Problem von Anonym - 25 Jahre

Meine Mutter hält mich für eine Asperger Autistin - ich bin da anderer Meinung...

Hallo liebes Kummerkasten-Team,
das Problem von dem ich heute schreiben möchte, verfolgt mich schon sehr lange. Es fing damit an, dass ich als Kind sehr schüchtern war und nicht mit fremden Leuten sprechen konnte. Als ich einmal krank war, ging meine Mutter mit mir zum Arzt und der machte die Bemerkung, dass ich wohl „ein wenig autistisch“ sei (nur weil ich ihn nicht grüßte und in die Augen schaute). Er hat mich nicht näher untersucht oder probiert, sich vielleicht doch noch mit mir unterhalten zu können! Unsere Hausärztin, bei der wir sonst immer waren, hat übrigens niemals so etwas gesagt! Jedenfalls hat mit der unbedachten Äußerung dieses Arztes alles angefangen, denn meine Mutter hat ihm das irgendwie geglaubt. Trotzdem ist sie nie mit mir zu einem Kinderpsychologen o.ä. gegangen.
Später hat sie dann einmal einen Zeitungsartikel über das Asperger Syndrom gelesen und seitdem denkt sie, dass ich und womöglich auch mein Vater und noch einige Verwandte mit ähnlichen Charakterzügen das haben. Ich habe dann selbst angefangen, mich zu informieren und bin da anderer Meinung. Es gibt zwar einige Parallelen zwischen Asperger Syndrom und Schüchternheit, aber auch viele Dinge, wo ich gar nicht betroffen bin. Meiner Mutter sind aber nur diese wenigen Ähnlichkeiten wichtig und daran hält sie sich fest. Einmal sagte sie mir, ich solle mir eine Dokumentation ansehen, wo es um Asperger Autisten geht, denn sie habe da so viele Ähnlichkeiten zu mir bemerkt. Als ich mir den Film angesehen habe, war ich eher entsetzt, mit welchen Personen sie mich da vergleicht. Diese Menschen hatten wirklich große Schwierigkeiten in ihrem Leben, wogegen meine Probleme wegen der Schüchternheit (die sich übrigens im Lauf meines Lebens schon sehr gebessert hat) nur Kleinigkeiten sind. Ich habe mich ernstlich gefragt, was für ein Bild sie von mir hat. Auch die Tatsache, dass ich mir keine Kinder wünsche und nicht gut mit Kindern umgehen kann, ist für sie ein „Beweis“, denn sie hat einen Artikel über eine Frau mit Asperger gelesen, die sagte, sie würde das Leben mit einem kleinen Kind nicht aushalten können.
Ich frage mich, warum meine Mutter sich sogar jetzt, wo ich erwachsen bin und bald mein Studium beende, noch an dieser Geschichte festhält. Als Kind haben manche Leute ihr die Schuld gegeben, dass ich mich „nicht richtig“ verhalten habe. Das tut einem Elternteil, der sich bemüht, sein Kind richtig zu erziehen, sicher weh, aber warum muss man seinem Kind deshalb eine Beeinträchtigung andichten? Dass sie trotzdem nie mit mir einen Psychologen aufgesucht hat, ist wohl ein Hinweis darauf, dass sie die Wahrheit lieber nicht wissen und aus Selbstschutz? daran glauben möchte.
Ich war auch einmal bei einem Psychologen, der auch meinte, ich hätte das Asperger Syndrom nicht. Leider konnte er mir keinen schriftlichen „Befund“ geben. Meinen Eltern habe ich davon nichts erzählt, für sie wäre der Besuch beim Psychologen wohl eher eine Bestätigung, dass „doch etwas nicht stimmt“.
Ich selbst betrachte mich als gesunden Menschen, aber wie kann ich meine Mutter dazu bringen, dass sie das endlich auch so sieht?

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

ich muss vorausschicken: Du hattest bereits Anfragen zu ähnlichen Problemen mit deinen Eltern an uns geschickt, die leider unbeantwortet blieben. Ich hoffe, du kannst das entschuldigen. Ich denke, dass, wenn deine Mutter die Diagnose als schlüssig betrachtet, du sie schwerlich wirst davon abbringen können - es sei denn, sie gelangt irgendwann von sich aus zu der Einsicht, dass dein Leben mit dem Betroffener nur oberflächlich etwas gemein hat. Sie scheint jemand zu sein, die Gefallen daran hat, die Dinge zu benennen; immerhin können wir festhalten: Du bist als erwachsene Frau nicht gezwungen, dich auf Ansichten deiner Mutter hin in Therapie zu begeben. Das löst zwar dein Problem nicht - aber wenigstens darf es für dich bei deinem "Nein!" zu ihrer Vermutung bleiben.

Ich habe bereits einige Menschen mit Autismus-Diagnosen getroffen, und das Trickreiche ist das: "Autismus" ist ein Begriff, der schwammiger kaum sein könnte. Die Liste der Diagnosekriterien ist ellenlang, und das individuelle Profil, welche davon sichtbar sind und in welcher Schwere, ist von Person zu Person fast jedesmal sehr unterschiedlich. Hinzu kommt, dass bisher kein eindeutiger medizinischer Nachweis für Autismus gefunden werden konnte. Es steht ohne Zweifel fest, dass Autismus existiert, dass viele Betroffene sich in wesentlichen Punkten ähneln, und dass es gerechtfertigt ist, ihnen Förderung zukommen zu lassen. Jedoch heißt das umgekehrt nicht, dass jeder Mensch, bei dem man gewisse Verhaltensmuster sichtet, ein Autist sein muss. Beziehungsweise, das bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen nur auf Autisten beschränkt bleiben. Es ist tatsächlich möglich, dass ein Mensch, der sich zu einem späteren Zeitpunkt im Leben keineswegs als Autist verstehen will, als Kind eine entsprechende Diagnose erhält - während jemand, der sein ganzes Leben lang einfach "komisch" oder "still" oder "eigenbrötlerisch" oder "etwas altklug" war, erst sehr spät diagnostiziert wird.

Die Anzahl der Kinder, bei denen heute Legasthenie, Dyskalkulie, ADHS, Asperger und dergleichen mehr diagnostiziert wird, ist so hoch, dass der Verdacht nahe liegt: Entweder werden sehr viele Diagnosen vorschnell getroffen, nur weil das Kind eben ein anderes Entwicklungstempo und ein paar Hemmungen bei bestimmten Dingen hat. Oder es liegt daran, dass nur unzureichend geklärt ist, was die Symptome überhaupt sind. Wahrscheinlich ist es oft eine Kombination beider Faktoren. Ich möchte hier keine Polemik betreiben - sehr viele Menschen haben durch ihren Autismus im Alltagsleben tatsächlich mit Problemen zu bekämpfen, die durch eine Diagnose und anschließende Hilfeleistungen sehr erleichtert werden können. Die Frage ist mehr: Kann es eigentlich angehen, dass ein Kind nicht mehr bloß "schwach in Mathe" sein darf, sondern ein Arzt eine Rechenschwäche bescheinigen muss? Dass ein Junge, der viel herumtollt und schwer zu bändigen ist, viel Energie hat, nicht mehr einfach nur das ist, sondern hyperaktiv? Und dass jemand, der introvertiert, etwas schüchtern ist, nicht allzu kommunikativ, dabei jedoch intelligent und korrekt, gleich ein Autist sein muss? Wenn es unser Ziel ist, die Chancen in der Gesellschaft zu verbessern, und dabei jeder, der nicht die geforderten Leistungen aufweist, gleich irgendwie "unnormal" sein soll - tja, dann werden wir unser Ziel wohl verfehlen.

Genau damit könntest du deine Mutter konfrontieren: Frag sie doch einmal ganz konkret, welche Dinge an dir ihr autistisch erscheinen. Wenn sie daraufhin auf deine Schüchternheit als Kind oder Ähnliches verweist, könntest du provokativ zurückfragen: "Aha - und dann ist also jedes Kind, das beim Kinderarzt eingeschüchtert ist, gleich autistisch? Und jeder, der lieber mal hinter seinen Büchern bleibt, statt Party zu machen, auch?" Diese Details kannst du ruhig alle abfragen - je nachdem, wo sie "Beweise" zu sehen meint. Auf diese Weise kannst du sie vielleicht auf den Gedanken bringen, dass die vermeintlichen "Symptome" vielleicht einfach etwas mit individueller Persönlichkeit und ganz natürlichen Reaktionen zu tun haben. Oder, wie bei der Sache mit den Kindern, deine persönlichen Angelegenheiten sind, da du das Recht hast, dein Leben frei zu gestalten. Und dass du nicht, nur weil du bestimmte Wesenszüge hast, die sich mehr oder weniger auch bei etlichen Autisten finden lassen, selbst Autistin bist. Zudem: Selbst WENN du es wärst, wäre das ja noch kein Grund, die Diagnose amtlich zu machen oder sich in Therapie zu begeben, oder, oder, wenn du auch ohne all das deinen Alltag und dein Leben wunderbar meisterst. Wärst du noch in der Schule, wärst noch jünger, dann hätte das - bei auftretenden Problemen - vielleicht seine Berechtigung gehabt. Nachdem du aber fest im Leben stehst und dein Studium demnächst abschließen wirst, gibt es ja überhaupt keinen Grund, diesem Leben, mit dem du gut klar kommst, irgendeinen Stempel aufzudrücken.

Möglicherweise hast du recht mit dem Gedanken, dass deine Mutter gern aus Selbstschutz - weil sie früher für ihren Umgang mit dir und dein Verhalten kritisiert wurde - sich eine Diagnose wünscht, die gewissermaßen die Verantwortung von ihr nimmt. Jetzt die Gegenfrage: Verantwortung für was? Wenn alles, was vielleicht jemals nicht ganz glatt lief, sich inzwischen gebessert hat, du alles gut bewältigst, dann ist sie doch ihrer Verantwortung als Mutter vollkommen gerecht geworden? Wozu um alles in der Welt braucht es dann noch eine Diagnose? Auch das könntest du ihr sagen, allein schon, weil man mit Schmeicheln (und das ist es ja irgendwo) manchmal mehr erreicht, als mit Konfrontation. Wiewohl es nicht besonders für die Menschen spricht, die deine Mutter damals angegriffen haben, wenn sie heute noch so darunter leidet.

Hier schlage ich den Bogen zurück zu dem, was ich oben schon gesagt habe: Jeder, der irgendwie "nicht normal" ist, jeder, bei dem "irgendwas komisch" ist, wird zu einem Psychologen geschleppt, damit der feststellt, was der- oder diejenige jetzt hat. Und da es nun mal viele Leute gibt, die in unserer Leistungsgesellschaft als Kinder und Jugendliche mit Problemen kämpfen, gibt es eine steigende Anzahl unter ihnen, die von heute auf morgen eine Entwicklungsstörung anhaften haben. Ich polarisiere jetzt bewusst, das muss ich klarstellen. Denn, wie gesagt, es ist auch gut, dass es heute keine Schande mehr ist, ein autistisches Kind zu haben, dass Eltern Anlaufstellen für Probleme haben, dass man diese Diagnosen gefunden hat und das, was sie bedeuten, angemessen abfangen kann. Und dennoch: "Nicht normal" wie es heute gebraucht wird, das heißt leider allzu oft nicht mehr und nicht weniger als "erfüllt die geforderten Leistungen nicht planmäßig". Ist vielleicht nicht so sportlich, schafft es vielleicht nicht aufs Gymnasium, hat irgendwie wenig Anschluss. Kann es auf Dauer sinnvoll sein, jeden, der nicht ganz nach Plan und Ideal funktioniert, mit einem medizinischen Begriff zu bezeichnen? Oder wäre es nicht sinnvoller, wäre die Gesellschaft nicht idealer, in der wir Strukturen haben, die Kindern, die schüchtern sind, schwerer lernen, ungeduldige Naturen sind, vielleicht eher handwerklich als akademisch begabt sind, die diesen Kinden auch gerecht werden können? Und nicht alles nach dem Grundsatz ausrichten: "Wer das bis dahin nicht geschafft hat, den schicken wir mal zum Therapeuten." Hey - Polarisierung! Kein Wahrheitsanspruch von meiner Seite. Wenn du aber denkst, dass es etwas bringen könnte, dann kannst du deine Mutter damit schocken. Du kannst sie durchaus mal fragen, ob es für sie eigentlich ein Problem ist, ein Kind bekommen zu haben, die nicht so perfekt funktioniert hat, wie man es sich wünscht. Ob sie sich eigentlich für dich schämt, obwohl du doch alles gut stemmst und im Griff hast. Ob sie lieber eine autistische Tochter hat, als sich einzugestehen, dass ihre Tochter ein eigener Charakter ist - zu dem eben das gehörte, was damals war. Und was dich auf deinem Weg am Ende trotzdem nicht beeinträchtigt hat.

Ob du damit erfolgreich bist, kann ich dir nicht sagen, und also nichts versprechen. Entscheidend scheint mir, dass du deinen Standpunkt deutlich machst, und dich auf keine weitere Diskussion einlässt. Erspare es deiner Mutter nicht, auch mal aus dem Raum zu gehen, wenn du von ihren Spekulationen gerade wieder die Nase voll hast. Denn was die Realität jetzt ist, wird man nie feststellen können. Was aber viel wichtiger ist: Egal wie es aussieht, es muss dich und euch nicht kümmern. Und das kannst du ihr sagen. Wenn sie darüber hinaus noch denken will, was sie zu denken müssen meint, gut. Aber das muss dich dann nicht mehr bekümmern.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul