Problem von Anonym - 25 Jahre

Auf dem Arbeitsmarkt keine Chance

Hallo!

ich habe ein Problem, was sich langsam entwickelt hat. Es ist die Studiendauer!
Schon in der Schule hinkte ich 1 Jahr hinter her, wegen späterer Einschulung, und
dann habe ich nochmal ein Jahr wegen dem Zivildienst verloren. Das finde ich aber
auch nicht weiter schlimm.
Ich studiere Physik. Am Anfang lief alles gut, früher hatte ich Module vorgezogen.
Alles hat mit einem Praktikum angefangen, was ich wiederholen musste. Da das Praktikum
über 1 Jahr ging, hat das meine Studiendauer um 1 Jahr gesteigert. Das macht mir aber
auch noch nichtmal was aus.
In meinem Studium sind 2 Laborpraktika vorgesehen. Jetzt habe ich nach 8 Semestern
alles fertig gemacht inklusive Bachelorarbeit und nur noch 1 Praktikum fehlt,
welches nochmal über ein halbes Jahr gehen wird/gegangen wäre.

Wir können Module vom Master belegen, auch wenn wir den Bachelor noch nciht abgeschlossen haben.
Dies tu ich auch im Moment, weil ich nur noch dieses Praktikum wiederholen muss. Für das
Praktikum sind 180 stunden arbeit vorgesehen, also 20 Prozent von dem, was man in einem Semester
in der Regel schaffen sollte (regel sind 900 stunden pro semester). Das praktikum habe ich parallel zu den Mastermodulen gemacht.
Das war jetzt für mich auch noch ok, aber ich habe mir schon gedacht, wenn jetzt noch mehr schief geht, wirds langsam kritisch.

So vor ein paar Tagen bin ich aus dem Praktikum rausgeflogen. Zu jedem Versuch gibt es
eine Anleitung, in der steht, was die Theorie hinter dem Versuch ist, wie der Versuch aufgebaut ist
und wie der Versuch durchgeführt wird. Ich habe mir alles genau durchgelesen und mir stichpunkte gemacht.
Als der Assistent kam hat er mich Dinge gefragt, die dort überhaupt nicht standen. Daraufhin
hat er mich rausgeworfen. Hinzu kommt, dass er mich spöttisch gefragt hat, in welchem
Semester ich denn wäre. Wusste er vielleicht, dass ich hinterherhinker ?
Der Assistent ist dann zur Leitung gegangen, ich ihm hinterher, er ist in den Raum der
Leitung hat mir die Tür vor der Nase zugeknallt, aber ich habe sie trotzdem wieder
geöffnet und bin auch in den raum hineingegangen. Die Leitung hat mir dann erklärt,
dass es nicht reichen würde, die Versuchsanleitung zu studieren, sondern man
sich bei diesem Praktikum auch immer zusätzliche Literatur anschauen müsste. Bei meinem
Versuch davor und allen anderen vom vorherigen praktikum hatte ich das jedoch auch nicht gebraucht
und auch meine ehemaligen Praktikumspartner in dem vorherigen Praktikum haben das nie gebraucht.
Gut jetzt weiß ich es.
Die Leitung hat mir auch gesagt dass ich das Praktikum in diesem Semester nicht mehr schaffen werde.

Das Problem ist jetzt, dass ich das Praktikum erst 1 Semester später machen kann. Ich habe schon
geguckt und gesehen, dass das nächste Praktikum was angeboten wird aber mit den Prüfungsterminen
sogar noch in das darauffolgende, mein 11. Semester, hineingehen wird. In dieser ganzen Zeit
kann ich keine Mastermodule machen und habe Leerlauf. Ich verschenke wegen diesem Praktikum
1.5 Jahre meiner Zeit. Wenn ich dann das praktikum fertig habe, habe ich doppelt so lange
für meinen Bachelor gebraucht wie vorgesehen, und das finde ich wirklich lächerlich und
es ärgert mich, denn ich hätte es auch in 8 Semester geschafft.

Die Leute, die früher in meiner Stufe waren, sind entweder schon doktoranden oder stehen mit
beiden Beinen im Berufsleben, und die waren schon 2 Jahre jünger als ich. Das hat sich halt alles
summiert: 1 Jahr vorschule, 1 Jahr zivildienst (viele wurden ausgemustert, frauen mussten nicht),
1 jahr im studium verloren, 1.5 Jahre jetzt wegen diesem
praktikum, wobei ich letzteres wirklich auch lächerlich finde. Die Leute, die früher 3-4 klassen
unter mir waren, haben mich schon überholt teilweise. Unterm Strich habe ich also 6.5 jahre rückstand
teilweise. Wenn ich darüber nachdenke, wie es anfangs gelaufen ist und was
letztendlich daraus geworden ist, werde ich richtig traurig und
ich frage mich ob es so sein muss und ob ich überhaupt eine Anstellung finde so.
Durch dieses praktikum wirke ich doch auf Arbeitgeber so, als hätte ich null Bock, obwohl
das nicht stimmt. Daran noch was zu drehen, ist jetzt natürlich auch schwierig,
für eine Ausbildung ist mein Alter mittlerweile auch recht hoch, da werden die
jüngeren Bewerber vorgezogen werden, die frisch von der Schule kommen. Also müsste
ich mir, wenn ich jetzt tatsächlich abbreche, eine gute Begründung einfallen lassen.
Wenn ich weiter mache, muss ich mir aber auch eine gute Begründung einfallen lassen
für meine späteren Arbeitgeber. Eigentlich wollte ich den Doktor machen, aber
ich denke das kann ich mir sowieso abschminken mit diesem Lebenslauf.
Das Problem ist auch, dass die viele Konkurrenz mich ausstechen wird. Keiner
meiner Kommilitonen ist jetzt auf diesem Level wie ich mit dem Überziehen,
da wird jeder andere Bewerber vorgezogen werden. Es liest sich vielleicht
unrealistisch, aber ich befürchte, dass ich als Langzeitarbeitsloser
enden werde. Und das tut mir umso mehr weh, weil ich immer es so gut
wie möglich machen wollte. Die Stellen in der Industrie richten sich ja auch eher
an technischere Studiengänge(Ingenieur, Informatik), Physik macht man, weil man
promoviert und in Forschung und Entwicklung arbeitet. Das war auch mein Ziel
gewesen, aber die Chance da noch rein zu kommen sehe ich ehrlich gesagt nicht
gegeben. Und wenn schon die "normalen" Absolventen in der Industrie
die mit 50-%-Stellen abgespeist werden, dann werde ich
erst recht abgespeist bzw. erst gar nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen.
Wenn ich eine Ausbildung gemacht hätte, wären diese Probleme nicht da. Betriebliche Ausbildung
ist heutzutage fast eine Jobgarantie.
Vielleicht denkt ihr dass das jammern auf hohem Niveau ist, aber ein Studium ist heutzutage
meiner Meinung nach auch nicht mehr der Jobgarant, der er vielleicht früher war. Eine
betriebliche Ausbildung ist schon fast eher eine Jobgarantie als ein Studium. Das ist zumindest meine
Meinung. Im Nachhinein bzw. wenn ich diesen verlauf vorher gekannt hätte, hätte ich direkt
eine Ausbildung gemacht. Auch eine Ausbildung ist zwar kein Zuckerschlecken,
aber ich denke damit wäre ich auch gut gefahren, mein Abitur war ja relativ gut gewesen (2.2), aber das ist
schnee von gestern.
Auf jeden Fall wünsche ich mir, später eine Beschäftigung und einen geregelten
Tagesablauf zu haben und nicht dazu gezwungen zu sein, den ganzen Tag vor mich
hinzugammeln. Ein Dach über dem Kopf ist sowas selbstverständliches, aber dann doch wieder nicht.
Menschen ohne Job werden von der Gesellschaft geächtet, aber das ist meist zu unrecht.
Mein Plan ist im Moment, dass ich die Mastermodule trotzdem mache. Ich habe schon mit der
Studienberatung Physik gesprochen und die hat mir gesagt, dass ich so viele
Mastermodule vorziehen kann, wie ich will, auch wenn mein Bachelor erst
im nächsten Semester abgeschlossen ist. Das beruhigt mich ein wenig.
Ein anderer Professor meinte aber, dass das überhaupt nicht gehen würde,
aber ich glaube bzw. hoffe dass der Studienberater da recht behält.
Meine Hoffnung ist, dass ich damit den Unterschied doch nochmal
verkleinern kann. Aber im Moment überwiegt einfach die miese Stimmung.
Um genau zu sein, ist die Miese stimmung seit 2 Tagen, als ich aus dem praktikum geflogen bin,
davor war zwar auch ein bisschen Angst da, aber dann ist das fass übergelaufen.
Die Zeiten, in denen ich das alles für ein paar Stunden vergesse, ist
das Training in meinem Verein und die Hausaufgabenhilfe, das werde ich auch niemals fallen lassen, auch nicht
wenn es am Ende doch nicht für einen richtigen Job reicht.

Danke fürs Lesen dieses langen Textes

Freundliche Grüße

Anna Anwort von Anna

Hallo Du,

vielen Dank für Dein Vertrauen und für die ausführliche Schilderung Deiner Situation. Dein Problem zu beantworten, liegt mir ganz besonders am Herzen, weil mir das, was Du schilderst von den Gefühlen und Ängsten, die dahinter stehen, sehr bekannt vorkommt.

Zunächst einmal solltest Du aber versuchen, Dich mal ein wenig von der marktwirtschaftlichen Sicht auf die Welt loszukoppeln. Dein Wert bemisst sich nicht nach Regelstudienzeit und auch nicht nach Deinem Alter, wozu man sagen muss, dass Du eben tatsächlich ERST 25 Jahre alt bist und nicht SCHON 25 Jahre alt. Du hast ein gutes Abitur gemacht, in dem Sinne zählt auch nicht eine "spätere Einschulung", darunter fallen nämlich 50% der Kinder. Also - Du hast ein sehr gutes Abitur bestanden - herzlichen Glückwunsch, das schafft nicht jeder und Du gehörst wahrscheinlich mit diesem Durchschnitt zum oberen Drittel Deiner ehemaligen Stufe. Danach hast Du Zivildienst geleistet und in diesem Jahr sicherlich viel an wichtiger Erfahrung über Menschen, über verschiedene Tätigkeiten und auch über Dich selbst mitgenommen. Und jetzt studierst Du ein Studienfach, das zu den schwersten und anspruchvollsten einer Universität gehört und in dem es eine sehr hohe Abbrechquote gibt.
Nur um das mal zusammenzufassen. Wenn ich als Arbeitgeber Deinen Lebenslauf sehen würde, wäre ich wahrscheinlich ziemlich beeindruckt.
Deine Ängste vom Scheitern und die Torschlusspanik, die Dich quält, sind Ängste, resultierend aus Maßstäben, die nicht nur jede Menschlichkeit über Bord werfen, sondern von Leuten gemacht wurden, die in der kapitalistischen Marktwirtschaft tätig sind. Ja, es sind Ängste des Kapitalismus. Zu spät, zu alt, zu schlecht, zu arm, gescheitert, sinnlos, nutzlos. Diese Begriffe sind es, die Millionen Menschen tagtäglich quälen, und zwar keine Menschen, die am Existenzminimum leben, nein, ich meine Menschen, die in der Mittelschicht leben, ein mehr oder weniger geregeltes Leben führen und sich von einem unbarmherzigen Markt Werte einreden lassen, die alles andere als human und erstrebenswert sind.

Unbegründet sind Deine Ängste natürlich auch nicht vollkommen. Sicherlich ist ein Studium kein Garant mehr für einen gutbezahlten Job. Aber ein guter Arbeitgeber sieht auch nicht nur darauf, was Du studiert hast, sondern betrachtet auch die sekundären Skills, die Du mitbringst - Organisationsvermögen (um ein Studium überhaupt bewältigen zu können), Intelligenz, Disziplin, Ausdauer, logisches Denken, Kategorisieren - ganz abgesehen von der fachlichen Kompetenz, die Du mitbringst.
Ob Du einen heißen Job in der Forschung bekommst, kann ich Dir natürlich nicht sagen, zumal Physik und deren Forschung ein für mich fremdes Feld ist, aber dass Du nach Deinem Studium einen nicht schlechtbezahlten Job bekommen wirst, darauf würde ich doch stark spekulieren!
Du tust zudem gut daran, Dich nicht nur auf EIN mögliches Berufsziel zu versteifen, sondern die Augen offen zubehalten. Vielleicht entdeckst Du ja auch noch andere Schwerpunkte in der Physik und admit einhergehende Berufe, die Dich interessieren. In der Studienberatung können sie Dich sicherlich über solche Optionen aufklären.

Du hast ein Dach über Kopf, Du hast genug Geld zum Leben, Du machst ein tolles Studium - meiner Meinung nach hast Du alle Gründe, stolz auf Dich zu sein und Dich darin erstmal fallen zu lassen. Vielleicht könntest Du weiterhin Gedanken darüber machen, was andere Gründe für diese Panik sein könnten.Gibt es vielleicht noch andere Bereiche in Deinem Leben, mit denen Du unzufrieden bist, die Dir bisher aber nicht so bewusst waren? Oft liegen die Ängste tiefer als die direkten Probleme, die uns sichtbar sind, aber es lohnt sich immer, ihnen nachzugehen.
Betrachte auch mal Dein Umfeld kritisch. Fühlst Du Dich wohl in Deinem Freundeskreis? Werden Deine Ängste dort positiv aufgefangen oder eher bestärkt? Wie sieht Deine Familiensituation aus, was sagen Deine Eltern zu diesen Ängsten? Und, gar nicht mal so unwichtig, mit welchen Medien konfrontierst Du Dich tagtäglich? Sind es Artikel, Zeitschriften und Sendungen über Karrierechancen und renommierte Physiker? Achte darauf, wie streng die Welt ist, in der Du lebst und ob es sich nicht lohnen würde, den Kopf einmal in eine andere Welt zu stecken...

Ich hoffe, ich konnte Dir ein bisschen helfen. ;)

Viele liebe Grüße und alles Gute,

Anna