuchen, nicht weiter auf der Welle der Strandnixen mitzuschwimmen, sondern dein eigenes, für dich angenehmes Modell zu finden - und es auszuleben. Im Übrigen: Gib dir Zeit! Setz dich nicht unter Druck! Das muss auch ich mir immer wieder sagen. Die Liebe findet einen, aber erst muss man sich selbst finden.

Hast du außerdem eine Vorstellung, wie so eine blonde Strandnixe sich fühlt? Nicht jetzt, wo sie noch frisch aus der Form ist. Sondern in zehn Jahren, nach einer oder zwei Schwangerschaften? In den Wechseljahren? Okay, auch da gibt es Abhilfe: Botox, absaugen, liften. Aber irgendwann bricht jedes Ersatzteillager mal auseinander. Sorry für meine harte Wortwahl, doch das Leben holt jeden ein, die Erkenntnis, dass wir nicht unantastbar und nicht für die Ewigkeit geschaffen sind. Du hast die Wahl: Erkenne ich jetzt an, dass ich ein Mensch bin, und zwar ein ganz besonderer? Oder will ich mich in einigen Jahren von dieser Wahrheit überwältigen lassen, wenn mir das Leben nicht mehr die Freiheit bietet, mich damit noch auseinanderzusetzen?

Lass diejenigen, die konform sind, aber irgendwann auch zum alten Eisen gehören, nicht dein Leben bestimmen! Denn es ist dein Leben und deine Persönlichkeit, die es bestimmen sollte. Treibe Sport, wenn du Lust hast, soviel du magst! Aber prüfe immer und überall genau, ob es eigentlich du bist, die die Vorgaben macht. Das solltest du dir wert sein.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul