Problem von Lucijan - 17 Jahre

Ich will nicht zurück

Hallo,
ich habe vor einigen Wochen die Realschule beendet und lebe seit ca. 2 Wochen bei meinen Großeltern in Finnland. Warum das so ist, versuche ich jetzt mal irgendwie zu erklären. Tut mir Leid, falls es etwas chaotisch wird.

Mein Vater ist ein ziemliches A-loch, der mich, meine Schwester und sogar meine Mutter ziemlich unterdrückt. Wenn er betrunken ist, kam er immer in mein oder in das Zimmer meiner Schwester und schrie uns grundlos an. Manchmal schlug er uns auch. Meine Mutter hatte er auch schon geschlagen, sie schlug aber immer zurück und so gab es desöfteren ziemlich heftige Streitereien von meinen Eltern, die ich und meine Schwester (13) immer mitansehen mussten. Meine Mutter lässt sich trotzdem immer alles von ihm vorschreiben. Ich habe nie verstanden, warum. So kommt es dazu, dass ich nur die Muttersprache meines Vaters sprechen kann (polnisch), aber nie finnisch gelernt hatte. Mein Vater hatte sich immer aufgeregt, wenn meine Mutter mir etwas finnisch beibringen wollte. Meine Mutter arbeitet sehr hart, damit wir uns unsere Wohnung in der Großstadt finanzieren können. Sie arbeitet als Krankenpflegerin und aufgrund des Personalmangels macht sie schon, seit ich 9 oder 10 Jahre alt bin, immer wieder Überstunden, die sie nicht einmal bezahlt bekommt. Sie bekommt einen lächerlich niedrigen Lohn für einen derart harten Beruf, obwohl sie eigentlich ein abgeschlossenes Medizinstudium hat! Meine Mutter arbeitet meistens zwischen 12 Uhr mittags und 22 Uhr abends und so sehe ich sie so gut wie kaum. Sie hatte nie wirklich viel Zeit für uns und mein Vater, der hatte mehr Zeit, aber ich und meine Schwester waren und sind im scheißegal. Als ich mit 10 Jahren vom Schullandheim kam und alle auf dem Bahnhof von ihren Eltern abgeholt wurden, musste ich vergeblich auf meinen Vater warten. Als ich ihn anrief, war er natürlich mal wieder total besoffen und sagte, ich soll von selbst nach Hause fahren... ich müsste etwa 10km alleine fahren und ich wusste damals nicht einmal, wie das ging. Letztendlich brachten mich die Eltern meines besten Freundes nach Hause. Meine Mutter war natürlich bei der Arbeit.

Dazu kommt noch, dass ich schon seit der Grundschule wegen meines weiblichen Aussehens gemobbt werde. Ich habe so richtig weißblonde Haare, sehr blasse Haut und ein sehr rundes Gesicht. Ich seh halt aus wie ne Frau. Ich bin auch ziemlich dünn und wurde in der Realschule dann auch wegen meinen schmalen Schultern fertig gemacht. Ich habe angefangen, meine Mitschüler und die ganze Schule zu hassen. Auch die Lehrer verachteten mich. Sie interessierten sich nie für meine familiäre Situation und nannten mich ,,dumm" ich hatte nie besonders gute Leistungen in der Schule erbracht. Einmal musste ich auch die Klasse wiederholen und die Lehrer sagten immer wieder, dass ich faul sei und dass ich vielleicht doch lieber auf eine Hauptschule gehen solle. Sie fragten nicht einmal nach, was bei mir los ist und das offensichtliche Mobbing vor ihren Augen hatten sie auch nicht bemerkt.

Ich muss zugeben, dass ich schon mal darüber nachdachte, mich an der ganzen Schule und an den Mitschülern zu rächen. Ich wolle sie unbedingt leiden sehen, weil sie mich nie gut behandelten.

Mit 13 hab ich mit dem Rauchen angefangen, mit 14 mit Alkohol und mit 16 mit dem Kiffen. Ich war jedes Wochenende betrunken und bekifft und habe an jedem Wochentag Alkohol getrunken.

Kurz vor meinem Schulabschluss hab ich richtig Mist gebaut: Meine ,,Freunde" sagten mir, ich solle noch härtere Drogen mal ausprobieren, was ich auch tat. Ich war schon total besoffen und bekifft. Letztendlich bin ich nur noch durch die Gegend gekrochen und wusste nicht, was los war. Irgendwann wurde ich bewusstlos. Ich wäre anscheinend beinahe gestorben. Mein einziger guter Freund riet mir davon ab, solche Drogen zu nehmen. Er hatte Panik bekommen und rief von meinem Handy aus meine Mutter an, die zu dieser Zeit wahrscheinlich auf dem Heimweg war. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass meine Mutter kam und mir half, aufzustehen, ich war wieder einigermaßen wach geworden. Sie wiederholte oft, dass dieser Ort nicht gut für mich sei. Sie weinte und ich fühlte mich deswegen richtig scheiße. Ich wollte meine Mutter nie zum Weinen bringen. Sie beschloss dann, dass ich zu meinen Großeltern gehen soll. Sie spürte, dass es mir nicht gut ging. Ich war zuerst stark dagegen, aber meinem Vater war es egal und somit sagte er auch nichts dagegen. Er nannte mich nur ,,Junkie" und ,,Schwuchtel" und meinte, ich hätte es verdient. Dabei ist er doch selber Alkoholiker! Das Problem war auch, dass ich meine finnischen Großeltern schon seit 10 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sie mussten immer zu uns kommen, um uns zu besuchen, weil mein Vater nie wollte, dass wir nach Finnland gehen. Meine Mutter hörte noch auf ihn und rief einfach nie bei unseren Großeltern an.

Ich wünschte, ich hätte meine Schwester mitnehmen können. Kurz vor meinem Abflug erwischte ich meine Schwester mit einem Typen in meinem Alter im Bett miteinander erwischt! Sie ist doch erst 13 und ein Kind! Warum hat die bitteschön nen freund und vor allem, warum schläft sie mit dem!?!? ich hatte den kerl aus dem haus geschmissen und ihm dabei mehrmals ins Gesicht geschlagen (ich weiß, ich habe Aggressionsprobleme, ist das verwunderlich?) Mit meiner Schwester hatte ich daraufhin einen heftigen Streit. Sie schlug mich und ich schlug zurück. Wir waren nicht besser als unsere Eltern. Aber meine Schwester lief schon mit hohen Schuhen in der Schule rum und hatte schon den Ruf ,,Hu*e" Sie schminkt sich auch immer übertrieben und sowas, die ist doch ein Kind und nicht eine erwachsene Nu**e!!! Ich weiß, dass ich mit 13 nicht besser war, wenn ich geraucht und gesoffen habe, aber ich hatte gehofft, sie sei besser! Sie raucht nämlich auch schon und ist regelmäßig auf Partys und betrunken!!

Nun ja, ich bin jetzt in Finnland und hatte bis jetzt nur zu meiner Mutter ein wenig Kontakt und so gut wie gar keinen zu meinem Vater und meiner Schwester. Mein Vater und meine Schwester wollten sich auch nicht am Flughafen von mir verabschieden. Sie kamen ja nicht einmal mit dahin.

Anfangs war ich richtig angepisst, da ich in einer Kleinstadt mit 4000 Einwohnern gelandet war, die zum größten Teil aus Wald besteht. Ich komme aus einer Stadt mit fast 2 Millionen Einwohnern. Das Klima fand ich anfangs auch grauenhaft, da es nie wärmer wird als 20 Grad und dass die Sonne um 3 Uhr morgens aufgeht und mich beim Schlafen stört. Zudem bin ich kein Waldmensch, sondern brauche eine Stadt um mich herum, zumindest dachte ich das. Meine Großeltern verachteten mich von Anfang an nicht. Sie hielten mir nicht meinen schlechten Abschluss und meine Drogen- und Alkoholexzesse vor. Natürlich erlauben sie mir nicht, zu trinken und rauchen, aber ich möchte es auch nicht mehr. Ich habe endlich sowas wie Ruhe. Ich bin gerne zu Hause und möchte nachts nicht mehr draußen sein. In meinem Zimmer kann ich entspannen, ohne Angst zu haben, dass sich wieder jemand schlägt oder dass mein Vater betrunken in mein Zimmer kommt. Meine Großeltern lassen mir auch sehr viel Freiraum, was mich sehr verwundert. Ich darf essen kommen wann ich möchte, es gibt keine festen Zeiten und ich darf bis zum Sonnenuntergang draußen bleiben, das wäre immerhin bis Mitternacht der Fall und ich komme meist viel früher nach Hause. Sie haben nie meine Fehler erwähnt, oder darüber gesprochen.

Ich überlege, ob ich ihnen von meiner Situation zu Hause erzählen soll, da sie ja denken, dass ich das einfach so mache, sie können es ja nicht wissen. Vielleicht wäre das auch gut für meine Mutter, das sind ja schließlich ihre Eltern.

Außerdem hat sich meine Schwester gestern überraschenderweise zum ersten Mal nach unserem Streit bei mir gemeldet. Sie erzählt, dass sie meine Eltern wieder schlagen und dass mein Vater wieder besoffen ist und dass sie ohne mich sehr viel Angst habe. Ich hab versucht, sie zu beruhigen und ich wünschte, sie wäre bei mir. Sie ist ja meine Schwester und ich will nicht, dass es ihr weiterhin so beschissen geht und dass sie wie ich auf die schiefe Bahn gerät. Ich möchte aber auch nicht mehr zurück nach Deutschland. Ich habe gar kein Heimweh. Ich vermisse zwar meinen besten Freund, aber übers Internet haben wir noch Kontakt miteinander. Ich fühle mich richtig wohl bei meinen Großeltern und möchte nach dem einen Jahr, dass ich hier verbringe, nicht zurück in den Chaos. Es macht mir eigentlich Spaß, finnisch zu lernen und die Menschen hier sind auch sehr freundlich. Keiner macht sich über mich lustig, weil ich ,,feminin" aussehe. Viele sehen mir sogar ähnlich. Ich habe viel weniger Stress hier und ich habe keine Suizidgedanken mehr, die ich früher durchgehend hatte. Ich fühle mich einfach richtig wohl. Ich möchte hier auch gerne, wenn ich die Sprache besser beherrsche, meinen Schulabschluss nachholen, da ich mit so einem Schnitt gar keine Berufschancen habe. Ich möchte nicht, dass nach einem Jahr alles wieder so wird wie früher!

Entschuldigt, dass ich einen so langen Text geschrieben habe, der zum größten Teil nur meine Lebensgeschichte beinhaltet, die eigentlich niemand interessiert, aber irgendjemanden musste ich es erzählen...

Was soll ich machen?

Dana Anwort von Dana

Lieber Lucijan!

Es ist falsch zu denken, dass keinen deine Lebensgeschichte interessiert. Es ist oft hochinteressant, was Menschen so alles erleben...vor allem Menschen, die noch nicht so alt sind. Deine Geschichte IST interessant, obwohl interessant vielleicht das falsche Wort ist...sondern eher "alarmierend und traurig".

Im Prinzip hast du für deine Person jetzt erst einmal alles richtig gemacht. Du hast eine bewegte Vergangenheit hinter dir, mit häuslicher Gewalt, mit Schwierigkeiten im Familienleben, mit Exzessen, die du wahrscheinlich brauchtest, um einfach mal auch innerlich "raus" aus allem zu kommen...und man sieht ja, dass deine Schwester dir nachzieht. Das familiäre Umfeld scheint sehr schlimm zu sein - und deine Eltern sind überfordert. Du hast es richtig gemacht, du hast dich aus ihrem Kreis entfernt und bist zu deinen Großeltern gegangen. Du merkst ja selbst schon jetzt, dass es das Richtige war, dass es dir dort sehr gut geht. Es ist schön, dass deine Großeltern dir die Möglichkeit gegeben haben, bei ihnen zu wohnen.

Und ganz ehrlich, du hattest gefragt, was ich machen würde: in einer ruhigen Minute, wenn ich mich so richtig eingewöhnt hätte, würde ich mit den Großeltern sprechen, ob sie eine Möglichkeit sehen, auch die Kleine zu holen. Das Umfeld ist in Finnland einfach das eindeutig bessere und ihr würdet beide einfach zur Ruhe kommen. Es mag allerdings sein, dass deine Schwester die Notwendigkeit noch nicht sieht. Ich würde es zumindest thematisieren und im Gespräch mit deinen Großeltern bleiben. Erzähle ihnen, was alles bei euch daheim los ist und ich hoffe, sie hören dir genau zu.

Wenn deine Schwester mit 13 schon so auftritt als sei sie 18, ist das absolut ungut. Sie geht einen ähnlichen Weg wie du, versucht anscheinend, sich dieses Umfeld und die häusliche Gewalt "wegzubetäuben", indem sie Dinge tut, die ihr kurzweilige Abwechslung und Flucht gewähren. Du hast jetzt das Glück, dass du dich auf dich selbst besinnen kannst, dass du Ruhe und Frieden hast, dass du "ankommen kannst"...und zurück zu deinen Wurzeln finden kannst. Ich gönne es dir von Herzen. Genieße das und nutze alles, was geht, um dir den Weg zu schaffen, den du gehen möchtest. Und vielleicht gibt es irgendwann die Möglichkeit, deiner Schwester dasselbe Gute zu schenken, das du jetzt geschenkt bekommst.

Deine Großeltern sind toll...sie erkennen, dass du viel mehr bist als deine früheren Fehler. Und anscheinend schaffen sie es und auch dein neues Umfeld, dass du es erkennen lernst - und dich toll weiter entwickelst. Und warum solltest du dann nach Hause zurück müssen? Wenn ich richtig rechne, bist du dann 18 und kannst selbst entscheiden, wo du wohnen möchtest. Du hast ein Ziel: die Sprache beherrschen, den Schulabschluss nachholen, eine Ausbildung beginnen. Das ist doch toll! Endlich bist du im Leben da angekommen, wo du ankommen wolltest, hast einen geordneten Weg und wirst sicher Erfolg haben, weil du siehst, worauf es ankommt.

Ich hoffe nur, es gibt einen Weg, deine Schwester ebenfalls in sichere Bahnen zu bekommen. Sprich mit deinen Großeltern darüber, was für Möglichkeiten sie da sehen und baue den Kontakt zu deiner Schwester aus. Du hast gemerkt, wie schön es ist, nicht für Fehler angemacht zu werden und so angenommen zu werden, wie man ist. Versuche, dies bei deiner Schwester umzusetzen. Mach sie nicht blöd an für das, was momentan so mit ihr los ist (früher Sex, wilde Parties, Alk), sondern versuche herauszubekommen, was sie mag, wofür sie wirklich arbeiten würde, was ihre Ziele sein könnten...und wo ihre Stärken liegen. Nähere dich ihr an, erlange ihr Vertrauen...und dann bring das Thema darauf, wie gut dir Finnland tut. Genauso können deine Großeltern sie einladen (erstmal zum Urlaub oder so) und vielleicht habt ihr so eine Chance, sie in eure Kreise zu holen.

Häusliche Gewalt ist ein Fall fürs Jugendamt und die Erziehungshilfe...sollten also alle Stricke reißen, kannst du dich auch an die Ämter wenden. Aber erst einmal schau, dass es DIR wirklich gut geht und dass du deinen momentan so erfolgreichen Weg weiter ausbauen kannst. Es ist toll, dass es noch "Fälle" gibt, die eine tolle Chance bekommen und diese erkennen und wahrnehmen. Da kannst du stolz auf dich sein. Und auch darauf, dass du dich um deine Schwester kümmerst, die dir wichtig ist. Finde ich ebenso gut!

Ich wünsche dir viel Erfolg bei dem, was du tust!

Alles Liebe,

Dana