Problem von Lisa - 14 Jahre

Viel zu schüchtern

Hallo, ich hab schon mein ganzes Leben eigentlich ein ziemlich großes Problem mit mir. Ich bin sehr sehr schüchtern. Ich bin mir nicht mal mehr sicher ob das noch normal ist. Heute erst wollte ich mir einfach nur ein Buch kaufen. Kaum stehe ich an der Kasse fangen meine Hände an zu zittern und ich lasse mein ganzes Geld fallen. Sogar eine nette Frau hat mir geholfen alles aufzusammeln aber mein Danke ist mir dann auch im Hals stecken geblieben. Es war einfach nur peinlich. Einen Freund hatte ich auch schon mal. Ich war wirklich froh und habe ihn auch umarmt. Da war ich schon stolz auf mich, aber er hat bald wieder Schluss gemacht, da er nicht mit meiner Schüchternheit klar kam, hat er gesagt. In der Schule bekomme ich Panik wenn der Lehrer mich dran nimmt und meine Stimme versagt total. Ich war schon mit meiner Mutter bei einem Therapeut, aber das hat mir auch nicht weitergeholfen. Meine Eltern sind genervt von meinem nicht- vorhandenen-Selbstbewusstsein und meine Freunde verstehen mich auch nicht wenn ich sie frage ob sie mal hier und da mitkommen weil ich mich nicht alleine traue. Ich verkrieche mich nur noch in meinem Zimmer da ich einfach nicht mehr weiter weiß.

Florian Anwort von Florian

Hallo Lisa,


ich kenne Dein Problem und litt seit meines Lebens (ich bin jetzt 24) bis vor einigen Monaten an einer starken sozialen Phobie, welche sich eben durch eine solche Schüchternheit und fehlendem Selbstvertrauen ausdrückt, wie Du sie beschrieben hast. Mittlerweile ist diese Phobie austherapiert und ich kann mich frei mit Menschen unterhalten und habe sogar bereits einen Auftritt vor mehr als 200 Leuten über ein Improvisationstheater hinter mir. Ich hoffe daher Dir mit meinen Erfahrungen vielleicht ein wenig weiterhelfen zu können.


Beginnen wir vielleicht ersteinmal mit dem Verständnis davon was Dich überhaupt bringt dazu zu handeln, wie Du handelst. Also Dich zurückzuziehen, an der Kasse zu zittern, kein Danke herauszubekommen etc. Dabei handelt es sich um ein Verhaltensmuster, also ein Verhalten das Du gelernt hast und nun in sozialen Situationen immer wieder anwendest. Ausgelöst werden diese durch bestimmte Annahmen und Vorahnungen. Etwa "Oh mein Gott, ich werde mich gleich blamieren!" oder "Warum sollte das was ich zu sagen habe, jemanden interessieren?" oder "Wenn ich das tue/sage, werden mich alle auslachen oder mich kritisieren!".
Bei diesen Annahmen handelt es sich um Sätze dieser Art, die Du jedoch nur annimmst, ohne sie je ausreichend geprüft zu haben. Wahrscheinlich wurdest Du als Kind einmal ausgelacht, als Du etwas gesagt oder getan hattest. Das hast Du Dir so stark gemerkt, dass die unzähligen Male in denen Du ohne ausgelacht zu werden, dass gleiche gesagt oder getan hast vollkommen vergessen hast. Wir merken uns nuneinmal leichter Fehler oder das was wir als Fehler halten. Ausgelacht zu werden wird wiederum von uns als etwas wahrgenommen, was wir nur von Fehlern kennen. Ob das tatsächlich ein Fehler war, können wir als Kind dabei noch gar nicht wirklich beurteilen. Daher kann diese frühe kindliche Erfahrung auch durchaus falsch gewesen sein.
Um es einfach zu sagen: Wir erkennen manchmal etwas als Fehler an, was kein Fehler war, handeln aber so als wäre es einer gewesen. Da wir keine Fehler wiederholen wollen, kommt eine gewisse Angst auf wenn wir uns in ähnlichen Situationen befinden. Sie soll uns vor dem Fehler warnen. Dabei fängt man gerne an zu zittern, Wörter bleiben im Hals stecken und wir fangen an diese Situationen immer mehr zu vermeiden.

Das alles wäre kein Problem, wenn diese Angst gerechtfertigt wäre. Doch soziale Ängste und damit auch Schüchternheit ist nur begrenzt gerechtfertigt. Tatsächlich hast Du schon mitbekommen, dass Du nicht ausgelacht wirst wenn z.B. Dein Geld aus der Hand fällt. Im Gegenteil Dir wird sogar noch geholfen. Das ist tatsächlich sogar die Regel. Wir würden einen Menschen der nicht hilft, als unhöflich betrachten. Und einen Menschen der die Frechheit besitzt darüber zu lachen als gemein bezeichnen. Und es ist im Übrigen auch keine Seltenheit das Geld einem Menschen herunterfällt. Als Kassierer kann ich das jeden Tag mehrmals beobachten.
Du musst Dir absolut keine Sorgen machen irgendwie unnormal zu sein. Es ist normal, wenn man Angst hat zu zittern. Es ist normal wenn einem die Situation peinlich ist keine Worte heraus zu bekommen. Es ist normal wenn man unverhofft vom Lehrer aufgerufen wird erstmal nicht zu wissen was man sagt, es in zu leiser Lautstärke von sich zu geben oder gar vollkommenen Stuss zu erzählen. Es ist auch vollkommen normal Dinge falsch zu tun, falsch zu sagen oder sonstwie falsch zu handeln. Kein Mensch ist zu 100% perfekt, auch wenn es bei manchen vielleicht so erscheinen mag. Genau so wenig kannst Du 100% perfekt sein und es kann auch niemand von Dir verlangen. Weder Freunde, Eltern, Lehrern oder irgendwelche unbekannten Personen. Lass Dir da blos nie etwas anderes einreden.

Denn der Grund geringen Selbstvertrauens fußt erstmal auf der langen Liste von Fehlern die man an sich selbst sieht oder von anderen über sich mitgeteilt bekommt. Wer sich täglich rund um die Uhr mit seinen Fehlern beschäftigt, wird letztlich nur nach Fehlern suchen. Doch das ist der komplett falsche Ansatz. Die Frage ist nicht was Du falsch machst oder was Du nicht kannst. Die Frage ist was Du richtig machst und kannst. Wo Deine Stärken und Talente liegen. Und glaube nicht da Du keine hättest. Jeder Mensch hat seine Fähigkeiten, seine Interessen und Leidenschaften die diesen Menschen zu etwas so Einzigartiges machen. Genauso ich und genauso auch Du.


Um daran zu kommen, was Dich ausmacht und bewegt, ist eines sehr wichtig: Offenheit. Du darfst Dich nicht verkriechen und die Außenwelt aus Deinem Zimmer aussperren. Denn in der Außenwelt liegen gerade die Antworten die Du benötigst. Das was Dir Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein gibt findest Du nicht in Deinem Zimmer. Du findest es beim Rausgehen. Beim Experimentieren mit Deiner Umwelt. In Gesprächen mit anderen. Im Handeln mit anderen. Kurz: Im offenen Umgang mit dem was Du draußen finden wirst.
In einem relativ späten Stadium meiner Therapie erkannte ich: Wenn ich offen auf die Welt zugehen passiert mir nichts. Ich kann rausgehen und mich sicher fühlen. Ich kann auf Menschen zugehen und meine Geschichte erzählen und die lachen nicht über mich oder kritisieren mich. Im Gegenteil sie fangen an mir ihre Geschichten zu erzählen und teilten ihr Leid mit mir. Als ich anfing rauszugehen und mich den Menschen zu- statt abzuwenden, erkannte ich: Jeder hat seine Probleme und seine Sorgen. Jeder leidet auf seine Weise. Ich bin mit meinen Problemen absolut nicht alleine.
Und ab einem gewissen Zeitpunkt konnte ich von der Außenwelt nicht mehr genug bekommen. Plötzlich konnte ich auf Partys gehen und feststellen das sie auch nach wie vor nichts für mich sind. Aber die Unterhaltungen am Rande der Partys waren überaus interessant. Plötzlich traute ich mich mich einer mir unbekannten Gruppe von Bowlern anzuschließen. Mittlerweile sind es sehr gute Freunde. Plötzlich traute ich mich zu einer Improtheatergruppe zu gehen und mich jede Woche vor rund 30 Leuten zum Affen zu machen. Auch sie zählen mittlerweile zu meinen guten Freunden und Bekannten. Und ganz plötzlich findet man sich auf einer Bühne vor 200 Menschen wieder, aber man denkt gar nicht wirklich daran, sondern improvisiert wie sonst auch und erntet dafür Applaus.
Einen solchen Wandel von "Menschheit bleib mir ja fern" hin zu "ich liebe es in Gesellschaft zu sein" bzw. von "Ich halte besser meinen Mund" hin zu "Das ist meine Meinung und die vertrete ich jetzt" ist kein Wandel der leicht und mal eben vollziehbar war. Aber es ist ein Wandel der machbar ist. Nur mit entsprechender Offenheit.


Um einen solchen Wandel vollziehen zu können, solltest Du mit kleinen Schritten und einfachen Situationen anfangen. Etwa wenn Du zu Fuß unterwegs bist, Menschen zu grüßen die Dir begegnen (ohne gleich ein Gespräch anfangen zu müssen - "Guten Tag" und weitergehen reicht vollkommen aus). Wenn Du an der Kasse bist der Kassererin noch einen schönen Tag wünschen. Im Supermarkt einfach mal nachfragen wo man etwas findet (auch wenn man es vielleicht schon weiß).
Achte dabei auf die Reaktionen der anderen und auch auf das Gefühl bei Dir. Es wird etwas dauern, aber mit der Zeit fällt Dir das immer leichter. Außerdem wirst Du bemerken, dass die meisten Menschen recht freundlich darauf reagieren. Ok, manch einer reagiert vielleicht auch gar nicht, aber das lässt keine Rückschlüsse auf Dich zu. Wenn man mit schlechter Laune unterwegs ist, kann einen auch manchmal das freundlichste "Guten Tag" nicht aufheitern und zu einer Reaktion bewegen.
Versuche Dir auch bewusst zu machen wie viele dieser sozialen Interaktionen Du durchgeführt hast. Führe z.B. eine Strichliste. Jeder Strich bedeutet eine gemeisterte soziale Situation. Oder nimm ein Glas mit Kieselsteinen, Murmeln oder etwas vollkommen anderem. Wie du es auch immer lieber magst. Hauptsache Du kannst am Ende des Tages erkennen wie viele Situationen Du absolviert hast. Das hilft Dir dabei zu realiseren, dass es durchaus viele werden können. Ich habe etwas ähnliches gemacht und war von meinem Tagessaldo an einigen Tagen schon mehr als überwältigt.
Mit der Zeit kannst Du den Schwierigkeitsgrad hochschrauben und schwierigere soziale Situationen auf die gleiche Art angehen. Mache Dir damit aber nicht zu viel Stress und gönne Dir ruhig etwas Zeit. Wenn Du merkst, dass Dir die Übung zu einfach wird gehe eine Stufe höher. Merkst Du sie wird zu schwierig kannst Du ruhig auch für eine Zeit wieder eine Stufe runtergehen.


Was auch hilft: Gönn Dir was. Mache etwas was Du am liebsten machst. Esse etwas was Du am liebsten isst. Belohne Dich selbst, auf die weise wie es sich für Dich als Belohnung anfühlt. Auch wenn, oder gerade wenn, Du einen schlechten Tag hattest und vielleicht darum auch nicht so viele soziale Situationen gemeistert hast. Damit wertschätzt Du Dich selbst und Du wertschätzt das Du an Dir arbeitest. Und das ist absolut das was Du verdienst. Bereits jetzt schon. Schließlich hast Du bereits versucht daran zu arbeiten und Du hast Dich hier an uns gewandt. Auch das verdient Anerkennung und Belohnung.
Ich habe mit dem mich selbst belohnen am Anfang immer ein Problem gehabt. Schließlich bin ich von der Persönlichkeit her so gestrickt: Wenn ich es in der Hand habe mich zu belohnen, dann belohne ich mich doch schon vorher. Tatsächlich steht dem nichts im Wege, solange man trotzdem weiter an sich arbeitet. Denn wenn man es nicht tut, dann bekommt man direkt ein schlechtes Gewissen sich die Belohnung schon vorher eingeheimst zu haben. Bevor man sich dann wieder verkriecht mit den Worten "Ich habe das nicht verdient", muss man sich bewusst machen: Doch, ich habe es verdient und ich genönne mir das auch jetzt. Das ist sogar sehr wichtig, denn so kann man auch sein Selbstvertrauen steigern. Warum sollte einen auch andere Erfolge anerkennen, wenn man sich selbst diese nicht anerkennt? Warum sollte einen einer wertschätzen, wenn man es nicht selbst tut? Daher ist die Belohnung eine Form der Wertschätzung und damit auch eine Form das Selbstvertrauen zu steigern. Und das wiederum hilft auch bei der oben beschriebenen Übung Fortschritte machen zu können und schließlich auch in seinem ganzen Handeln und Denken diese Fortschritte zu übernehmen.


Das waren soweit alle Ratschläge die ich Dir mit auf den Weg geben möchte. Zuletzt möchte ich Dir auch noch anbieten, sofern Du das Gefühl hast es würde Dir helfen, mich gerne jederzeit wieder über den Kummerkasten zu kontaktieren und vielleicht auch von Deinen Erfolgen oder Misserfolgen zu erzählen. Vielleicht hast Du noch mehr Fragen oder steckst mit Deinem Problem irgendwo besonders fest. Ich wäre auf jeden Fall dazu bereit Dich weiter zu unterstützen.

Alles Gute

Florian