Problem von Anonym - 31 Jahre

Beruflicher Stillstand

Hallo zusammen,
ich erhoffe mir einen Rat von Euch bzw. eine ehrliche Meinung von Bernd.

Hallo Bernd,
erstmal möchte ich mich als "stiller Leser" der hier geteilten Probleme outen. Ich ziehe aus den Antworten oft Lösungen für meine eigenen mehr oder minder schweren Probleme.

Kurz zu meiner Situation. Ich bin seit >5 Jahren Angestellter bei einem größeren Konzern. Außerdem bin ich seit etwa 5 Jahren verheiratet und somit nicht nur für mich alleine "verantwortlich".

In meinem aktuellen Job fühle ich mich schon seit längerem nicht mehr wohl. Es ist eintönig und durch einen hohen Grad der Standardisierung (den ich zur Effizienzsteigerung selbst herbeigeführt habe) ist es sehr langweilig und unterfordernd. Meinem Chef fehlt zudem die Kreativität, mich anderweitig einzusetzen. Ich liefere immer wieder neue Ideen zur Weiterentwicklung aber stoße damit selten auf Gegenliebe.

Allerdings sind meine Kollegen wahnsinnig toll. Ich rette mich von Tag zu Tag eigentlich durch die Arbeit, um die Mittagspause mit meinen mir sehr liebgewonnenen Kollegen zu verbringen. Ab und zu machen wir auch nach der Arbeit oder am Wochenende privat etwas zusammen.

Irgendwie kommt es mir so vor als hätte ich innerlich mit dem Unternehmen bereits abgeschlossen. Meine Arbeitsleistung wird gefühlt immer schlechter. Das ist absolut nicht mein Anspruch und daher ärgert es mich selbst sehr stark. Es ist also weniger ein Stillstand als vielmehr ein langsames, rückwärts den Berg runterrollen. Vielleicht sollte ich also was an meiner beruflichen Situation ändern. Sagte ich "vielleicht"? Ich meine "bestimmt"!

Aber halt!

Verlasse ich das Nest, in dem ich "unersätzlich" bin und in dem ich mich mit den anderen Vögeln gut verstehe?
Gebe ich es auf für eine unsichere Zukunft? Ich bin nicht auf den Kopf gefallen aber jede berufliche Veränderung birgt das Risiko zu scheitern.
Was würde denn tatsächlich passieren, wenn ich z.B. die Probezeit in einem anderen Unternehmen nicht bestehe oder feststelle, dass es die falsche Entscheidung war?

Privat bin ich sehr gefestigt und meine Frau ist ein großer Rückhalt für mich, wenn irgendetwas ist. Gleichzeitig bin ich natürlich auch ihr größter Rückhalt - aber was wenn wir durch meine "ohne Not" herbeigeführte Entscheidung z.B. in finanzielle Schieflage geraten?

Aktuell verdiene ich sehr gutes Geld. Besonders wenn man bedenkt, welchen Arbeitsaufwand ich dem entgegenstelle. Erfüllend ist der Job jedoch nicht.

Privat bin ich sehr ausgeglichen, trage auch keine beruflichen Probleme mit nach Hause - daher auch meine Zweifel, im schlimmsten Fall alles zu opfern, für die Chance in beiden Bereichen glücklich zu sein.

Ich hoffe du kannst mir einen Rat geben.
Vielen Dank.

Bernd Anwort von Bernd

Hallo Unbekannter,

eigentlich hast Du Dir schon alle Gedanken über die anstehende Entscheidung recht gründlich gemacht. Da bleibt für mich eigentlich nichts hinzuzufügen.
Gestolpert bin ich nur über Deine Frage:
"Verlasse ich das Nest, in dem ich "unersetzlich" bin und in dem ich mich mit den anderen Vögeln gut verstehe?"
Allerdings schwingt in der Frage genügend Ironie mit, dass es eigentlich den Hinweis nicht braucht: wirklich "unersetzlich" sind wir auf keinem Posten! Und wenn ich weiter vorne lese:
"Es ist eintönig und durch einen hohen Grad der Standardisierung (den ich zur Effizienzsteigerung selbst herbeigeführt habe) ist es sehr langweilig und unterfordernd."
.... dann scheint es ja geradezu ein Teil Deiner Aufgabe zu sein, auch Dich selber "überflüssig" zu machen?
Was ich nur sagen will: in unserer heutigen Zeit ist selbst der sicherste Arbeitsplatz nur eine Fiktion. Eine Idee an die wir uns gerne klammern, weil wir irgendwo auch nach Sicherheit streben.
Die Idee, neue Aufgaben und Herausforderungen zu suchen, ist grundsätzlich einmal positiv.
In gewissem Maße ist Flexibilität in unserer heutigen Unternehmenslandschaft sogar Überlebens wichtig.

Aber daraus einen Rat zu stricken, traue ich mich dann doch nicht.

Eine neue Herausforderung zu suchen bringt vielleicht nicht so viel mehr an Unsicherheit, wie man vielleicht zuerst vermutet.
Aber es bringt sicherlich eine Änderung im kompletten Lebensumfeld: nicht nur neue Kollegen, sondern vielleicht auch die Notwendigkeit, dann doch Arbeit mit nachhause zu tragen. Und sei es nur in dem Sinne, dass Du vielleicht nicht mehr so leicht abschalten und die Bereiche Beruf/Privat so konsequent wirst trennen können?
Müsstest Du vielleicht einen Wohnortwechsel mit einer neuen Arbeit vorsehen?
Was hätte das für Konsequenzen für Deine Frau?
Was sagt eigentlich Deine Frau zu Deinen Gedanken?

Wenn ich mir meinen eigenen Berufsweg anschaue: nach dem Studium war ich zuerst auch in einem Konzern. Und als ich ähnliches feststellte, wie Du, streckte ich zuerst einmal meine Fühler in den Unternehmen desselben Konzerns aus:
das kann einerseits gut ankommen, weil man eine gewisse Verbundenheit zeigt und andererseits auch eine "Rückfallebene" schaffen: im selben Konzern ist es manchmal wohl möglich, dass auf "Probezeiten" verzichtet wird? Und wenn es dann doch nicht mit dem neuen Aufgabenbereich funktioniert, gibt es oft Auffangmöglichkeiten.
(Zumindest war das mein Eindruck in den zwei Konzernen, mit denen ich zutun hatte: Ruhrkohle AG und DB AG). Dort gab/gibt es einen internen Stellenmarkt, bei dem Konzernmitarbeiter wohl bevorzugt vermittelt werden.
Wie sieht das in Deinem Konzern aus?

Mein erster wirklicher Wechsel war nach etwa 6 Berufsjahren. Allerdings war ich damals nicht gebunden und konnte mit sehr viel mehr Freiheit als Du nun mit dem Bundesland auch gleich den Beruf wechseln: vom Bergmann zum Gleisbauer.
Einen Wechsel hatte ich schon früher geplant. Die Entscheidung war der Liebe wegen gefallen: danach war ich gebunden.

Im Grunde war ich glücklich auch mit dem Berufswechsel.
Was ich absolut nicht auf dem Bildschirm gehabt hatte: im Konzern war ich vielleicht einer von 100 unter 5000.
In den mittelständischen Gleisbauunternehmen einer von drei nach dem Chef.
Wenn ich im Bergbau meinem Vorgesetzten ehrlich meine Meinung sagte, achtete notfalls ein Betriebsrat darauf, dass alles seine Ordnung hatte.
Bei mittelständischen Unternehmen läuft es oft so, dass man durchaus geteilter Meinung sein darf:
der Chef hat die Meinung und alle anderen dürfen sie teilen.
Nichts für einen sturen Westfalen, der gewohnt ist, seine Meinung zu sagen :-)

(Meine erste Kündigung habe ich dem Spruch zu verdanken: "Herr .... (Chef), wenn man bei ihnen Bauleiter sein darf, muss man doch eigentlich ein clever Kerlchen sein?"
Als "Chef" das bejahte, sagte ich: "nun bin ich doch Bauleiter bei ihnen! Wie kommt es, dass sie mich einerseits für clever genug halten und ihr Büro mich für zu dämlich, auch nur meine eigene Gehaltsabrechnung lesen zu können?")
(Mein zweiter Chef kam - nachdem ein (Nachkömmling) Bruder und seine 2 Buben nahezu gleichzeitig mit dem Studium fertig geworden waren - auf die Idee: um die Gehälter der drei zu finanzieren, könnte man ja den Buchhalter auf 1/2 Job zurücksetzen, einen Bauleiter entlassen und von mir einen Gehaltsverzicht in Höhe von 25 % einfordern. Dem sagte ich, dass er "Gleisbau nach Gutsherrenart" betreibe. )
Über die Jahre gab es da einige "Patrone", die jeder ihren eigenen Führungsstil pflegten und mich nach (ebenfalls) 6 Jahren dazu brachten, mich selbstständig zu machen. Was ich heute noch bin.
Nachdem es mich vorher beruflich kreuz und quer getrieben hatte, beschlossen meine Frau und ich, dass sie mit den Kindern zumindest einen "ruhenden Pol" haben sollten: deshalb suchten wir unser "zuhause" in der Nähe ihrer Eltern.

Warum schreibe ich Dir das alles?
Ich denke nicht, dass ich etwas raten kann.
Denke auch nicht, dass Du oder irgendwer meine Erfahrungen 1/1 auf seine Situation übertragen sollte!
Ich denke nach einem recht abwechslungsreichen Leben, dass man irgendwie mit fast allen Situationen fertig werden kann:

solange Du nicht aus dem Blick verlierst, warum Du das alles tust:

Das Fundament ist Deine Partnerin, Deine Kinder: Deine Familie!

Was auch immer Du bauen willst: stimme es auf und mit dem Fundament ab!

Alles Liebe

Bernd