Problem von Anonym - 17 Jahre

Warum bin ich nicht glücklich?

Ich habe alles um glücklich zu sein. Einen wundervollen freund der mich liebt, eine liebevolle mutter die alles für mich tun würde, freunde mit den ich etwas unternehmen kann. Aber ich bin einfach nicht glücklich. Ich kann es mir nicht erklären und schiebe es deswegen immer auf meine Depressionen. Ich habe auch schon verschiedene dinge wie klinik, Psychologen, Psychiater, Selbsthilfegruppen und Antidepressiva ausprobiert, aber nichts hat geholfen. Ich möchte doch nur glücklich sein und verstehe nicht warum ich es nicht bin.. So lange es mir so geht stehe ich mir auch sonst selbst im weg. Ich fange wieder an schule zu schwänzen, obwohl ich eigentlich nächstes Jahr meinen abschluss machen wollte.. Ich vernachlässige meine aufgaben und sitze stattdessen nur zuhause rum weil ich mich nicht in der Lage fühle etwas zu tun.

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

ich zäume das Pferd mal von hinten auf und erzähle ein bisschen von mir.

Im Augenblick kommen viele Flüchtlinge nach Deutschland. Wenn ich mich so mit ihnen vergleiche, geht mir auf, wie gut ich es eigentlich getroffen habe: Ich habe nicht nur eine schöne Wohnung und genug zu essen, sondern auch eine Familie mit Eltern, die mich lieben, und die - was auch nicht so häufig ist - nach gut 27 Jahren Ehe noch immer ein glückliches Paar sind. Ich habe zwei Geschwister, zu denen ich ein gutes Verhältnis habe, ich darf bald das Studium anfangen, das ich mir gewünscht habe, und bekomme dafür die Unterstützung meiner Eltern. Ich habe Freunde, die mich verstehen, ich lebe sicher und frei und - ich bin gesund. Wir besitzen nicht so wenig, dass wir von vorne bis hinten haushalten müssen, aber auch nicht soviel, dass man uns beneidet und uns distanziert begegnet.

Fazit: Ich bin der glücklichste Mensch der Welt! Ich habe alles, wovon etwa 95 % der restlichen Menschheit nur träumen kann.

Frage: Warum bin auch ich dann manchmal unglücklich? Oder öfter, als es mir lieb ist?

Man kann vom Glück begünstigt sein, und trotzdem unglücklich. Man kann zufrieden sein, und trotzdem tieftraurig. Das ist kein Widerspruch, wenn man bedenkt, dass das Glück nicht nur an materiellen Dingen und äußeren Umständen hängt. Glück hat auch etwas damit zu tun, ob man ein Ziel hat, eine Aufgabe; ob man gerade im Aufbruch ist, oder das Gefühl hat, um einen herum hätte sich alles festgefahren. Ob man an etwas arbeitet, das Leben in Bewegung ist, oder ob man sich die bange Frage stellt: Soll das alles gewesen sein?

Du bist noch jung - so wie ich auch, Gott sei Dank - und gerade deswegen solltest du dir nicht vorhalten, dass du doch keinen Grund hättest, unglücklich zu sein. Du hast geschrieben, dass du bereits in einer Klinik gewesen bist, Therapie und Medikamente dir nicht fremd sind; ich gehe mal davon aus, du hast diese Dinge nicht aus Lust und Laune ausgetestet, oder weil du allgemein unglücklich warst. Sondern weil es Probleme gab, die bewältigt werden mussten? Die Depression hast du ja selbst genannt. Also kann ich davon ausgehen, dass es dir im Leben bisher nicht immer leicht gemacht worden ist. Wenn die Dinge, die dich damals beschäftigt haben, besser geworden sind, dann ist das ja schon mal ein großer Fortschritt, auf den du stolz sein darfst. Nichtsdestotrotz: Lass es dir nicht unangenehm sein, wenn du hinterher - jetzt - halb erstaunt, halb zu Tode betrübt bist, wenn alles dir irgendwie unfertig und unrichtig vorkommt. Es steht weder im Widerspruch dazu, dass du deinen Freund und deine Mutter liebst und deine Freunde schätzt, noch dazu, dass es dir (rein äußerlich betrachtet) gut geht. Es ist schlicht und ergreifend ein Zeichen, dass sich etwas bewegen soll, dass du auf der Suche bist, Dinge hinterfragst und manchmal am Sinn in allem zweifelst. Das ist nicht schlecht, sondern vielmehr kann es sehr produktiv sein.

Glaubst du wirklich, dass du nicht in der Lage bist, etwas zu tun? Oder ist es so, dass das, was du eigentlich gerade tun solltest, irgendwie zuwider ist? Du fühlst dich antriebslos; ist das vielleicht, weil dir ein Antrieb fehlt? Hast du ein Ziel im Leben? Was willst du mit diesem deinen Leben anfangen? Das kann durchaus die Frage sein. Wenn du nämlich lauter Dinge vor dir hast, "die du doch eigentlich tun wolltest" - oder anders ausgedrückt, die jetzt eigentlich gut wären -, dann fühlst du dich dir selbst fremd. Es stimmt auch: Wenn du etwas tust, etwas im Fluss ist, kannst du auch den Depressionen am besten entgegen wirken. Jedoch ist es nicht verkehrt, wenn du dich nicht ins Erstbeste stürzt, sondern auch einen Entschluss fasst, was du erreichen möchtest

Die Schule zu schwänzen, ist zwar nicht gut. Aber ich werde dir jetzt auch keine Moralpredigt halten, weil das einfach unnötig ist. Du weißt selbst sehr gut, das von deinem Schulabschluss Einiges abhängt, und es nicht unbedingt geboten ist, das schleifen zu lassen; dass es trotzdem so passiert, ist allerdings kein Verbrechen. Ich werfe es dir nicht vor. Ich muss aber auch sagen: Nur du kannst wirklich etwas ändern, dich aufraffen, dir einen Sinn geben.

Was ist dieser Sinn? Was hast du für Wünsche? Was für Ziele? Betrachte es als spannende Aufgabe, für die du dir etwas Zeit nehmen solltest: Was will ich? Denn solange du das nicht weißt, wird alles sich irgendwie ungut anfühlen, was du tust oder tun sollst. Damit signalisiert dir dein Innerstes: Ich will nicht nur irgendetwas tun, ich will es für mich tun; ich will von dir erfahren, worauf du mein Potenzial gerichtet hast. Und diese Stimme solltest du nicht überhören.

Was wird das sein? Ein neues Hobby? Deine Wunschausbildung oder -Studium? Eine Liste der Dinge, die du noch tun, sehen und erleben willst? Niemand kann es dir sagen, außer du dir selbst. Aber die erste Erkenntnis, die wichtig ist, hast du bereits gemacht: Zwar lebst du gut, aber leben und für etwas leben, das ist ein Unterschied. Traust du dir zu, diesen Stein hinwegzuheben, und dir eine Richtung zu geben? Ich tue es, und ich glaube, dann könnte es dir auch besser gehen.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul