Problem von Marie - 20 Jahre

Verloren

Hallo, ich finde mich einfach nicht nicht zurecht.

Ich war schon immer ein "seltsames" Kind, bis ich etwa 12, 13 war hatte ich keine wirklichen Freunde. Zum Einen war ich "in der Öffentlichkeit (Schule)" unglaublich schüchtern; so schüchtern, dass es mich richtig lähmte. Ich hasste es über mich selbst und meine Interessen zu sprechen - nicht mal über einfache Dinge wie Lieblingsband, - buch etc. Ich konnte einfach nichts über mich preisgeben, so unsicher war ich. Andererseits hatte ich meine Familie und allen voran meine Geschwister, die von klein an auch meine besten Freunde waren. Dazu war ich extrem wissbegierig, saugte Wissen in mich auf wie ein Schwamm, las mich durch die Bücher meiner Eltern und liebte es, ihnen und deren Freunden zuzuhören, wenn sie etwa von Geschichte und Philosophie erzählten - und auch richtige, "hitzige" Diskussionen mit ihnen zu führen. Meine Geschwister und deren Freunde waren immer für mich da, also "ging mir eigentlich nichts ab".

Dies änderte sich allerdings als ich allmählich in die Pubertät kam. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich in meiner Klasse keine Freunde hatte. Zu schüchtern und gehemmt, mit den anderen zu reden, hatte ich es versäumt, Anschluss in der Klasse zu finden. Ich war zwar akzeptiert als die leise, brave Marie, verstand mich mit allen... aber niemand kannte mich so wie ich wirklich war: Ich steckte in meiner Rolle fest, wie gelähmt, die Klassengemeinschaft war gefestigt und ich wagte es einfach nicht, mich zu den anderen dazuzugesellen - wahrscheinlich hätten sie mich ohne Probleme aufgenommen, wäre ich nur auf sie zugegangen.

Ich flüchtete mich in Tagträume, träumte mich in meine liebsten Serien (mittlerweile hatte ich das Internet entdeckt) und Bücher und lebte in der heilen Welt daheim. Klassenausflüge waren mein Alptraum, hier konnte ich mich nicht mehr belügen und mir wurde vor Augen geführt, dass ich nicht dazugehörte.

Mein Wissensdurst von damals wurde verdrängt von dem Wunsch, dazuzugehören, eine beste Freundin zu finden, mich zu verlieben etc. - irgendwann das "normale" Leben einen Jugendlichen zu führen. Ich war todunglücklich und fühlte mich wie unglaublich einsam, falsch und irgendwie fehlerhaft.

Mit 14, 15 wurde dann die Klasse neu zusammengesetzt und ich freundete mich langsam und vorsichtig mit einer der Neuen an und wurden schnell beste Freunde. Auch sie ist kein "typischer Mädchen", sie macht sich nichts aus Mode, schminkte sich lange nicht, hatte immer die Hausübungen, war die, die die Arbeiten machte, die niemand machen wollte und nach der Stunde noch die Tafel löschte... die selbstloseste, geduldigste Person, die ich kenne. Zugleich war sie im Gegensatz zu mir sicher, wusste immer was sie will und konnte offen und fröhlich, dazu stehen - völlig zufrieden damit, wie sie ist. Bis heute ist sie für mich ein Ruhepol, der immer für mich da ist.

Für eine Weile war ich selig, ich hatte meine Familie und meinen kleinen Kreis von Freundinnen, bei denen ich "ich" sein konnte. Bald kam allerdings wieder das Gefühl hoch, nicht dazuzugehören, ich hatte meine Freunde, aber wir gehörten immer noch nicht wirklich zur Klasse, vor dem Großteil war ich immer noch "stumm". Im Studium sollt alles anders werden, sagte ich mir.

Ich inskribierte mich für Mikrobiologie und begann mich anzupassen: Ich verhielt mich wie die anderen, begann die gleichen Dinge zu mögen... ich wollte meine Schüchternheit ablegen, was mir auch gelang... Zwei Jahre später kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, wie unmöglich es mir früher gewesen wäre, mich etwa mit meinen früheren Klassenkollegen, mit Kommilitonen, vor der Uni spontan zu unterhalten. Eine Weile war ich überglücklich - ich war nicht mehr Gefangene meiner Hemmungen, ich konnte mich ändern, konnte so sein wie die anderen, normal sein!

Mit der Zeit merkte ich leider, dass irgendetwas fehlte. Das Studium stieß mich ab, es war mir zu einzelgängerisch, zu "nerdig"... Mein ursprünglicher Plan war es gewesen, Medizin zu studieren, nach einem Semester Mikrobiologie wollte ich allerdings nur noch weg von der Naturwissenschaft, von diesem einsamen Studium. Ich wechselte auf Lehramt. Zum Einen um mein Interesse für Englisch auszuleben, andererseits weil ich "wachsen" wollte. Ich wollte mich verändern, endlich normal werden. Ich fand auch schnell Freunde bzw. eine Studiengruppe, begann das Studentenleben zu leben, mit trinken, feiern, etc.

Trotzdem nagte irgendetwas an mir, irgendetwas fehlte. Ich öffnete verschiedene Ergänzungsstudien und schloss sie wieder, suchte vergeblich nach der Eingebung, nach dem was mich endlich erfüllen würde - ohne es zu finden.

Beim Gedanken an meine Zukunft wurde mir regelmäßig übel, ich vermied es darüber nachzudenken und schob meine ständigen Zusatzstudien auf meine Interessen. Mit der Zeit wurde ich aber immer unglücklicher... Ich bin ständig unruhig, kann mich nicht mehr aufs Lernen konzentrieren, weil ich ständig nach Alternativen suche, nach einem Studium das mich glücklicher machen könnte, das mich erfüllen würde. Irgendwann wurde mir klar warum ich so getrieben bin: Ich weiß nicht mehr wer ich bin. Ich habe nicht versucht, ich zu sein, sondern immer andere zu imitieren. Ich habe mich verloren, fühle mich gefangen in den Entscheidungen, die ich getroffen habe. Mit fehlt ein Sinn, etwas für das ich brennen kann. Durch die verschiedenen Fächerkombinationen in meinem Studium gibt es keine richtige Gemeinschaft, die meisten gehen nicht mal in die Vorlesungen und mir fehlt es, etwas wirklich zu können und können zu wollen.

Ich möchte lernen und wissen, und das Studium ist zu oberflächlich, ich fühle mich einfach gefangen. obwohl ich nun bei einer Gruppe dabei bin, fühle ich mich trotzdem als gehöre ich nicht dazu. Ich fühle mich als würde ich mich verstellen, eine Lüge leben. Ich bin eine Fassade.

Vor lauter Verstellung habe ich meine Begeisterung verloren, den Willen etwas wirklich zu können... Ich habe ein Studium begonnen, dass mich nicht begeistert und lebe vor mich hin. Ich habe meinen Traum von Medizin bzw. Musik aufgegeben um dazuzugehören und nun hab ich jede Begeisterung verloren. Ich fühle mich als wäre ich ein schwarzes Loch oder ein Dementor, ich sauge die Freude auf und werde dadurch nur immer größer und dunkler. Ich kann nicht mehr zu meinen alten Interessen, zu meiner früheren Sicherheit zurückkehren. Als Kind wollte ich Archäologin, Medizinerin, Musikerin werden... wo hab ich meine Hoffnungen, meine Träume verloren? Wann ist es mein einziger wichtiger Wunsch geworden, dazuzugehören? Wie kann es sein dass ich meine Begeisterung, meine Hoffnung verloren habe.

Ich finde keinen Sinn im Leben, oft wünsche ich mir sogar, dass es einfach vorbei wäre, so hoffnungslos erscheint es mir. Mein ganzes Leben ist ein Kampf, gegen meine Hemmungen, gegen meinen Körper (momentan Bulimie), gegen meine Persönlichkeit, gegen meine innere Leere. Meine ständigen Studienwechsel, meine Suche, im Grunde ist alles sinnlos, weil ich nur vor dem eigentlichen Problem weglaufe: Mir selbst.

Ich kann nicht so weiterleben, in einem Studium, einer Welt, in der ich mich ständig verstelle, mit einer Zukunft im Kopf, vor der ich Angst habe. Mittlerweile weiß ich aber nicht mehr, ob ich mir selbst trauen kann. Was ist wenn ich nach einem Wechsel zu Medizin immer noch nicht richtig bin? Wie finde ich meine Begeisterung wieder? Woher weiß ich, dass ich nicht wieder nur flüchte und das Problem, dass ich mich fehl am Platz fühle, nur verdränge? Wie finde ich mich selbst wieder?

Danke
Marie

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Marie,

ich habe mir deinen Text durchgelesen - und weißt du, was mir unheimlich auffällt? Du beschreibst dich selbst; und was du beschreibst, ist in meinen Augen eine unheimlich vielseitige, selbstreflektierte, wagemutige, umtriebige, ehrgeizige und liebenswürdige junge Frau. Die jedes Mal, wenn sie eine ihrer guten Eigenschaften porträtiert hat, nichts Besseres zu tun hat, als sofort anzumerken, dass diese Art zu sein, ja eigentlich "nicht richtig" ist, irgendwie an dem vorbeigeht, was die Welt braucht und was die Menschen wollen.

Du willst glücklich werden, und um dahin zu kommen, arbeitest du ständig an dir, hast gewaltige Entwicklungsschritte gemacht. Doch trotzdem hast du immer noch das Gefühl, es wäre etwas grundfalsch mit dir. Das, was du als Jugendliche wolltest, hast du erreicht. Es reicht immer noch nicht. Du gefällst dir nicht, es scheint dir, als wäre es in der Zeit, in der deine Interessen sich ausgeprägt haben und du den mächtigen Wissensschatz angehäuft hast, der dich jetzt zu deinen Studien befähigt, als wäre es in dieser Zeit unrichtig gewesen, eher still und arbeitsam zu sein. Obwohl du, ohne so gewesen zu sein, heute nicht sein könntest, was du bist. Weißt du, ob du für deinen Freundeskreis vielleicht auch dadurch interessant bist, weil du so belesen und mit so vielen Interessen ausgestattet bist? Weil du so bemüht um deine Zukunft bist, und eben nicht locker-flockig und leichtlebig? Setze dich mal grundsätzlich mit dem Gedanken auseinander, dass es nicht "Sie, auf dem richtigen Weg, die es von Anfang an drauf hatten" gibt, und auf der anderen Seite "Ich, die ich es von Anfang an nicht richtig gemacht habe, und die immer den Anderen hinterher hinkt." Dass diese Kategorien Quark sind.

Ich wüsste nach deinem Text nicht, warum du eigentlich so hart mit dir ins Gericht ziehst. Es mag richtig sein, dass du in deiner Schulzeit eher von Leuten umgeben warst, die das lockere Leben geliebt haben, es haben krachen lassen, während du nicht so der Typ dafür warst. Inzwischen hast du dich dem Kontakt mehr geöffnet, hast dich prächtig entwickelt, zu deiner eigenen Befriedigung. Trotzdem genügt es dir noch nicht. Denn inzwischen ist es so weit, dass du die große Bandbreite deiner Interessen als Schwäche ansiehst. Früher warst du introvertiert, verschlossen, aber eine verschlossene Schatztruhe des Wissens und der tiefgründigen Gedanken, an denen man viel Freude und Gewinn haben kann. Nun hast du dich mehr der Außenwelt zugewandt, hast Freundschaften geschlossen, bist unter deinen Kommilitonen angenommen, aber du bist unzufriedener denn je. Du kannst immer noch nicht stolz auf dich sein, obwohl du doch allen Grund dazu hättest, kannst dir immer noch nicht auf die Schulter klopfen, dass du das alles so toll gemeistert und dich durchgeboxt hast. Nein, jetzt gibt es das Problem (und das ist durchaus nachvollziehbar), dass du dir ein konkretes Ziel wünschst, eine bestimmte Fachrichtung, in die du gehen und die du mit Leidenschaft betreiben kannst.

Nur: Warum begreifst du deine Offenheit als Schwäche? Es ist richtig, dass es gut wäre, dich auf einen Zweig festzulegen. Deswegen sind deine übrigen Interessengebiete aber nicht ausgeblendet. Es gibt keinen berühmten Künstler, der nicht noch andere Leidenschaften hatte, in denen er es zu etwas hätte bringen können. Es gibt kaum einen berühmten Arzt oder Gelehrten, der nicht noch eine musische und überraschende Seite gehabt hätte. Möglicherweise bist du dazu bestimmt, immer wieder in anderen Fachbereichen Zerstreuung und Aufbau zu suchen - ohne dass dein eigentliches Gebiet darunter leiden müsste. Warum denkst du auch hier so absolut? Warum soll es keine Ärztin mit archäologischen Neigungen geben? Warum keine Musikerin, die mit Ingenieuren korrespondiert? Warum sollst du selbst das Problem sein - in dem Sinn, dass deine Konzeption dich nicht rüstig fürs Leben machen würde? Das genaue Gegenteil hast du dir doch selbst ungezählte Male bewiesen! Warum fällt es dir so schwer, anzunehmen, dass du Großes leistest? Warum muss deine Besonderheit und Vielseitigkeit eine Schwäche sein, nur weil sie nicht durchschnittlich sind?

Ich glaube, ich weiß, was dein Problem ist: Du hast - woher auch immer - früh gelernt, dass es eine Norm gibt, einen Idealtypus, dem man gleichziehen muss. Und in dem Moment, in dem du dich für das kritisierst, was du bist, verschwimmen alle anderen Menschen um dich herum zu einer genormten Masse, der es im Gegensatz zu dir zwar an besonderen und außergewöhnlichen Zügen mangelt, die nicht so tiefgründig, nicht so bemüht, nicht so interessiert ist wie du - die dir aber "voraus" hat, dass sie sich treiben lässt mit sich selbst, nicht so viel plant und sich nicht so viele Gedanken macht. Du willst entspannter sein, du willst klarer ausgerichtet sein, du willst abgeklärter und gesetzter sein - du willst nicht nur intellektuell auf dem hohen Niveau sein, auf dem du bist, du willst nicht nur die facettenreiche Persönlichkeit sein, die du darstellst, nein, du willst auch noch, dass dich nichts beeindruckt, dass du alles wagst, alles weißt, alles deinen festen Zielen unterordnest. Du willst, dass dich nichts zweifeln lassen kann, dass dich nichts ablenkt, dass nichts deinen Blick trübt und seitwärts zieht. Kurzum: Du willst perfekt sein. Du hast von Anfang an das Gefühl, du müsstest sein wie Andere (die in Wirklichkeit auch alle verschieden sind, und ihre zahlreichen Probleme haben), du hast von Anfang an das Gefühl, alles sei perfekt, nur du nicht - oder anders gesagt, wenn etwas perfekt sei, wärst du es am wenigsten. Aber so zu denken, geht schief, Marie.

Deine Angst vor der Zukunft ist ein Gefühl, das du ernst nehmen solltest, und das verständlich ist. Doch vergiss nicht, es beschäftigt nicht nur dich. Es ist ein menschliches Gefühl. Und es ist gut, sich von Zeit zu Zeit mit diesen Ängsten auseinanderzusetzen. Heute hast du den Eindruck, wenn du nur erst feste Pläne hättest, wärst du gefestiger und würdest klarer sehen. Aber selbst wenn du das Studium gefunden hättest, das dir inhaltlich absolut behagt, könntest du dich immer noch fragen, ob dieser Abschluss Zukunft hat. Oder umgekehrt: Wenn du ein klares Berufsziel vor Augen hättest, könnte es sein, dass dich die Lehrpraxis furchtbar ermüdet und stresst. Um es auf gut Deutsch zu sagen, einen Tod muss man sterben. Und vielleicht braucht es gerade deine vielen anderen Interessen, braucht es anderweitige Beschäftigung, musst du auch öfter mal Gasthörerin woanders sein, um dann wieder zu deiner Mitte zurückzukehren. Man kann letztlich nur einen Beruf haben, das ist klar. Doch wenn du dir verbietest, dich nach etwas Anderem zu richten als dem, der es sein soll (wenn du ihn wüsstest), würdest du deine ganze Persönlichkeit beschneiden. Hier sind zwei Tendenzen bei dir, die sich widersprechen: Zum einen dein Wunsch nach klarer Richtung, nach einem Ziel, einer festen Neigung zu einem bestimmten Gebiet, und andererseits, dass du deine Leidenschaft, deine Begierde und dein wissenschaftliches Feuer vermisst. Eines will beschneiden, eines will wachsen, sie bekämpfen sich und ersticken sich in dir, Marie, so sieht es aus.

Wie kannst du es schaffen, bei etwas zu bleiben? Wie kann es gelingen, dass du dich wieder etwas verschreibst? Wann immer du etwas beginnst, wird der Punkt kommen, an dem du fühlst, es würde dir etwas Anderes entgleiten. Und wenn du das dann aufgenommen hast, bist du unglücklich, weil du dir wankelmütig, unentschlossen, planlos vorkommst. In solchen Momenten muss dein Umdenken ansetzen: Ohne gewisse Durststrecken kannst du nichts bestehen. Wie willst du wissen, ob dein Studium in der Lage ist, dich hinreichend zu fordern, wenn du dir schwer tust, dich mental darauf einzulassen? Und mit einlassen meine ich nicht, ihm unbedingt mit Leidenschaft zu begegnen, sondern dass du das Gefühl hast: Das ist jetzt gerade am Zug, das Semester werde ich super bestehen. Was danach kommt, weiß man nie. Es ist nicht falsch, sich im Leben auch spontan zu entscheiden, Wechsel zu vollziehen. Aber genauso, wie es verkehrt ist, den Wechsel zur Norm zu machen, so kannst du dir auch nicht verbieten, dich anderen Dingen zu widmen. Setze dir eine zeitliche Grenze, in der du versuchst, die Zweifel auszusperren, bis etwas geschafft ist. Wenn es dich wirklich in eine andere Richtung zieht, kann das auch später noch der Fall sein - bis dahin hast du wenigstens etwas in der Hand. Und letztlich ist es auch nicht so, dass dein Beruf, auch wenn er einen großen Raum im Leben einnimmt, das sein muss, wofür du stirbst, in jeder Sekunde deines Lebens. Sinnsuche findet auf einer größeren Bildfläche statt. Du wünschst dir deine Leidenschaft zurück, aber gleichzeitig verdammst du dich dafür, dass du so breit aufgestellt bist. Und dabei ist Leidenschaft doch genau das: Eben nicht nur nach Abschlüssen und Bewerbungen zu schielen, sich von der Aussicht auf Geld und Sicherheiten leiten zu lassen, sondern vom unmittelbaren Moment. Etwas zu machen, damit es getan ist, ohne nach dem Warum und nach dem Vorteil im persönlichen Einzelfall zu bohren. Du hast in der Tat auch Studiengänge benannt, die viel von dir fordern, die auf lange Zeiträume ausgelegt sind - da fällt es schwer, zwischenzeitlich umzudenken. Ich möchte nicht so weit gehen, ob es vielleicht eine Möglichkeit wäre, jetzt, wo du noch viel Zeit hast, vielleicht auch mal eine kleine Atempause einzulegen - wenn du so getrieben bist? Ich kann dir letztlich nicht so helfen, dass das alles verschwindet. Ich möchte dir vor allem vermitteln, dass das, was du als Schwächen ansiehst, keine sind. Und dass dein Standpunkt zu dir selbst, gerade WEIL du dich entwickelst, sich auch verändert. Das kann ein schmerzhafter Prozess sein, und du spürst das gerade. Aber es gibt keine endgültige Ruhe des Herzens, keine Perfektion, keine Vervollkommnung. Es gibt nur eine lange Reihe von Wagnissen und Entscheidungen, und die Zeit muss zeigen, ob sie richtig sind.

Wenn du Medizinerin sein möchtest - möchtest du das, weil dich Anatomie und Behandlung interessieren, oder willst du es aus Idealismus, weil du Menschen helfen möchtest? Und wenn du Lehrerin sein möchtest - möchtest du das, weil du dich für die Englische Sprache begeisterst, erstmal auf rein akademischer Basis, oder möchtest du besonders gern vor einer Klasse stehen und unterrichten? Wenn du von einem Leben als Archäologin träumst - interessieren dich Altertümer, oder denkst du eher über die akribische Arbeit selbst nach? Jedes Studium birgt eine gewisse Motivation, die manchmal mehr mit dem Fach selbst zu tun hat, manchmal mit der Art, wie man es betreibt. Nehmen wir mal an, wir sprächen von diesen drei Optionen - wahrscheinlich gibt es mehr. Hast du schon einmal versucht, aufzulisten, was dich daran reizt, wie deine Chancen sind, und das miteinander verglichen? Hast du schon einmal - jetzt, wo du das Feuer in deiner Arbeit vermisst - ganz rational überlegt, was deine Gründe sind, die dich in diese und jene Richtung treiben? Setz dich doch mal einen Nachmittag lang hin, und denk darüber nach. Irgendeine Entscheidung muss es ja schließlich geben, aber du kannst nicht unbedingt von dir erwarten, dass sie klar und deutlich in dir aufleuchtet, wenn du doch so viele Facetten hast. Und selbst, wenn du deine Entscheidung einmal getroffen hast - heute, morgen oder nächstes Semester -, wird es immer noch nervtötende Längen und Durststrecken geben. Leidenschaft für ein Fach schließt Langeweile in einer Vorlesung nicht aus, Feuer und Flamme sein nicht Frust über Klausuren. Wenn du auch hier in so absoluten Kategorien von "mit Leidenschaft" und "ganz fehl am Platze", von "läuft vor sich hin" und "ist ganz schrecklich" denkst, dann wird dir eine objektive Beurteilung deines Tuns nicht gelingen. Du trittst mit deinem Studium nie einen ganz lichten Pfad an, sondern es ist immer Schweiß und Frust und Öde dabei. Verlange nicht von dir, leidenschaftlich zu sein, wenn das Menschliche dich einholt, sondern hab den Mut, das Menschliche anzunehmen, damit (vielleicht schon bald) die Leidenschaft wieder zu dir zurückkehrt.

Ich kann dir nur wünschen, dass vor allem etwas zu dir kommt, dass du anscheinend immer schon vermisst hast: Leidenschaft für dich selbst. Überzeugung, dass dein Leben nicht irgendeins ist, sondern dass es überhaupt eine Aufgabe für dich gibt, eine Bestimmung. Sie wird sich finden - was du jetzt schon weißt, ist, dass sie sich aus dem großen Feld, mit dem du gesegnet bist, heraus kristallisieren wird. Und, so blöd es klingt, vielleicht musst du ihr einfach die Chance dazu geben? Vielleicht solltest du dir einmal erlauben, planlos zu sein, nicht perfekt sein zu wollen, sondern einfach zu vertrauen? Es wird nie zu Ende gehen mit dem "Da könnte doch noch..." Und auch nicht mit dem "Also, das mag ich einfach nicht an mir..." Aber du wirst immer neue Schritte machen, so wie du auch immer wieder vor neuen Fragen stehen wirst. Erlaube dir, da du doch weißt, wie groß deine Fähigkeiten sind, dass unter diesen Fähigkeiten sich auch deine Bestimmung finden wird. Nicht du musst sie finden. Sie wird dich finden. Und du weißt nicht, ob es schon morgen der Fall sein wird. Dafür darfst du aber deine Zusatzstudien nicht verdammen, denn die Leidenschaft, die du früher hattest, ist auch eine andere, als du sie jetzt brauchst, wo du in die akademische Welt eingetaucht bist. Dein großer Interessenreichtum stellt dich vor das Problem, dass es mehr ist, als sich in einem Leben leisten lässt - diese Entscheidung ist schwerer, als mancher glaubt, der gar keinen Plan hat. Aber ich bin sicher, sie wird sich treffen lassen - wenn du daran glaubst. Und wenn du dir deiner sicherer wirst. Denn es gibt das nicht, dieses "Ich" und "die Anderen". Du bist eine junge Frau, die eine gewaltige Entwicklung durchlaufen hat und noch immer durchläuft, und die sicher eine beeindruckende Persönlichkeit hat. Neben dir gibt es viele Menschen mit Konflikten, mit Talenten, auch mit Problemen; das alles soll die deinen nicht relativieren, es soll dir aufzeigen, dass du nicht getrennt von aller Welt stehst, wie du es dir selbst einredest, sondern dass du so menschlich bist wie alle - auch wenn du unter den Menschen hervor stichst. Weil du DU bist, ganz besonders. Und ich wünsche dir das Gefühl, dass es ein Ziel gibt, das dich findet, das kein Atemzug in deinem Leben umsonst getan worden ist. Wenn du anfängst, an deine Bestimmung zu glauben, dann kannst du auch glauben, dass sie nicht an dir vorübergeht, wenn du nicht zupackst. Das widerspricht ihrem Wesen doch, oder? Eben.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul