Problem von Anonym - 21 Jahre

Erinnerungen an den Unfallort

Sehr geehrtes Kummerkastenteam,

ich beginne mal lieber mit der Beschreibung was passiert ist.
Vor eineinhalb Woche kam es in der Stadt, wo ich momentan studiere, zu einem Verkehrunfall, wobei ein 19jähriges Mädchen von einem Auto angefahren wurde. Ich war zwar nicht Zeuge gewesen, bin aber auf meinem Weg an der Unfallstelle vorbeigekommen. Ich war schon an dem Abend eigentlich ziemlich betrunken gewesen und grade auf der Suche nach einem Kaffee um was nüchterner zu werden. Als ich dann vorbeikam habe ich zuerst nachgefragt was passiert sei und wurde, denke mal durch das Adrenalin, wieder weitgehend nüchtern. Da ich schon Erfahrung mit dem Ablauf von Ersthilfe hatte, habe ich mich direkt zu den einzigen zwei Personen beigemischt, die überhaupt etwas versuchten sie zu retten. Soweit ich sehen konnte waren fast alle Zuschauer unter Schock oder wollten sich nicht einmischen. Kurz gesagt die ganze Szene war eine Katastrophe und es sah auch nicht gut um sie aus. Ich hatte dann angewiesen, dass wir das Mädchen in die Seitenlage bringen und wir haben sie dann anschließend zugedeckt, da es sehr kalt und nass war. Bis der Rettungsdienst kam habe ich sie dann gehalten und bin aber nach der Übergabe in die Kneipe zurückgegangen. An viel mehr kann ich mich nicht erinnern.
Am nächsten Tag habe ich dann gemerkt das meine Jacke, mit der ich sie zugedeckt hatte, verschmiert mit Blut und allerlei Anderem war. Ausserdem hatte ich mir an den Glasscherben beide Hände auf der Straße aufgeschnitten. Ich bin dann auch ins Krankenhaus gegangen, in der Hoffnung ich könnte einfach nur erfahren, ob sie stabil sei. Leider konnte mir die Schwester nichts dazu sagen.
Vor zwei Tagen habe ich über die Polizei erfahren, dass sie gestorben ist.
Die ganzen Tage über habe ich immer wieder Erinnerungen an den Abend, welche auch aufgrund meiner Erinnerungslücken immer anders ausfallen. Unter anderem kriege ich das Bild ihres was ich vermute war ihr Freund, welcher Zusammengebrochen neben ihr saß, wie ich sie noch atmen gespürt habe und die Blicke der Leute, die neben uns standen, nicht aus dem Kopf. Da meine Freundin ungefähr im selben Alter ist und ich eine Art Fernbeziehung führe, wüsste ich nicht wie ich auf eine mögliche Nachricht reagieren würde, wenn sie so einen Unfall gehabt hätte. Obwohl ich ziemlich alkoholisiert war, weiß ich, dass ich alles, was in meiner Macht war, getan habe und ich das Geschehene nicht Vorraussehen konnte oder Verändern kann. Jedoch kommen in mir immer wieder Schuldgefühle hoch und das Gefühl der Abgeschnittenheit. Ich kann Verstehen und weiß auch den Grund für die Zurückhaltung von Informationen seitens Polizei und Krankenhaus, jedoch kam es dann ziemlich plötzlich zu erfahren, dass im Grunde alles um sonst war. Ich hätte mir nie gedacht, dass ich für eine Fremde, deren Namen ich bis heute noch nicht weiß, so viel Mitleid empfinden kann, und dass obwohl ich schon mehrere Menschen neben mir sterben gesehen habe.

Ziemlich lange Geschichte und ich weiß, wenn das so anhält würde ich zum Arzt/Psychologen gehen. Jedoch musste ich eigentlich dieses erstmal nur aufschreiben und fürs erste will ich auch nicht Leute, die mir nahe stehen, in meine Misere mit reinziehen. Vielen Dank schonmal für die Rückmeldung.

Ich wünsche schon einmal frohe Wheinachten und ein schönes Neues.

Anna Anwort von Anna

Sei gegrüßt,

und vielen Dank für Dein Vertrauen an uns. Das Erlebnis, das Du geschildert hast, ist absolut nichts Alltägliches und so bewundere ich es umso mehr, wie offen Du darüber sprichst.
Was Du erlebt hast, haben nicht viele Menschen in unseren Kreisen erlebt und wahrscheinlich hofft jeder, auch niemals in eine solche Situation zu kommen und vorallem natürlich, nicht selbst persönlich betroffen zu sein wenn es um tödliche Unfälle geht.

Dieser Unfall und Deine unbeschreiblich heldenhafte Hilfe danach ist nun noch nicht lange her und so ist es nicht verwunderlich, dass Du noch immer stark daran "zu knabbern" hast. Erlebnisse solcher Art zu verarbeiten, kann Jahre dauern und dass Du im Nachhinein erfahren musstest, dass das Mädchen gestorben ist, trägt nicht dazu bei, dass es mit der Verarbeitung leichter wird. Gib Dir Zeit. Ein Grenzerlebnis solcher Art ist ein so starker Einschnitt in das alltägliche wohlbehütete Leben, dass Du noch viel Zeit brauchen wirst, bist Du es verdaut hast. Wir leben meist so sicher, so körperlich unangetastet und fernab von Unfall und Tod, dass wir uns solche Situationen nicht einmal vorstellen können und nur aus Filmen und Büchern kennen. Nur dass es uns dort einfach nicht so mitnimmt.
Nun hast Du erlebt, dass das Leben schnell vorbei sein kann und die, ich nenn es einmal Illusion der Sicherheit wurde für Dich nun schwer erschüttert.

Ich empfehle Dir, den unausweichlichen Verarbeitungsprozess zu erleichtern, indem Du weiterhin offen mit Menschen über Deine Gefühle und dieses dramatische Erlebnis sprichst, darüber schreibst oder Dich vielleicht sogar künstlerisch ausdrückst. Du könntest auf entsprechenden Foren oder Selbsthilfegruppen Menschen kennenlernen, die Ähnliches erlebt haben oder Du sprichst mit denen, die solche Dinge tagtäglich erleben, wie zum Beispiel Feuerwehrmännern, Polizisten oder jemandem vom Rettungsdienst.

Eine Therapie würde ich zunächst nicht beginnen. Wenn Du aber merkst, dass Du sehr starke Ängste entwickelst, die irgendwie damit zusammenhängen könnten und Du merkst, dass Dein inneres Gleichgewicht kippt, solltest Du Dich doch an einen Therapeuten wenden.

Ich wünsche Dir viel Erfolg bei Deinem Verarbeitungsprozess!

Anna