Anwort von PaulG

Grüße dich,

mein großes Beileid wegen dem, was mit deiner Freundin geschehen ist! Dass du um sie trauerst, ist gut und wichtig. Jedoch nicht, um noch weiter in deine Schuldgefühle zu rutschen - sondern auch, damit das Leben einmal weitergeht. Es ist nicht einfach sich das zu sagen, wenn man gerade den Menschen verloren hat, der einem am wichtigsten war. Aber sieh doch mal: Bist du nicht davon überzeugt, dass es ihr, wo immer sie jetzt ist, gut geht? Dieser Meinung bin ich auch. Gleich wo das sein mag, aller Schmerz aus diesem Leben ist dort vergessen. Glaubst du wirklich, sie wäre dir weiterhin gram wegen irgendetwas, das vor ihrem Tod passiert ist? Glaubst du wirklich, sie würde dir die Schuld an ihrem Tod geben - obwohl du überhaupt nicht wissen konntest, was passieren würde? Obwohl ihr Tod das Letzte war, was du gewollt hättest?

In dem Moment, als ihr euch an dem schicksalhaften Abend getrennt habt, hätten mehrere Dinge passieren können. Vielleicht wärst du mitgegangen - vielleicht hättest du sie zurückgehalten. Oder ihr hättet beide den Zug bemerkt, denn vielleicht hätte sie ja mit dir keine Kopfhörer aufgehabt. Vielleicht - vielleicht hätte es euch aber auch beide getroffen. Ich weiß nicht, ob du wusstest, dass zu diesem Zeitpunkt gleich ein Zug kommen musste; selbst wenn das so war, hättest du nicht ahnen können, dass ausgerechnet an diesem Abend, ausgerechnet jetzt, ausgerechnet deine allerbeste Freundin ihr Leben verliert. Warum? Ganz einfach: Weil es, wie schon gesagt, dass absolut Letzte war, was du gewollt hast, weil du dir nicht mal im Traum ausmalen wolltest, sie wäre nicht mehr da. Dadurch, dass dir der Gedanke so fern lag, konntest du auch an diesem Abend nicht darauf kommen - nicht, weil du verantwortungslos warst. Du wolltest die Abkürzung nicht nehmen, das war dein gutes Recht. Was auch immer dich dazu bewogen hat - die Folgen konntest du nicht wissen. Und wie ich bereits sagte: Es wird niemand je wissen, wie es gekommen wäre. Weißt du, ob sie wirklich unachtsam war? Oder ob es vielleicht nur ein tragischer Zufall war, ein winziger Moment, den der Fahrer des Zuges gezögert hat? Selbstverständlich ohne Absicht. Entsetzen tragen auch alle, die bei diesem Unfall dabei waren, und niemand, absolut niemand hat gewollt, dass es geschieht. Was ich dir damit sagen will: Weil du nicht wissen konntest, was passiert, weil du ohne böse Absicht und mit gutem Recht entschieden hast, auf die normale Art heimzugehen - deshalb trifft dich keine Schuld.

Glaubst du nicht, dass deine Freundin dich gerade beobachtet? Wenn ja, was macht dich so sicher, dass sie wütend ist? Glaubst du nicht, dass sie sich ebenfalls grämen könnte, weil du ohne Grund solchen Schmerz erleidest? Es ist wichtig, um einen geliebten Menschen zu trauern - aber Schuldgefühle bringen dich nicht weiter. Schon gar nicht, wenn sie unberechtigt sind. Ich kann dich verstehen - aber glaubst du nicht, dass deine Freundin froh ist, dir allein vorausgegangen zu sein? Immerhin bleibt damit euren Lieben auf dieser Erde noch eine von euch erhalten! Sie ist jetzt geborgen; sie weiß, dass ihr euch einmal wiedersehen werdet. Und dein ganzes Leben, das dir noch bevorsteht, ist für sie nur eine kurze Weile. Sorge dich also nicht - ich bin sicher, dass sie dir nur das Beste wünscht. Und dass sie erleichtert ist, dass nicht auch noch deine Familie um jemanden trauern muss; dass eure Familien nicht in Streit geraten, weil beide ihre Tochter verloren haben. Stattdessen lebst du - und du wirst deine Freundin immer im Herzen tragen. Dieses Herz wird immer eins sein mit ihr, schon bevor ihr wieder zusammen trefft. Bis dahin: Glaubst du nicht, sie wünscht dir, dass du frohen Mutes deinen Weg ins Leben gehst? Ich bin sicher, sie tut es. Und ich wünsche dir viel Kraft auf deinem Weg, Mut, und Selbstachtung. Bewahre dir die Liebe, und übertrage sie auf alle, die dir wichtig sind. Deine Freundin ist gestorben, aber damit ist sie nur für einen kleinen Zeitraum von dir entrückt, mit den Maßstäben des Himmels gemessen. Bewahre die Liebe - und sie wird trotzdem niemals fern sein.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul