Problem von Anonym - 16 Jahre

Meine Schwester Laura

Es ist ein Problem ohne Lösung um genau zu sein, aber es gibt Momente da werde ich schwach will schreien und alles kaputt schlagen und hasse mich und dann muss ich einfach darüber reden (um genau zu sein quäle ich mich immer selbst wenn ich mir das alles vor Augen halte).

Ich habe eine kleine Schwester, sie heißt Laura ist fast 15. Man wusste von Anfang an das sie eine Lippenkiefergaumenspalte haben wird (das hört sich schon schlimm an, aber im Vergleich zu jetzt wären wir alle überglücklich wenn es dabei geblieben wäre), aber dann kam sie auf die Welt und wäre fast gestorben ( ich weiß nicht wieso aber warum sie die andern 2/3 Mal fast gestorben wäre weiß ich ganz genau). Sie konnte auf einem Auge nur 1% sehen und auf dem Anderen nichts.... Tja sie hatte viele OP´s warum das alles weiß ich nicht mehr es ist ewig her..... aber sie hat es gehasst sie hat so oft geweint... was auch verständlich war. Sie hat ihre Kleinkindzeit gar nicht richtig durchleben können (deswegen hat sie es mit 10 Jahren ungefähr nachgeholt so zusagen) weil sie alle möglichen Übungen machen musste und vieles mehr.
Ich weiß noch genau wie wir alle als sie 4 Jahre alt war daheim waren und meine Mutter sie gefüttert hat und auf einmal spuckt sie Blut... meine Mutter sagt meinem Vater er soll den Arzt anrufen, er bekommt ihn nicht versucht es nochmal und sie sagt er soll aufhören und den Notarzt anrufen, weil sie nicht aufgehört hat Blut zu spucken..... zum Schluss wurde sie ohnmächtig mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus gebracht....... aber sie hat "überlebt" . Das war das erste Mal wo wir sie fast verloren haben und seitdem schau ich immer nach oben wenn ich einen Hubschrauber sehe und denke mir dieses Mal kommst du nicht zu uns.

Vier Jahre später war ich auf einem Fest 1 km von unserem Ort entfernt als ich wieder eine Hubschrauber sah. Ich habe mich gefreut weil er nicht zu uns kam und war glücklich. 10 Minuten später kam unser Nachbar zu dem Fest und hat mich sofort nach Hause gefahren. Vor unserm Haus der Krankenwagen... ein andere Nachbar.. und im Wohnzimmer meine Cousine und mein Onkel und im Schlafzimmer meiner Eltern meine Schwester umgeben von 2 Sanitätern und meiner Mutter. Dieses Mal wurde sie von dem Rettungshubschrauber nicht mitgenommen, weil der Arzt merkte meine Mutter "kennt" sich inzwischen aus....
Meine Schwester spielte im zweiten Stock mit ihrem Puppenhaus und meine Mutter geht unter ihrem Fenster vorbei, weil sie mit dem Hund laufen will da hört sie komische Geräusche und geht zurück... meine Schwester hat mal wieder etwas aus dem Puppenhaus in den Mund genommen um sich besser vorstellen zu können wie diese kleine Spielzeugtasse "ist" und dabei hat sie sie verschluckt......

Ich dachte immer wenn ich eines Tages ausziehe ist das vorbei ihre Probleme unsere Sorgen... bis meine Mutter mich gefragt hat ob ich wenn meine Eltern es nicht mehr machen können ich ihr Vormund werde.... erst da wurde mir bewusste das diese Probleme nie enden......

Mit 12 wurde festgestellt das sich ihre Wirbelsäule dreht und ihre Lunge eindrückt und sie komplett verschiebt. Sie hatte einen Buckel und ihre einst kerzengerade Narbe (von der Operation wo ihr ein Herzschrittmacher eingesetzt wurde) hat sich ebenfalls verschoben.
Also sind sie und meine Mutter nach Hamburg gefahren und sie hat Stäbe an die Wirbelsäule bekommen.

Das Gefährliche daran war das sie wenn etwas schief geht während der Operation sie querschnittsgelähmt wäre. Auch wenn sie jetzt fällt und die Stäbe brechen.

Da erst wurde mir bewusst wie kaltherzig ich bin... mein Vater ist vor meine Augen in Tränen ausgebrochen als er mit meiner Schwester darüber geredet hat das wenn wir in den Urlaub fahren bereits alles vorbei ist. Meine Schwester hat geweint war unausstehlich und meine Mutter war auch bedient doch ich hatte nichts...... ich lag schließlich abends in meinem Bett und habe mir vorgestellt was passiert wenn es schief geht, damit ich weine musste weil ich das vorher nicht musst und ich habe mir gewünscht das sie bei der Operation stirbt... von ganzem Herzen habe ich mir das irgendwie gewünscht, weil ich fand das sie so ein Leben nicht verdient hat.... fast blind, Stäbe im Rücken, Hörgeräte und soviel Kummer....... ich wünsche es ihr inzwischen manchmal noch mehr...... (Diese Operation bezeichne ich als das 4 Mal wo ich sie fast verloren habe, da die Bänder der Stäbe nach der ersten Operation gerissen sind und man die Operation wiederholen musste).

Seitdem war es recht ruhig doch es bereitet sich vor...... sie verliert ihr ein Prozent Augenlicht... ja was ist das schon denkt man sich doch es ist grausam früher hat sie alle Farben erkennen können und sogar am Fernseher wenn sie davor stand das Datum... doch jetzt läuft sie gegen alles und erkennt fast nichts mehr..... sie will auch keine Aufnahmen von sich mehr anschauen weil sie nichts mehr erkennen kann....doch das reicht nicht ohne ihre Hörgeräte die implantiert werden mussten muss ich sie anschreien, weil sie sonst nichts versteht und selbst mit Hörgeräten versteht sie mich immer häufiger nicht mehr...... auch unsere Hoffnung dass die Stäbe ihre Wirbelsäule aufhalten ist umsonst gewesen denn sobald sie ausgewachsen ist wird sie endgültig versteift und dann kann man es nicht mehr rückgängig machen.

Meine Schwester ist mein Heiligtum ich würde für sie alles tun ( ich habe das Buch plötzlich blond gelesen in dem das gesunde Gehirn eines Mädchens auf ihrem zerstörten Körper genommen wurde und in den gesunden Körper eines Mädchens deren Gehirn kaputt war gesetzt... ich wollte das meiner Schwester ermöglichen.....aber tjaaa es ist natürlich nicht möglich...... ) ich liebe sie über alles sie ist einfach mein gesamtes Leben denn alles hängt von ihr ab..... ich weiß nicht was ich tun würde wenn ich sie eines Tages verliere..... auch wenn sie dann endlich all ihre Probleme los ist......

Das Schlimme ist meine Schwester hat ein so grausames Leben sie hat 19 Operationen hinter sich und es sind noch mindestens 4 notwendig für so vieles..... egal was wir machen es ist kein Ende in Sicht..... es kommen immer neue Probleme und das Verrückte ist bei ihr war alles wie bei mir nur mein Vater hat geraucht und ich bin kerngesund und sie? Warum tut man ihr so etwas was muss man getan haben das man mit so einem Leben gestraft wird das kein Ende hat.........und ich ihre unverdient geliebte Schwester habe nichts besseres zu tun als zu reiten für diesen gefährlichen Sport zu leben, feiern zu gehen Alkohol zu trinken abunzu zu rauchen und glücklich zu sein..... Meine Schwester verliert alles alles was sie mal hatte und ich........

Auf der Straße wird sie angestarrt wie sie geht (es ist sehr anstrengend für sie den Fuß ab zurollen deswegen patscht sie eher), ihre Augen, ihre Nase, ihre Statur ( meine Schwester wird eigentlich dauerhaft gemästet aber dennoch hat sie erst vor ein paar Tagen mit 1,40-50 m die 30 kg geschafft! 30 Kilogramm das ist kein Schreibfehler sie wiegt so wenig und wir wissen nicht wieso......
Das Verrückte ist auch das so vieles an ihr perfekt ist ihre Haare sehen aus wie Engelshaare , ihre Augenbrauen sind wunderschön geschwungen. Ihr Charakter ist einfach unglaublich sie ist so ein lieber Mensch sie lacht so wunderschön und ist so kreativ ihre Paulgeschichten die sie selber schreibt sie unglaublich toll (auch wenn die Hauptperson glaube ich hauptsächlich "hmmm lecker" sagt) und ihre Sommersprossen sind so schön... ja ich glaube man merkt ich liebe sie.....

Ich höre immer wieder sie hat so ein Glück mit mir und sie kann froh sein eine so tolle Schwester wie mich zu haben und ich bin ja eine so großartige Schwester..... aber ich wünsche ihr in der Operation einfach zu gehen einfach zu sterben, ich bin oft so blöd zu ihr wenn sie wieder unausstehlich ist und ich sie angehe, ich bin so oft so grausam zu ihr...... das bin ich aber auch schon wenn ich weggehe mich mit Freunden treffe und sie bleibt zurück mit ihren Freunden die nur in ihrem Kopf sind.......ihr zweites Zuhause ist das Krankenhaus dort schläft sie sogar tief und fest zuhause schläft sie bis um 4 oder 5 Uhr morgens geht ins Bad und wenn sie zurück kommt ist ihr Bett kalt und sie kann es nicht wieder aufwärmen um noch einmal einschlafen zu können also ist sie dauerhaft übermüdet.......

Ich halte mich für eine grausame Schwester, vielleicht war ich mal eine gute Schwester aber inzwischen bin ich einfach nur noch grausam...... sie stirbt vor Langeweile in den Ferien und ich mache nichts mit ihr außer immer wieder mit ihr CD zu hören, sie in den Ferien bei mir schlafen zu lassen und alle paar Monate mit ihr in die Stadt gehen..... Sollte ich nicht eigentlich 24 h mit ihr etwas machen nicht feiern gehen, wenn Freunde kommen sie immer dabei sein lassen .....sie unterstützen........?


Ich weiß was soll man darauf antworten...aber ihr kennt jetzt weder mich persönlich noch meinen Engel ihr kennt nur meine Sicht und ihr Probleme und deswegen bitte ich euch um eine sehr schwere Antwort..... bin ich eine grausame Schwester, eine verzweifelte oder doch noch immer eine gute?

Ich weiß nicht ob mein Problem in die Kategorie erst gemeinte Probleme fällt, da es sehr schwierig ist darauf zu antworten aber dennoch frage ich euch. Nebenbei hoffe ich das ich euch nicht den Tag "versaut" habe da die Menschen oft traurig sind wenn ich ihnen Laura´s Geschichte erzähle.... sie sagen immer "die Arme", aber dann sage ich ihnen immer das bringt nichts.... man soll sie nicht bemitleiden eher mit ihr einfach über allen möglichen Mist des Lebens reden (Wetter, Jungs, Witze), denn das will sie sein normal... auch wenn sie das in keinster Weise ist...... sie ist das tapferste Mädchen der Welt sie steht jeden Morgen auf und macht weiter, sie lacht, sie geht jedes Mal tapfer in die Krankenhäuser und in die Operationen..... ich bewundere sie und schäme mich da ich weine... aber wieso ? was für Probleme habe ich denn bitte? Exakt überhaupt keins ich kann alles machen was ich will ich kann heiraten, Kinder kriegen und eine Traumjob haben das alles kann sie nicht..... ich will sie nicht mal wo anders wohnen lassen als bei uns ich meine Hallo? Ihre Oma versteht sie nicht richtig, sie ist etwas ganz besonderes sie ist einzigartig niemand anderes außer meiner Mutter, meinem Vater und mir kann sie ansatzweise verstehen...... am Ende tut man ihr noch weh und das darf niemand.......

Das ist mein Problem..... vielleicht könnt ihr mir meine Frage beantworten ob ich grausam, verzweifelt oder gut bin

Liebe Grüße und vielen Dank wenn ihr hier angekommen seit dass ihr euch alles durchgelesen habt....

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

voraus schicken muss ich das: Du hast mir nicht den Tag "versaut". Wenn du mich fragst, ob ich traurig bin: Ja, ich bin traurig, weil deine Schwester all das durchmachen musste, und immer noch durchmacht. Und weil sich ihre Situation wahrscheinlich nie wesentlich bessern wird. Ja, ich bin traurig. Aber ich möchte mich mal selbst fragen, so wie du dich gefragt hast, ob du weinen darfst: Paul - darfst du hier sagen, dass du traurig bist? Diese Frage stelle ich mir jetzt, und sie ist ernst gemeint. Und vielleicht sollten viele Leute, denen du die Geschichte deiner Schwester erzählst, sich diese Frage auch mal stellen.

Nun will ich damit nicht ausdrücken, dass ich irgendjemandem überlegen wäre. Aber ich frage mich das einfach: Darf ich traurig sein? Wenn ich sage, ich bin traurig, nachdem ich von dir und deiner Schwester weiß (wobei ich vermutlich nur einen kleinen Bruchteil kenne) - wenn ich das sage, meine ich das ernst? Kann ich das ernst meinen? Wie tief reicht mein Gefühl? In diesem Moment, tief. Aber wie lange wird es anhalten? Ich habe viele Geschichten im Kummerkasten gelesen, bei denen mir erstmal nicht wohl in meiner Haut war. Aber ich gestehe auch: Ich habe es bisher noch immer geschafft, wieder in mein Leben zurückzukehren. Die Geschichten haben mich begleitet, und viele begleiten mich immer noch. Aber kann man von Trauer sprechen? Wirklich feste, tiefe Trauer - so wie du sie empfindest? Getragen von der Liebe zu deiner tapferen Schwester, die aus deinen Zeilen deutlich herauszulesen ist? Verfüge ich darüber auch? Oder ist es: Anteilnahme, in dem Bewusstsein, dass das eigene Leben anders ist, anders weitergeht?

ICH kann jetzt das Fenster schließen, in dem deine Zuschrift steht, und kann aufstehen und rausgehen. DU kannst das Fenster mit meiner Antwort zwar schließen, aber deine Schwester wird noch da sein. Und dass sie da ist - die Zerrissenheit zwischen deiner Liebe zu ihr, und deinen eigenen Bedürfnissen, zwischen deinem Wunsch, ihr zu helfen, und deiner Machtlosigkeit - das alles kann niemand von uns nachempfinden. Du hast mein Mitgefühl, du und deine Schwester, vor allem aber habt ihr meinen Respekt. Nicht nur sie, sondern auch du. Denn was du leistest, ist beeindruckend.

Wie oft habe ich von meinen Eltern den Satz gehört: "Paul, weißt du, wir fühlen das mit, wie es dir geht." Als ich Streit mit meinen Jungs hatte, wenn ich schlechte Noten hatte, wenn ich Liebeskummer hatte... immer hieß es: "Wir leiden mit." Das ist schön, wenn du jemandem nicht egal bist. Aber was nützt es dir, wenn du dich dann auch noch für ihn verantwortlich fühlst? Was kann es dir nützen, wenn ich dir sage: "Ich bin traurig, nachdem du mir das gesagt hast."? Ja, ich bin traurig! Aber hör mal: Lass mich ruhig traurig sein. Eigentlich ist meine Trauer lächerlich im Vergleich zu dem, was du fühlst. Und bitte, halte dich nie wieder mit deinen Erzählungen über deine Schwester zurück, weil du glaubst, du würdest jemandem "den Tag versauen". (Hat dir das jemand mal gesagt, dass du das hättest?) Lass sie doch ruhig heulen über ihre Luxusprobleme, sie wissen doch gar nicht, wie es wirklich ist. Können es nicht wissen. Auch ich kann es nicht. Ich kann nicht ansatzweise nachempfinden, was du leidest, was deine Schwester leidet. Was ich fühle, auch wenn es nicht schön ist, ist nur ein winziger Hauch davon. Nimm keine Rücksicht auf mich, ich habe sie nicht verdient. Erzähle mir, was du zu erzählen hast. Ich kann jederzeit das Fenster wegklicken. So wie jeder, dem du das alles erzählst, und dem es nicht passt, jederzeit aufstehen und gehen kann. Ich werde nicht wegklicken. Aber es ärgert mich, dass Menschen dir das Gefühl geben, du solltest die Geschichte deiner Schwester nicht erzählt haben. Wie kommt man dazu? Sie fühlen Trauer, sie fühlen auch Schmerz, ja. Aber kann dir das helfen? Warum sollst DU dich zurückhalten, nur weil sie dadurch beeinträchtigt werden - obwohl du doch selbst leidest? Kannst du einen Schalter in dir umlegen, sodass du nicht mehr das Bedürfnis hast, darüber zu sprechen? Nein, das kannst du nicht. Es wird dich stets begleiten. Und wir alle mit unseren Luxusproblemen (denn das sind sie in diesem Moment) machen uns keine Vorstellung davon, was du leidest. Lass dich niemals in deinen Gefühlen hemmen, nur weil es jemand anders nahe geht. Es geht schon in Ordnung, wenn ich von Zeit zu Zeit daran erinnert werde, wie gut ich es getroffen habe. Dann kann ich auch mal traurig sein. Deswegen musst du dich nicht beherrschen. Ich danke dir, dass du all das aufgeschrieben hast, und mir für heute Abend die Augen geöffnet hast.

Stell dir einmal zwei Dinge vor.

Das erste ist: Du bist zwanzig Jahre alt. Auf einmal geht es deiner Schwester schlechter, ihre Organe beginnen zu versagen. Wieder wird alles versucht, aber ihr Zustand wird immer kritischer. Du weißt, es geht zu Ende. Deine Gedanken rasen. Du weinst die Nächte durch. Und eines Morgens ist es dann vorbei. Deine Schwester ist gestorben. Ihr kommt zusammen, ihr weint um sie - sie wird begraben. Du gehst in ihr Zimmer, wieder musst du weinen. Einen Tag, zwei, Woche um Woche. Anfangs scheint es dir, es würde nicht aufhören. Aber irgendwann merkst du, wie der Schnee schmilzt, wie deine Tränen weniger werden. Du traust dich wieder auf die Straße. Du gehst mal wieder ein bisschen aus. Du lernst jemanden kennen, verliebst dich. Du fängst dein Studium an, lernst neue Leute kennen. Und schon ist deine Schwester ein gutes Stück von dir weggerückt. Du denkst immer noch an sie, manchmal musst du auch noch weinen. Aber dein Leben geht weiter, und du hältst es in der Hand. Laura ist nicht verschwunden, aber nicht mehr überall präsent, und mehr und mehr wirst du dein eigener Lebensmittelpunkt.

Die zweite Situation ist die: Du bist siebzig Jahre alt. Seit Jahrzehnten hat deine Schwester bei dir gewohnt, du hast für sie gesorgt, du hast sie überall hin mitgenommen. Du hast sie deinem Mann vorgestellt, deine Kinder nennen sie Tante, auch wenn sie sie nicht gut versteht. Du richtest deine Planung nach ihr, deinen Urlaub, du bleibst am Ort wohnen, weil sie es dort kennt. Du lebst dein Leben, aber sie war immer der entscheidende Faktor in deinen Handlungen - die Person, von der es letztlich abhing, ob du etwas getan hast oder nicht getan hast. Dann ziehen deine Kinder aus, eins nach dem anderen. Manchmal fragen sie nach ihrer Tante Laura, die inzwischen selbst schon älter ist, aber sie haben ihr eigenes Leben. Du fühlst dich selbst altern, deinen Ehemann, deine Kinder siehst du frei - freier, als du warst. Du schaust an dir herab, und fragst dich: Habe ich etwas verpasst? Bin ich lahm geworden, ehe ich richtig laufen konnte? Was hat mich gehemmt? Und dann bleibt dein Blick bei ihr hängen, bei deiner Schwester Laura.

Liebe Anonyme: Ich gehe davon aus, dass dir bei beiden Schilderungen nicht wohl war. Ich möchte dich sehr um Entschuldigung bitten, wenn es dich geschmerzt hat, und ich bin mir bewusst, dass es das vermutlich hat. Aber ich wollte dir zwei Wege vorführen, die du jetzt gehen kannst - und von denen vermutlich keiner dir gefällt, du keinen gehen möchtest. Dafür habe ich großes Verständnis.

Wenn du aber weiterhin in so gnadenlosem Schwarz und Weiß denkst, wirst du früher oder später einen dieser zwei Wege einschlagen. Davor möchte ich dich warnen.

Dein Wunsch ist es, deiner Schwester zu helfen. Du möchtest ihr in ihrem Leben eine Stütze sein, es ihr so schön machen wie nur möglich ist. Das ist die beste und tollste Absicht, die du haben kannst - und man könnte es dir zum Vorwurf machen, wenn du es gar nicht wolltest, das ist wahr. Doch du darfst eines nie vergessen: Du bist nicht deshalb auf der Welt, weil es deine Schwester gibt, sondern auch um du selbst zu sein. Und du kannst ihr nur effektiv helfen, wenn du nie vergisst, dass du kein Stück Holz und keine Maschine bist. Sondern ein Mensch mit Bedürfnissen und Gefühlen. Es mag der Punkt in deinem Leben kommen, an dem du dich entscheiden musst: Zwischen etwas, das du unbedingt willst, wonach du dich sehnst - und dem, was deiner Schwester das Angenehmste wäre. Vielleicht wird der Mann, den du liebst, in einer anderen Stadt einen Job haben können, den abzulehnen verrückt wäre. Oder du möchtest unbedingt diese Reise machen, unbedingt diesen Auftrag kriegen, oder, oder... Es wird mehr als einen Moment in den kommenden Jahren geben, in denen du dich bei etwas, das du eigentlich von ganzem Herzen wünschst, fragen wirst, ob deine Schwester damit zurecht kommt. Es ist sehr wichtig, dir diese Frage zu stellen - wieder und wieder. Doch sie kann nicht immer so ausfallen, dass du dir selbst etwas nimmst, um deiner Schwester etwas zu geben. Vielleicht wird man dir dann sagen: "Du bist ja egoistisch." Ist das wahr? Bist du egoistisch, weil du dein Leben gestalten und genießen möchtest, während deine Schwester sich nach dir sehnt - deine Schwester, die dir deswegen nicht egal ist, die du nicht vergessen willst, sondern für die du soviel getan hast? Bist du egoistisch, weil du sie nicht immer und stets zu hundert Prozent schonen möchtest? Weil du berechtige Träume und Pläne hegst, die mehr von dir fordern? Bist du deswegen egoistisch?

Meine persönliche Antwort ist: Nein. Du WÄRST egoistisch, wenn du über Nacht verschwinden würdest, um niemals wieder zu kommen. Du wärst egoistisch, wenn du sie irgendwo zurücklassen und ihr das, was sie liebt und ihr vertraut ist, mutwillig nehmen würdest. Du wärst egoistisch, wenn dir ihre Belange egal wären. Das sind sie aber nicht. Du suchst vielmehr nach einem Mittelweg, der dir erlaubt, es ihr gut gehen zu lassen, aber auch dir selbst. Und das ist nicht egoistisch, sondern gut. Denn ich wiederhole: Du bist kein Stück Holz, keine Maschine, sondern ein Mensch mit Bedürfnissen und Gefühlen. Man kann nicht nur für jemand Anderen leben. Denn das geht nicht gut. Es würde dir eine Zeit lang gelingen, deine Enttäuschung über das Gefesselt-sein, über die Einschränkung, die sie bedeutet, vor ihr zu verbergen. Aber irgendwann würde sie es merken. Sie würde es merken in deinen Berührungen, an deiner Stimme und deiner ganzen Art, würde sie es merken, dass du verbittert bist. Dass du dich verraten hättest. Du wärst ihr treu geblieben, deiner Verantwortung für sie - aber wenn du dich selbst verraten würdest, hätte das alles keinen Wert. Sie hätte dann keinen Menschen an ihrer Seite, nicht ihre Schwester, die sie liebt und nach der sie sich sehnt - sondern eine Maschine, ein Stück Holz. Ein Steinwesen, dem allmählich vielleicht auch die Liebe abhanden käme. Und das wäre eine Katastrophe.

Liebe Anonyme: Mache Pläne. Geh aus. Träume von Reisen. Finde die Liebe. Geh deinen Hobbys nach, lebe dein Leben - vergiss nicht, dass deine Schwester ein Teil davon ist, aber lebe dein Leben. Wenn du es nicht tust, wirst du irgendwann feststellen, dass du alles von einem abhängig gemacht hast, von Laura; dass es sonst kaum mehr etwas gibt. Und dann wirst du im schlimmsten Fall beginnen, wütend auf sie zu sein. Und wirst dir wiederum vorwerfen, das dürftest du nicht. Ein Teufelskreis. Ich warne dich deshalb, weil ich befürchte, dass er schon jetzt in Gang kommen könnte.

Was, glaubst du, wünscht sich deine Schwester? Glaubst du, sie wünscht sich, dass du Tag und Nacht bei ihr wachst, während deine Stimme aber schwer ist von Einsamkeit und Ärger über das, was du verpasst? Glaubst du, sie will, dass du ihr jeden Wunsch von den Augen abliest, aber deine Hände grob und kalt werden, weil du es insgeheim über hast, aber es nicht zeigen willst, dir nicht einmal eingestehen willst?

Wenn du das so machen würdest, wärst du Holz, wärst die Maschine, wärst der Stein. All das liebt deine Schwester aber nicht. Sie liebt den Menschen, der du bist. Und dieser Mensch, den sie liebt, funktioniert nur mit seinen Gefühlen, seinen Freunden und Erfahrungen, mit seinen Hobbys, seinen Plänen und Träumen - allem, was dich außer der Tatsache, dass du ihre Schwester bist, auch noch ausmacht.

Ich kenne deine Schwester nicht, aber ich sage dir, was sie sich wünscht: Sie wünscht sich eine Schwester, die beschwingt und fröhlich mit ihr den Vormittag verbringt, weil sie sich auf den Film mit ihrem Liebsten am Abend freut. Sie wünscht sich eine Schwester, die zärtlich ist, wenn sie für sie sorgt, das Essen mit Freude gemacht hat, weil der Tag am See so schön war. Sie wünscht sich eine Schwester, die auch mal schwermütig ist, auch mal weinen kann, weil sie Stress hatte. Sie wünscht sich den Menschen, der du bist, mit all seinen Höhen und Tiefen, seinen Stärken und Schwächen - mit seiner Echtheit, seinem ganzen Ich. Und keinen Steinbrocken, der seine Tränen versteckt, sein Hände mechanisch bewegt, sein Herz verhärtet, alles aus Routine macht. Du kannst nur dann so für sie sorgen, wie du es willst, wenn du immer auch deinem restlichen Leben genügend Raum gibst. Wenn du das, was du für sie tust, nicht als Pflicht begreifst, sondern genug Raum hast, glücklich zu sein, leicht - oder traurig -, ohne dass sie der Grund ist; wenn du genug deinen Träumen folgst, deinen Bedürfnissen, um sie als das Geschenk zu sehen, das sie ist, als das du sie beschrieben hast. Du kannst nur so für sie sorgen, wie du es willst, wenn du nicht immer noch mehr für sie tun willst - sondern weißt, dass du dein Leben leben musst, um überhaupt etwas für sie tun zu können, das von Wert ist.

Du hast von deinem Problem gesagt, es sei eines ohne Lösung. Wenn du unter Lösung etwas verstehst, das die Problematik vollkommen beseitigt, muss ich dir zustimmen: Denn es wird nicht das letzte Mal sein, dass du fühlst, was du fühltest, als du uns geschrieben hast. Und dies ist mir auch noch wichtig: Lass es zu, auch mal wütend zu sein. Lass es zu, dass du nicht aus noch ein weißt. Diese Gefühle sind in dir, sie werden dich nicht nur aus diesem Grund überwältigen, sondern auch noch aus vielen anderen Gründen, in anderen Angelegenheiten. Und wenn du sie hast - was tust du dann? Dich verkriechen und hoffen, dass es weg geht? Nein, das machst du besser nicht. Du wirst reiten, wirst feiern, wirst mit Freunden weggehen. Wirst das machen, was dich ans Leben bindet. Vielleicht, vielleicht wirst du auch zu ihr gehen, und sie in den Arm nehmen. Aber nicht immer wirst du die Kraft - und auch nicht die Lust - dazu haben. Gesteh dir zu, dass es dir manchmal zuviel wird. Denn gerade in diesen Situationen merkst du deutlich, wie wichtig es ist, dein Leben zu leben. Du kannst viel für deine Schwester tun, kannst ihr ihr Los erleichtern - aber du kannst es nicht, wenn du nicht anerkennst, dass du auch ein Mensch bist. Was wäre, wenn eure Plätze vertauscht wären? Es ist nicht möglich, sich in die Gedanken deiner Schwester zu versetzen, aber ich glaube nicht, dass es ihr Wunsch wäre, dir alles zu nehmen, was dich für sie liebenswert macht. Das wäre doch ein Widerspruch, oder? Und deswegen habe ich dir auch geschrieben, was ich geschrieben habe, und jetzt noch einmal auf den Punkt bringe: Du bist nicht ihre "unverdient" geliebte Schwester, sondern bist mit vollem Recht ihre sehr geliebt und bewundernswerte Schwester. Und diese Schwester will sie nicht verlieren. Sie wird sie nicht verlieren, wenn du mal etwas weniger Zeit für sie hast. Aber sie wird sie verlieren, wenn du dir selbst vorwirfst, dass du - zugegeben - mehr Glück hattest als sie. Wenn du dich aufgibst. Und deswegen solltest du es nicht tun. Sondern du sollst leben, sollst das tun, was du möchtest - ich weiß, du wirst sie nie vergessen, wirst sie nicht im Stick lassen. Und da du das nicht tun wirst, wird das Leben, das du lebst, ihr so lange wie möglich die Schwester erhalten, die sie liebt. Zu Recht. Das bist du.

Alles Gute und Liebe Grüße euch beiden,

Paul