Problem von Anonym - 15 Jahre

Leben

Hallo, Ich hätte nie gedacht, dass ich ein solches Forum mal nutzen werde. Nur ich brauche einfach Hilfe. Ich bin 16 und leide seit 2 Jahren an Anorexie ich war auch schon in der Klinik das ist jetzt etwa 6 ½ Monate her. Ich geh auch einmal in der Woche zu einer Therapeutin aber ich kann mit ihr nicht darüber reden, weil ich Angst habe wie in die Klinik zu müssen.

Ich versuche immer fröhlich und glücklich rüber zu kommen was ich fast immer schaff. Aber wenn ich ehrlich bin hasse ich mein Leben wenn ich in der Früh wach werde will ich nur in meinem Bett liegen bleiben weil ich weiß dass ich wieder essen muss und wieder einen schrecklichen Tag durchmachen muss. Essen ekelt mich an und ich habe ständig Angst zuzunehmen. Der Grund meiner Anorexie glaub ich ist dass ich mich zu Tode hungern wollte was nicht funktioniert hat weil ich dann in die Klinik kam. Ich Drau mich das nicht auszusprechen weil ich eigentlich alles hab und es viele wahrscheinlich nicht verstehen. Aber ich hasse es. Ich hasse es jeden Tag. Ich fühle mich wie Luft wenn ich unter Leuten bin egal ob Freunde oder meine Familie. Ich hab ständig das Gefühl dass ich nicht ernst genommen werde erst recht bei meiner Familie wenn meine Cousinen oder Cousin was machen wird es immer hoch gelobt wenn ich was tolles mach nicht aber damit hab ich mich abgefunden. Naja mein eigentliches richtig großes Problem meine Anorexie und mein hasse an das Leben. Wenn ich nur an essen denke hab ich Angst davor so dass ich weinen könnte ich kann und will das alles nicht mehr durch machen. Ich möchte nur noch sterben.
Ich hoff ihr könnt mir vielleicht ein bisschen helfen.

Ein großes Dankeschön schon mal im Voraus :)

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

ich frage mich gerade: Wie ist es dazu gekommen? Wobei das offen bleiben kann. Was doch viel wichtiger ist: Auf welche Weise kannst du von dem Todeswunsch loskommen, den du empfindest? Natürlich stehst du am Anfang des Weges, der dich ins Leben zurückholen soll. Doch den ersten Schritt hast du bereits getan. Du hast dich an uns gewandt und um Hilfe gebeten. Dafür danke ich dir - es zeigt deine Vernunft und auch dein Verständnis für das Denken der Anderen. Eine große Leistung ist das, wenn man bedenkt, in welcher Situation du dich befindest.

Essen ekelt dich an. Du möchtest nicht bloß abnehmen, sondern wolltest dich sogar schon zu Tode hungern. Das sind harte Worte, ehrliche Worte - erschreckende für ein 16-jähriges Mädchen, die doch noch ihr ganzes Leben vor sich hat. Du hast geschrieben, dass du dich nicht beachtet fühlst, dass es nicht gewürdigt wird, was du tust und leistest. Das möchte ich hiermit tun, denn man kann nur großen Respekt haben vor allem, was du schon durchmachen musstest. Und trotzdem hast du dir den Bezug zur Realität gewahrt, das Gespür für die Sicht der anderen Menschen, die so verschieden ist von deiner. Dir bereitet Essen Angst, das Leben bereitet dir Angst - und wenn man es genau nimmt, ist ja Essen und Leben nahezu dasselbe. Du kommst mir vor, wie ein dünner Zweig oder eine kleine Blume - ein zu starker Windstoß, ein unbedachter Schritt: Und aus, verloschen, gestorben, ehe man sie bemerkt hat. Das ist sehr traurig. Ich kann dir nicht versprechen, dass ich eine Hilfe für dich habe. Allein schon, weil ich versuchen möchte, dir ein wenig Hoffnung und Lebenswillen zurückzugeben. Da das offenkundig dem widerspricht, was du aus tiefstem Herzen willst, laufen meine Bemühungen womöglich ins Leere. Probieren mag ich es trotzdem. Warum hast du uns geschrieben? Weil du wissen möchtest, wie du möglichst schnell, unauffällig und schmerzlos aus dem Leben scheiden kannst? Oder weil irgendwo in dir noch ein winziger Rest Mut ist, der sagt: Es könnte ja vielleicht... ganz vielleicht... doch weitergehen? Nur du allein weißt es. Ich jedenfalls hoffe es - und wenn er da ist, möchte ich ihn wecken.

Lass uns einmal, ganz schlicht und einfach, überlegen, was Essen überhaupt ist. Das mag idiotisch klingen. Aber solange es dir schwer fällt, dich überhaupt mit Essen zu beschäftigen, kann es dich vielleicht dem Leben wieder näher bringen. Was also ist Essen? Jedes Lebewesen nutzt sich sozusagen ab. Unsere Knochen, unsere Organe, unser Haar und unsere Nägel, alles muss wachsen, muss sich erneuern. Daneben brauchen sie gewisse Stoffe, um weiter zu funktionieren: Vitamine, Ballaststoffe, Fette. Diese sind bis zu einem gewissen Maß in uns selbst enthalten, wir sind nichts Anderes als belebte Nahrung - früher für andere Tiere, so wie sie es für uns sind (manchmal), in jedem Fall aber nach unserem Tod, wenn wir zur Erde zurückgehen. Hier sind sogar Nahrung und Tod eins. In erster Linie aber ist Essen nichts Anderes, als sich die Dinge aus der Natur zu holen, die das bereit halten, was unser Körper so dringend braucht. Wenn wir Pech haben, können wir selbst zur Nahrung werden; gleichzeitig aber isst jedes Lebewesen auf der Welt von irgendwoher: Beginnend mit den Pflanzen, die die nicht greifbaren Dinge wie Licht und Luft verarbeiten, über die Grasfresser und Blattesser, zu den Raubtieren, die sie jagen. Der Mensch steht irgendwo zwischen den letzten beiden, wir nehmen sowohl tierische als auch pflanzliche Nahrung zu uns. Einige von uns haben sich entschieden, sich nur pflanzlich zu ernähren, was möglich ist; in jedem Fall aber hat das, was man zu sich nimmt, einmal gelebt, war Teil des gigantischen Kreislaufs, dem wir angehören. Und irgendetwas in dir weigert sich nun, aktiv daran teilzunehmen. Woran könnte das liegen? Es gibt, auch wenn er viele Ausformungen kennt, letztlich nur einen Grund: Du hast die Erwartungen ans Leben verloren. Du hast nicht mehr das Gefühl, dass es dir etwas zu bieten hat, für das es sich zu leben lohnt. Woran liegt das: Von Anfang an daran, dass deine Familie dir nicht die Achtung zollt, die du dir wünschst? Oder gibt es noch andere Ursachen?

Wenn das nämlich der Grund sein sollte, wird dir aufgehen, dass das ein Widerspruch ist: Auf der einen Seite möchtest du nichts, als das Leben wegwerfen - auf der anderen Seite hast du Wünsche, die sehr dem Leben verpflichtet sind. Kann es dir da so egal sein? Natürlich würde es, bekämst du die Aufmerksamkeit und das Verständnis, die du möchtest, dein Problem nicht sogleich beenden. Aber es mag ein Ziel sein, dass du formulierst: Dir Achtung zu erwerben. Ernst genommen zu werden. Und welches, glaubst du wohl, könnte der erste Schritt dazu sein? Genau: Einen kleinen Bissen zu nehmen.

Beginne wieder, Wünsche zu haben. Das ist nicht einfach, weil Wünsche Lebenswillen erfordern. Wenn du das mit Selbstverständlichste, Essen, mit Ekel betrachtest, ist es noch schwerer. Doch eigentlich weißt du es selbst: Du läufst auf einer ganz, ganz engen Schiene. Nicht essen! Nicht essen! Sobald dir etwas in den Weg kommt, gerätst du in Panik. Dieses Verhaltensmuster gilt es, aufzubrechen. Vermutlich hast du keinen Ehrgeiz dazu. Aber dann sag dir: Von einem Apfel komme ich bloß eine Zehntelsekunde vom Tod weg. Oder von einem Keks, oder von einem Stück Brot. Jetzt wo eh alles egal ist, kann ich doch mal sowas hernehmen. Und wenn es nur ist, weil so ein komischer Typ namens PaulG das sagt. Also?

Es mag ein Apfel sein. Pflück ein winziges Stückchen ab. Spürst du, wie die harte Schale unter deinem Finger nachgibt? Wie sie gegen die Innenseite deines Nagels stößt, wenn das Bisschen sich aus der Frucht löst? Und spürst, wie das kleine Teil so seltsam fremd zwischen den Fingern liegt? Du könntest es zerdrücken, wenn du wolltest, es wäre dann nur noch ein Hauch. Was macht es also, es in den Mund zu nehmen? Tu das. Und wenn du auf dem Weg stockst, gib dir die Zeit. Drück es einmal an den Gaumen, beiß rechts zu, beiß links zu - schlucken musst du dann nur noch so wenig, dass du es kaum merkst. Dann ist bei einem kleinen Bröckchen fast nichts mehr da. Ist das schlimm? Vermutlich wird deine Antwort Ja sein. Doch meine Aufgabe an dich ist es ja nicht, nur so ein kleines Stückchen zu essen. Sondern das ganze Lebensmittel, ob Keks, ob Apfel, ob Karotte. Damit kannst du dich stundenlang beschäftigen. Worum geht es dabei? Nicht, dir verzweifelt die Nährstoffe zuzuführen, die die Anderen von dir gegessen haben wollen. Nicht, deine Freude am Essen wieder zu bekommen. Sondern einfach nur, das Essen wieder Gewohnheit werden zu lassen. Mit jedem Biss, mit jedem Schlucken - und auch mit jedem Zaudern und Spucken - entwickelt sich etwas in dir weiter. Entwickelt sich neu. Ein wenig ist es, wie es als Kleinkind war, als du lerntest, feste Nahrung zu dir zu nehmen. Auch wenn du dich nicht mehr erinnern kannst: Diese Umstellung war ähnlich radikal, mit ähnlichen Hemmungen verbunden - nur dass wir damals noch nicht wussten, was Skepsis und Hemmungen sind. Probier es aus - du wirst dabei nichts verlieren. Den Tod nicht, und das Leben nicht gewinnen. Wichtig ist: Beschäftige dich mit der Materie ESSEN. Im Augenblick würde es auf dich wohl denselben Effekt haben, eine Doku über Kartoffelanbau zu sehen, wie auf viele Leute ein Horrorfilm hat. Dann sieh dir so etwas an. Schalte ab, wenn es nicht geht. Probier es wieder. Und auch, wenn das alles dich dem Essen nicht näher bringt: Du beschäftigst dich. Und so geschieht nicht das, was ich und viele für dich befürchten. Auch wenn du den Tod ersehnst, ich fände es entsetzlich träfe er dich. Kannst du es nachvollziehen?

Wenn du auf der einen Seite mehr Anerkennung von deinen Mitmenschen möchtest, und andererseits Dinge dir Schwierigkeiten bereiten, die für die meisten Menschen normal sind - dann hast du dir viel vorgenommen. Du kannst dich nicht so stark ins Licht drängen, wenn deine Blätter noch nicht genug entfaltet sind, wenn sie noch ganz dürr und blass sind. So wie du am liebsten eine Blume oder ein Zweig wärst, die im Sturm verweht wird, so wirst du gelegentlich wahrgenommen. Die zwei Seiten deiner Person - dass du einerseits dem Tod näher stehst als dem Leben, und andererseits trotzdem tolle Dinge vollbringst - klaffen auseinander. Die Erwartungen an dich sind eben nicht sehr hoch, sondern eher gesunken - und dass sie höher liegen könnten, kommt ihnen nicht in den Sinn. Ist doch auch irgendwie logisch, wenn dir zwar so wenig am Leben liegt, du aber trotzdem noch alles tust - nur mechanisch, antriebslos, freudlos?So kann ich es mir erklären. Es passt nicht ins Bild, dass du - unverschuldet! - von dir gezeichnet hast: Sie sehen das Mädchen, die dahin schwindet, die den Glauben an das Leben verloren hat, die sich schwer tut, zu essen; du bemühst dich zwar nach Kräften, gelöst und freudig zu erscheinen. Aber dazu gehört mehr als Lächeln und höflich zu antworten, dazu gehört noch etwas, das deine Gesten und Blicke verraten müssen: Lebenslust, und, noch viel wichtiger, Lebenswillen. Nach diesem einfachen Grundprinzip, dass fast allen zu eigen ist, bist du noch auf der Suche. Verlang also nicht zu viel von dir - und rede dir nicht ein, du würdest nicht geachtet, weil man deine Leistungen zu übersehen scheint. Sie sind auch nur Menschen, und ihre Sicht auf dich ist durch Sorge und Angst getrübt, vielleicht auch durch Hoffnungslosigkeit, durch Schmerz. Was du leistest, ist da, aber weil es so wenig zu dir zu passen scheint, übergeht man es. Weil es nicht das Hauptanliegen ist, dass du erfolgreich bist, sondern überhaupt funktionierst, kümmert man sich um das Zweit mehr. Noch liegt der Schatten der Anorexie über allem. Doch wenn du allmählich zurück ins Leben wächst, wie eine Blume, wird man das bemerken. Und sich eines Tages unversehens wundern, wie schön du aufgeblüht bist.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul