Problem von Anonym - 21 Jahre

Weihnachten und mehr

Liebes Kummerkastenteam,
Ich schätze eure Arbeit sehr, würde mich besonders freuen, wenn Paul mein Problem beantworten könnte, da seine Schreibweise mich sehr berüht.
Ich wollte schon länger eine Nachricht schreiben, doch jedes Mal, wenn ich anfange, stoppe ich wieder. Ich glaube es ist aus Angst mein Problem nicht umfassend genug rüberzubringen. Aber ich glaube es ist gar nicht möglich alle Aspekte darzustellen
Das Problem hängt nicht nur mit Weihnachten zu zusammen. Weihnachten ist eher einer der Momente, in denen sich das Problem offenbart. Es geht um meinem Vater bzw. meine Familie.
Ich weiß nicht, ob man sagen kann, mein Vater hat viele Fehler gemacht, denn im Prinzip war er in meinem Leben nicht präsent. Er war arbeiten, hat im Sommer stundenlang im Garten gearbeitet (fängt am Samstag um 10:00 Uhr an und endet um 10:00 Uhr abends) oder Fernsehgesehen und Prospekte gelesen. Aber Tatsache weder als ich kleiner war noch später hat er sich um mich gekümmert oder mir bei einem Problemen beseite gestanden. Für gemeinsame Unternehmung mit der Familie hatte er auch selten Zeit.
Hinzukommt, dass er mehr als einmal ein Verhalten gezeigt hat, dass ich nicht akzeptieren wollte und konnte doch manchmal trotzdem mir nicht zu helfen wusste. Wenn er eine schlechte Laune hat und ihm etwas nicht passt, ist sehr aggressiv und kann sehr laut schreien, was mich auch als ich jung war schon sehr oft sehr belastet und eingeschüchtert hat. Das war oft nicht speziell gegen mich gerichtet, sondern eher gegen meiner Mom oder allgemein, weil ihn etwas verägert hat (z.B. eine Tasse, die herunter gefallen ist, eine kritische Bemerkung, die meine Mom darüber gemacht hat, dass er stundenlang im Garten ist oder andere Dinge). Das kam zeitweise jedes Woche Ende vorher, dass er sehr viel herumgeschrieen hat, zeitweise seltener.
Es gab aber auch Momente, die ich nicht einfach wieder vergessen konnte und die für mich bedeutet haben mich mit großen emotionalen Schritten von ihm zu distanzieren. Zum Beispiel hat er in wirklich sehr agressiven und lauten Ton bereits mehr mals meiner Mom Gewalt angedroht und sie umzubringen (z.B. sie vom Balkan zu holen oder verprügen zu lassen). Man könnte sagen, dass man im Moment der Wut vieles sagt, aber die Art und Weise wie er dies gesagt hat, diese Aggressivität konnte ich nicht einfach vergessen. Dadurch hatte ich auch den Alptraum, dass mein Vater meine Mom umgebracht hat und sie blutend am Boden lag. Diese Angst, wenn auch ich mir nicht ganz sicher war, ob er dazu wirklich fähig wäre, hat mich lange begleitet. Auch hat er meine Mom schon geschlagen (nicht oft), aber einmal auch über mienem Kinderbett. Außerdem hat er damals, als ich ungefähr 16 hat er über meine Gruppe, also meine Freunde, die ich regelmäßig getroffen habe und die mir wichtig waren, gesagt, dass es sowieso nicht lange hält. Und er hat gesagt, dass ich ins Heim gehen soll (Ich war immer eine „liebe“ Tochter, habe nicht gegen Regeln verstoßen, nie zu viel getrunken, nicht geraucht, und war immer sehr gut in der Schule). Es gab keinen Anlass für ihn das zu sagen, er war einfach schlecht gelaunt. Ein anderes Mal hat er mich auch angeschrieben, dass ich für die Schule, auf die ich gegangen bin nicht würdig bin, weil ich geweint habe.
Ich weiß nicht wie man von manchen Leuten gesehen wird, aber für mich war das Verhalten einfach unakzeptabel und ich wollte ihn emotional nicht mehr als mein Vater und in mein Leben haben.
Wenn meine Mom ihn darauf angesprochen hat, was er falsch gemacht hat, hat er sich gerechtfertigt. Auch zu mir hat er vor nicht anzulanger Zeit mal gesagt: Ich bin halt kein Weichei. Wenn mir was nicht passt, schlag ich auch mal zu. Deswegen bin ich noch nicht der Böse.
Dies hat mir deutlich gezeigt, dass er auch zum Einsehen nicht in der Lage ist. Und selbst wenn, selbst wenn es die Möglichkeit gäbe all dies zu ändern, hätte ich keinen Grund dazu. Er hat nie für mich eine Bedeutung gespielt, ich habe keine besonderen Erinnerungen an Erlebnisse mit ihm oder Dinge, die er mir im Leben gezeigt oder beigebracht hatte. Deswegen hat es sich für mich auch nie gelohnt zu kämpfen.
Momentan bin ich im Ausland (Erasmus). Doch diese Dinge belasten mich immer noch im Leben. Ein weiteres Problem ist jetzt mit Weihnachten. Ich hab mich jetzt entschieden nicht nach Hause zu kommen, weil ich mich Weihnachten daheim aufgrund meines Vaters nicht wirklich wohl gefühlt habe. Es ist mir trotzdem schwer gefallen, weil ich meine Mom und meine Schwester vermisse. Aber ich habe diesmal einfach gedacht, dass es für mich die bessere Entscheidung ist.
Natürlich erprisst mir mein Vater jetzt finanziell (keine Unterstützung mehr im Studium) über meine Mutter (mein Vater ist nicht in direkten Kontakt mit mir). Und so wollten sie mich zum Kommen bewegen.
Und ich weiß langsam einfach nicht mehr wie ich mit der ganzen Situation umgehen soll.

Wahrscheinlich wirkt es auch etwas distanziert, wie ich geschrieben habe, aber ich wollte das ganze momentan nicht so nah an mich heranlassen.

Viele Grüße

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

du erhältst meine Antwort ein zweites Mal, wobei ich diesen Absatz hier einfüge. Ich habe nämlich das Gefühl, bei meiner Antwort an dich in einem Punkt Murks gemacht zu haben: Ich finde, ich habe zu wenig berücksichtigt, dass du gesagt hast, du wolltest deinen Vater generell nicht mehr in deinem Leben haben. Da ich dir in meinem Text mehrfach unterstellt habe, du wolltest den Kontakt nicht abbrechen, muss ich hier zurückrudern und genauer erklären, wie ich das meinte: Kontakt ist letztlich immer der Kontakt mit deiner Familie, zu deinem Vater hast du ja keinen direkten. Und wenn du die Familie besuchst, wird es sich oft nicht vermeiden lassen, deinen Vater zu sehen. Du kannst meine Aussagen auf diesen Fall beziehen, aber mir ist wichtig, dass du nicht denkst, ich hätte deine klare Aussage, dass ihr keinen direkten Kontakt habt, überlesen.

Ich hoffe, du konntest trotzdem einen - den Umständen entsprechend - schönen Weihnachtsabend verbringen. Meiner Antwort voranstellen möchte ich, dass ich es absolut okay und einleuchtend finde, wie du das alles beschrieben hast. Du musst kein schlechtes Gewissen haben, weil es zu distanziert wäre - das ist es nicht. Ich denke, es ist schon beachtlich, dass es dir jetzt gelungen ist, es dir wenigstens irgendwie von der Seele zu schreiben. Wenn du nicht noch deutlicher werden wolltest, weil es dich zu sehr aufwühlt, ist das dein gutes Recht - und spricht nur für dich: Was hätte es gebracht, wenn du nach deinem Text an uns völlig aufgelöst gewesen wärst? Du kennst dich selbst und hast dich ermahnt, die Grenzen deiner Belastbarkeit zu respektieren. Das ist ein Zeichen von persönlicher Stärke - und eine Fähigkeit, über die dein Vater so nicht verfügt.

Was soll ich von einem Menschen sagen, der zu seiner Frau und seinem Kind sagt: "Tja, ich bin halt kein Weichei - ich schlage auch mal zu, wenn mir was nicht passt?" Ich bin sehr erschrocken, als ich das gelesen habe. Was heißt das im Klartext Anderes, als: "Ihr habt hier zu machen, was ich will. Ansonsten kriegt ihr auch mal ein paar verpasst. Seid ja selber schuld, wenn ihr nicht auf mich hört." Also, wenn ich mein Handeln hinterfrage, mich mit den Menschen, die ich liebe (?), einigen will, ist das unrichtig, weil ich habe eh immer Recht? Und wenn ich nicht bereit bin, meine Frau und mein Kind zu schlagen, bin ich ein "Weichei"? Liebe Anonyme, dein Denken dazu verstehe ich voll und ganz, und ich stelle mich da ganz hinter dich. Du solltest dir so etwas nicht bieten lassen - als Mensch nicht, als Frau nicht, und als seine Tochter nicht.

Spontan fielen mir zwei Dinge ein: Workaholic und... Choleriker. Ob es für sein Verhalten, wie du es beschreibst, Gründe gibt - ob er psychische Probleme hat, oder Schwierigkeiten im Beruf hatte - das können wir nicht feststellen, und es muss uns beide hier auch nicht beschäftigen. Tatsache ist, dass er sich zu dir als seiner Tochter, wie auch zu deiner Mutter und Schwester, schlicht und einfach inadäquat verhalten hat. Eine Drohung wie die, die du genannt hast, ist heftigster Tobak. Und ich kann gut verstehen, dass es auf dich schon als Kind ängstigend und verstörend gewirkt hat, so etwas miterleben zu müssen. Die Schläge kommen noch hinzu. Vielleicht gibt es Menschen, die solches Verhalten irgendwie entschuldigen könnten - ich gehöre mit Sicherheit nicht dazu. Ich sehe es genauso wie du. Es scheint, als hätte dein Vater nicht nur seinen Frust, woher auch immer, an euch ausgelassen, sondern auch gar nicht erkennen lassen, dass ihr als Personen oder eure Entwicklung - deine im Besonderen - ihm wichtig wären. Sicher gibt es etliche Männer, die Schwierigkeiten haben, emotionale Nähe zu ihren Kindern aufzubauen, die mehr für ihre Arbeit leben als für ein friedliches und schönes Beisammensein. Man muss das kritisch sehen, kann es aber zugute halten, wenn so jemand wenigstens tolerant und freundlich ist, und sich um einen Ausgleich bemüht. Das jedoch hat dein Vater nicht getan. Ich denke, du hast richtig gehandelt, nicht nach Hause zu kommen. Zwar war es nicht angenehm - aber was wären die Folgen gewesen, wenn du gekommen wärst? Du bist jetzt erwachsen, und es spricht nur für dich, wenn du deine Emotionen einschätzen kannst und unnötige Belastungen meidest. Hätte die Hoffnung bestanden, dass es zu einem klärenden Gespräch zwischen deinem Vater und dir kommt, und ihr wenigstens für die Feiertage Frieden hättet schließen können, dann wäre das etwas Anderes. Diesen Eindruck erwecken deine Schilderungen aber nicht. Niemand kann von dir verlangen, dich etwas auszusetzen, das unwürdig ist. Vielleicht wird dein Vater seine Art nie ändern. Das heißt aber noch nicht, dass du ihm nicht klar machen sollst, dass etwas falsch läuft. Und zwar schon lange. Das hast du getan. Es war nicht einfach, aber ich möchte dich darin bestärken. Setze dich nicht aus Gutwilligkeit etwas aus, von dem du weißt, dass es deine Bemühungen nicht belohnt.

Natürlich ist der Mann, von dem wir sprechen, immer noch dein Vater, natürlich hat er über die Jahre auch für dich gesorgt, und trägt auch heute dazu bei. Das allein kann aber nicht rechtfertigen, wie er sich im Übrigen verhält und verhalten hat. Man sorgt schließlich für seine Familie, weil man sie liebt, nicht weil jemand einen dazu verpflichtet hat, oder? Nach allem, was du geschrieben hast, scheint mir vor allem zweifelhaft, ob deine Mutter die Frau ist, die er liebt. Buchstäblich. Ob ihr, du und deine Schwester, ihm ganz besonders am Herzen liegt, weil ihr sein Fleisch und Blut seid. Oder ob er sich mit der Verantwortung, die er als Vater trägt, nie ganz abgefunden hat, nie mit seiner Rolle zurechtgekommen ist. Vielleicht nie zurechtkommen wollte. Geld ist eine Seite - aber ein guter Vater zu sein ist etwas, das mehrheitlich jenseits der materiellen Dinge stattfindet. Dass er dir gedroht hat, dich nicht mehr zu unterstützen, spricht in dieser Hinsicht Bände. Leider kann ich dir nicht wirklich sagen, wie du diese Unterstützung, wenn du sie wirklich nicht mehr bekommst, ausgleichen kannst. Ich kenne mich da zu wenig aus. Jedoch gibt es gewiss Möglichkeiten, und du machst nichts Falsches, dich schon einmal zu informieren. Denn irgendwann wirst du berufstätig sein, willst vielleicht selbst Familie haben. Was wird dann? Dann bist du auf deine Eltern nicht mehr angewiesen, aber trotzdem gilt es, eine Lösung zu finden. Hättest du ein gutes Gefühl, mit deinen eigenen Kindern in dein Elternhaus zu kommen, wenn dein Vater nicht an sich halten kann? Du merkst, es ist gut, dass du deine Linie beizeiten klar machst. Es geht nicht darum, deinem Vater in kleinlicher Weise etwas nachzutragen, nein. Es geht darum, dass sein Verhalten auf ganz menschlicher Ebene für dich belastend ist. Im Klartext: Dass du Angst hast, und es dir weh tut, wie er ist. Und das soll auch Konsequenzen haben. Ihr habt euch nicht über Geld gestritten, du wirfst ihm nicht allein vor, dass er kaum Zeit für euch hatte. Es geht um seine Art, und diese ist unbeherrscht. Ich möchte ihm kein Unrecht tun, ich kenne ihn nicht. Ich möchte dich ermutigen, den Kontakt zu deinen Eltern stets zu halten, dich stets höflich zu zeigen - aber eben auch nicht mehr zu versuchen, als geboten scheint. Du wirst daran nur leiden. Es sei denn natürlich, bei deinem Vater findet ein Wandel statt. Nur sieht es im Augenblick nicht danach aus.

Wie steht deine Mutter zu deinem Vater? Möchte sie mit ihm zusammen bleiben? Und denkt deine Schwester ähnlich darüber? Es wäre ratsam, dass du das Ganze nochmal gründlich mit den beiden thematisierst. Schließlich hast du nicht die Absicht, den Kontakt zu deiner Familie abzubrechen, möchtest auch mit deinem Vater nicht brechen, dich überhaupt nicht streiten. Sondern es ist so, dass das, was dich an Weihnachten zuhause erwartet hätte, dir zugesetzt hätte. Dafür musst du dich nicht schämen. Es ist jedoch ein Thema, das noch länger aktuell bleiben wird, und deshalb solltest du auch in die Zukunft denken.

Mein Bruder ist dieses Jahr ausgezogen. Er lebt jetzt in einer Stadt am anderen Ende des Landes. Vielleicht bleibt er auf die Dauer dort, oder ähnlich weit entfernt, und wir werden uns später nur noch drei - oder viermal im Jahr sehen. Ich war früher nicht einfach, mein Bruder und ich hatten viel Streit. Zeitweise habe ich ihn massiv abgelehnt, obwohl er jünger ist. Heute tut mir das leid, und zum Glück konnten wir uns inzwischen aussprechen. Wir sind zu verschieden, um miteinander zu konkurrieren, er ist mein Bruder, er kann für mich ein Vertrauter sein. Und wenn er das nicht wird, immer noch ein guter Bekannter, mit dem ich offen reden und herzlich umgehen kann. So von der Rolle her, verstehst du? Ich habe lange gebraucht, um meine kleinlichen Vorwürfe an ihn abzulegen, und zu entscheiden, dass ich ein gutes Verhältnis mit ihm will. Warum? Weil ich so viele Familien kenne, in denen die Kinder (auch wenn sie schon vierzig, fünfzig sind) ihren eigenen Eltern nicht ins Gesicht schauen können. In denen jede Familienfeier zur Kraftprobe wird. Ich möchte nicht, dass es bei mir so wird. Ich möchte ein gutes Verhältnis zu meiner Familie. Und ich denke mal, es geht dir genauso, oder? Dabei ist allerdings wichtig: Es muss von beiden Seiten ausgehen. Solange dein Vater nicht von seinem unrichtigen Verhalten ablässt, wird es für dich noch öfter schwierig sein. Auf Dauer musst du dir überlegen, wie es in Zukunft werden soll. Du möchtest ja nicht den Kontakt abbrechen. Allerdings kann man von dir auch nicht verlangen, so zu tun, als wäre nichts gewesen.

Egal, was dir jemand sagt - egal, wie oft du zu hören bekommst, um des Friedens willen die Sache zu vergessen: Du wirst es nicht können, und du sollst es auch nicht. Es sei denn unter einer Bedingung. Nämlich der, dass dein Vater erkennt, was falsch läuft, und sich mäßigt und bei dir entschuldigt. Das wäre der Idealfall: Dass es zu einem Moment kommt, in dem ihr euch aussprechen könnt, und von dem ab es sich bessert. Solange du aber weiterhin mit cholerischen Ausbrüchen, Unnahbarkeit und Grausamkeit seitens deines Vaters rechnen musst, solltest du dir nicht versagen, Grenzen zu setzen. Überdies verstehe ich es auch durchaus, wenn du sagst "Es ist zuviel vorgefallen. Selbst wenn die Möglichkeit bestünde, wollte ich ihm nicht mehr näher kommen." Du kannst darüber frei entscheiden, aber du solltest es so tun, dass du voll dahinter stehen kannst. Mache Zugeständnisse, wenn es sich für dich besser anfühlt, zum Beispiel auch, wenn du es dem Rest der Familie zuliebe tust. Wenn du aber ein ungutes Gefühl dabei hast, so wie jetzt gerade, dann sei konsequent, bleibe bei dir und deinen Bedürfnissen. Ich kann dich darin nur bestärken. Tu es aber ohne viel Aufhebens, rabiat und ohne dich groß zu erklären - verfalle nicht in Vorhaltungen. Es ist gesagt und bekannt, was bekannt sein muss. Du hast Streit mit deinem Vater, nicht mit irgendeinem der Anderen. Davon spreche ich auch im nächsten Absatz.

Ich rate dir trotzdem dazu, gelegentlich auch mal über deinen Schatten zu springen, deinem Vater zu begegnen, freundlich zu sein, dich zu unterhalten. Zumindest, wenn diese Möglichkeit gegeben ist. Gut möglich, dass realistisches Nachdenken immer wieder zutage fördert, dass dem nicht so ist. Dann soll es so sein. Dennoch: Was immer er tut, was geeignet ist, dich zu verletzen: Zahl es ihm nicht mit gleicher Münze heim, niemals. Sei offen, sei höflich, sei hilfsbereit, beziehe die Anderen nicht in den Konflikt ein - aber mache auch deutlich, dass es eben nicht zuende ist, solange die Gründe für das Zerwürfnis bestehen bleiben. Es ist wichtig, dass du deine Mutter, deine Schwester, in Zukunft vielleicht die eigene Familie, darunter nicht leiden lässt. Es ist aber genauso wichtig, dich selbst in deinem seelischen Gleichgewicht zu schützen, und es nicht auf einen Streit ankommen zu lassen, wo er nicht sein muss und zu nichts führt. Du wirst dich nie auf dieselbe Ebene wie dein Vater begeben. Aber du wirst auch tun, was getan werden muss, um ihn auf sein Problem hinzuweisen. Das hast du mit deiner Entscheidung, an Weihnachten nicht heim zu kommen, getan. Was im kommenden Jahr werden wird, das wissen wir nicht. Aber so sehr, wie du darauf achten solltest, stets bei den Tatsachen zu bleiben, dich nicht in unproduktiven Ärger und Vorwürfe hineinzusteigern, so sehr solltest du auch die Konsequenzen ziehen, die nötig sind. Wir müssen das hier trennen: Es gibt Konflikte in Familien, die sollten seit langem begraben sein, weil sie vergangen und nichtig sind. Bei dir geht es jedoch nicht um irgendetwas, sondern um ein tatsächliches Fehlverhalten deines Vaters, das für jedermann sichtbar ist. Ich kenne Familien, in denen unterstellen die Jungen den Alten, in ihrer Erziehung da und dort versagt zu haben - sind aber inzwischen längst berufstätig, verdienen gut, haben einen Freundeskreis und sind grässlich selbstzufrieden. Mit solchen Fällen hat deine Situation nichts gemein. Du bist um Frieden bemüht, du möchtest dein Leben gestalten, möchtest eigentlich richtig gern mit der Familie feiern - aber das Erlebte belastet dich. Und was du mit deinem Vater erlebt hast, das sind keine peanuts. Vergiss das nicht, auch wenn dir vorgeworfen wird, du seist kleinlich und nachtragend. Du würdest nicht machen, was du machst, wenn dein Vater sich geändert hätte, oder? Und wie er meistens war, so ist man nicht zu seiner Frau und seinen Kindern. Das ist einfach Fakt.

Bei alledem hast du doch unheimlich viel aus eigener Kraft geschafft: Du hast dein Studium in Angriff genommen, du lernst im Ausland, und dein Text verrät auch eine große Einfühlsamkeit. Es ist eben nicht so, dass es zu distanziert ist, im Gegenteil: Mir scheint, du hast ein großes Gespür dafür, deine eigenen Aussagen auch zu relativieren, wo Andere vielleicht anderer Meinung sind, und bei den Fakten zu bleiben. Das ist alles sehr wichtig. Denn du bist nicht seelisch abgekühlt, weil du all das mitgemacht hast. Du bist nicht bloß erwachsen geworden, du wandelst die Unfertigkeit, die du erlebt hast, in Stärke und hast einen hohen Anspruch an dich selbst. Deine Persönlichkeit hat sehr viele Eigenschaften ausgeprägt, die dein Vater dir nicht vorgelebt hat, und darauf darfst du sehr stolz sein. Verlange dir aber nicht zuviel ab, sondern habe immer auch Mut, manchmal schwach zu sein. Man kann nicht immer alles zur Perfektion lösen. Du wirst noch viele Situationen erleben, in denen dein eigenes Handeln dir unbefriedigend scheint, in denen du glaubst, deinem Anspruch nicht gerecht zu werden. Habe dann keine Angst, sondern erinnere dich, dass es Perfektion nicht gibt. Das Entscheidende ist nicht, alles richtig zu machen, sondern Fehler einzugestehen, neu nachzudenken und wieder anzufangen. Das hat dein Vater nicht vermocht, und scheinbar tut er es auch jetzt nicht. Für dich ist wichtig, dass du an ihm erkennst, was du besser machen willst - Nähe, Offenheit, Selbstkritik, Rücksicht, Flexibilität. Das hast du nicht nur bereits erkannt, sondern ich glaube auch, dass du es umsetzt. Die Art, wie du dich ausdrückst, und deine Lage beschreibst, zeigen es auf. Ich glaube deshalb, dass du frohen Mutes in 2016 starten kannst. Bleibe bei dir, kenne deine Gefühle, hinterfrage dich, und lerne auch weiter aus den Fehlern Anderer. So, glaube ich, wirst du dein Glück finden. Und ich wünsche dir sehr, dass du erkennen kannst, wie weit du auf diesem Weg bereits gekommen bist, innere Qualitäten hast reifen lassen. Du kannst sehr stolz auf dich sein, vergiss das nicht!

Liebe Grüße und Guten Rutsch,

Paul