Problem von Anonym - 17 Jahre

Muss ich zum Psychologen?

Hallo,
ich weiß nicht genau, wie ich weitermachen soll...
eigentlich war ich immer ein glücklicher Mensch; bin es eigentlich auch heute noch. Wären da meine Probleme nicht. Ich leide seit einigen Jahren an einer "Störung" oder "Krankheit" namens Misophonie. Miso ist sehr schwer zu erklären, deswegen einmal den Wikipedia-Eintrag dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/Misophonie
Mein Problem mit Miso ist, dass ich es in einer sehr starken Form habe. Ich halte es kaum noch aus! Ich laufe fast nur noch mit Kopfhörern durch die Gegend, und wenn das mal nicht geht, weil Personen in der Nähe sind, die das nicht akzeptieren, trage ich Ohrstöpsel, die bestimmte Geräusche isolieren. Aber trotzdem ist das total hart für mich. Vorallem, weil die meisten Außenstehenden diese Krankheit nicht akzeptieren. Für meine Eltern ist mein Verhalten mittlerweile in Ordnung. Auch wenn ich sie mal anmecker, weil sie irgendein Geräusch gemacht haben, was ich nicht ertrage, zeigen sie da mittlerweile Verständnis. Das war aber nicht immer so. Bis vor etwa ein Jahr habe ich mich regelmäßig mit ihnen gestritten, weil sie es nicht gut fanden, dass ich immer mit Ohrstöpseln rumlaufe. Sie fanden es einfach nur unhöflich und wollten mein Problem nicht verstehen, egal, wie oft ich versucht habe, es ihnen zu erklären.
Ich glaube, dass mich das Verhalten meiner Eltern ziemlich geprägt hat. Ich rede sehr ungerne mit anderen Menschen über Miso und auch über meine anderen Probleme (folgen noch). Ich habe Angst, dass die Leute mich nicht verstehen und mich wieder verletzen werden, so wie meine Eltern es getan haben. Misophonie ist nämlich ernstzunehmen, und hat nichts mit schwachen Nerven oder ähnlichem zu tun. Deshalb fällt es mir auch gerade sehr schwer, euch zu schreiben. Ich habe Angst, dass ihr es nicht ernst nehmt.

Nun zu meinen weiteren Problemen: Wie bereits gesagt, habe ich eigentlich nie wirklich über meine Probleme geredet und machen es auch jetzt noch ungerne. Ich habe mittlerweile aber zwei Freunde, mit denen ich es kann, da sie beide es auch nicht immer einfach hatten im Leben und ich ihnen vertraue.
Daher habe ich Ende letzten Jahres meiner Freundin erzählt, dass ich früher sehr große Probleme mit Mobbing hatte. Über zwei Jahre wurde ich schwer gemobbt. Ich hatte Angst, zur Schule zu gehen. Ich hatte damals mit niemanden drüber geredet. Lediglich mit einer Lehrerin und der Schulpädagogin, aber die haben auch nichts gemacht. Nach diesen zwei Jahren bin ich in eine andere Klasse gekommen und alles wurde besser. Lediglich mein Selbstbewustsein war dahin.
Seitdem hatte ich mit niemanden darüber geredet. Erst wieder mit meiner Freundin. Ich dachte, ich käme damit klar, aber so war es nicht. Ich habe mich schrecklich gefühlt. Zudem hatte sie zu dem Zeitpunkt selber große Probleme und konnte nicht für mich da sein. Sie gab mir den Rat, mit meinem besten Kumpel (der zweiten Person, der ich so stark vertraue) darüber zu reden. Das tat ich auch. Es half mir zumindest ein wenig. Das Problem, das ich zu diesem Zeitpunkt nur hatte war, dass ich Gefühle für ihn entwickelt hatte (ich wusste, er hatte keine für mich. Mittlerweile habe ich ihm erzählt, dass ich Gefühle hatte. Seidem konnte ich mit dem Thema abschließen und meine Gefühle für ihn sind jetzt so gut wie verschwunden.). Das hat mich ziemlich beschäftigt.
Irgendwie haben mich meine ganzen Probleme zu der Zeit so überrannt, dass ich mich eines abends alleine betrunken hab (dazu muss man sagen, dass mein bester Freund ein leichtes Alkoholproblem hat. Er trinkt des öffteren alleine und ich dachte, was ihm hilft, hilft mir vielleicht auch). Das war ein großer Fehler. Ich find an immer häufiger alleine zu trinken, egal ob am nächsten Tag Schule war.
Das alleine trinen kommt mittlerweile immer phasenweise vor: Mal trinke ich drei Wochen lang gar nicht, und dann trinke ich zwei Wochen lang mal alle zwei Tage. Ich weiß nicht genau, wieso ich das mache. Weder, warum ich überhaupt alleine trinke, noch warum das immer solche Phasen sind.
Meine beste Freundin meinte, dass ich mal zum Psychologen bzw. Psychater gehen sollte. Sie will sich mit mir zusammen darum kümmern, dass ich einen geeigneten finde. Das Problem ist nur, und das wird jetzt auch für euch schwer zu verstehen sein, weil ich ja schließlich jetzt einen sehr langen Text über meine Probleme geschrieben hab: Wenn ich nicht gerade am Trinken bin, bin ich selber der Meinung, dass ich nicht zum Psychologen muss. Ich denke mir dann immer, dass meine Probleme ja nicht so schlimm sind.
Deswegen schreibe ich jetzt euch. Ich glaube, der Rat einer Person, die mich nicht kennt, könnte mir jetzt helfen.

Vielen Dank für eure Hilfe :)

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

ich kann mir gut vorstellen, dass die Misophonie ein sehr unangenehmes und nicht zu unterschätzendes Problem ist. So wie ich es verstehe, muss es deinen Alltag sehr belasten, da du ständig fürchten musst, für dich störenden oder quälenden Geräuschen ausgesetzt zu werden. Für dieses Problem kannst du allerdings nichts, daher ist es umso schlimmer, dass viele Menschen um dich herum es nicht akzeptieren können. Ich freue mich, dass du dich an uns gewandt hast, und hoffe dir helfen zu können.

Ich frage mich gerade: Was ist für dich der wichtigere Grund für die Überlegung, einen Psychologen zu suchen? Ist es deine Hemmung, Menschen zu vertrauen - oder eher die Sache mit dem Alkohol? Das eine ergibt sich ja aus dem anderen. Die Misophonie bleibt bestehen - das heißt, es kann dir immer wieder passieren, dass Leute dafür kein Verständnis haben. Wenn das geschieht, weißt du sofort, dass es sich eh nicht gelohnt hätte, die jeweilige Person näher kennen zu lernen oder sich mit ihr anzufreunden. Die "Krankheit" ist schlimm, aber sie stellt dir immerhin ein gut funktionierendes Raster zur Verfügung, wem du deine Freundschaft guten Gewissens schenken kannst. Letztendlich wäre es ja ungerecht, wenn du, obwohl du dir die Misophonie nicht ausgesucht hast, dich von denen, die dafür kein Verständnis haben, auch noch aus der Gesellschaft drängen ließest. Je mehr Begegnungen du hast, desto höher ist zwar das Risiko, abgelehnt zu werden - desto höher ist aber auch die Möglichkeit, Leute zu treffen, die dich verstehen können und wollen, und dich zur Freundin haben möchten. Nur in der Auseinandersetzung mit dem Leben kannst du also hoffen, diese Ängste abzubauen. Dass das Mobbing vergangener Jahre dich noch sehr beschäftigt, ist verständlich. Allerdings möchte ich dir etwas Hoffnung machen: Was man in der Schulzeit erlebt, unter Leuten, die mit ihren Hormonschwankungen nicht immer umgehen können, ist nicht stellvertretend für den Rest des Lebens. Du wirst erwachsen, oder bist es bereits, und du wirst noch auf viele Menschen treffen, die in jeder Hinsicht erwachsen sind (nicht nur dem Alter nach), und offen für dich. Bis dahin gilt es für dich, dich nicht einkriegen zu lassen, sondern Begegnungen zu suchen und dich auseinander zu setzen. Andernfalls gibst du denjenigen nur den Willen, die dich abgelehnt haben.

Ein Psychologe kann dir sicherlich nicht schaden. Vorsicht ist aber auch immer geboten, wenn man sich davon eine Lösung erhofft: Du wirst jemanden finden, dem du deine Probleme berichten kannst, der mit dir gemeinsam überlegt, was die Ursachen sein könnten. Die Lösungen bestehen vor allem aus Handlungen, die man im alltäglichen Leben weiterhin selbst bestehen muss. Ich könnte mir vorstellen, dass es für dich hilfreich sein könnte, mit jemandem über all das sprechen zu können, der zur Verschwiegenheit verpflichtet ist und nicht wertet. Jedoch muss ich auch sagen: Du hast auch selbst große Fähigkeiten, deine Probleme zu erkennen und zu untersuchen. In deinem Text ist deutlich, dass du Dingen, die problematisch sind, nicht ausweichst, sondern sie als das siehst, was sie sind, und dir über die Zusammenhänge Gedanken machst. Das ist sehr gut, und diesen Schritt kann nicht jeder allein gehen. Ein Psychologe bietet also ein offenes Ohr, bietet Sicherheit (bei Leuten, die für sich selbst eine Gefahr sind, was du aber nicht bist), und in schlimmen Fällen vielleicht auch eine Medikation. Was ein Psychologe aber nicht hinweg nehmen kann, sind die Situationen im Alltag, die einen ängstigen und beschäftigen, und mit denen man sich weiterhin abgeben muss. Und wenn das Problem an anderen Menschen und ihrem Verhalten liegt, dann ist der Psychologe auch nicht derjenigen, der es ändern kann, sondern das muss in den Schulen, an der Arbeitsstelle etc. geschehen. Schlimm finde ich, dass damals von deiner Schule aus nichts unternommen wurde, um dir bei dem Mobbing effektiv zu helfen, obwohl du davon erzählt hast. Immerhin aber kann man von dir sagen, dass die Fähigkeiten, die Probleme anzugehen und zu lösen (ganz egal, wer dir dabei hilft) in dir schon angelegt sind. So jedenfalls ist mein Eindruck nach deinem Text.

Ob du einen Psychologen möchtest, ist somit dir selbst überlassen, und wenn du dich damit sicherer fühlst oder es gerne wissen möchtest, ist es bestimmt nicht verkehrt. Du kannst nur gewinnen dabei. Auf der anderen Seite würde ich jetzt nicht sagen, dass du unbedingt zu einem Psychologen musst. Und das nicht, weil ich dein Problem nicht ernst nehmen würde, sondern weil ich denke, dass du die wichtigsten Schritte auch ohne einen tun kannst. Und das ist vor allem, dich nie unterkriegen zu lassen: Es ist wichtig, dass du dich mit deinen Freunden triffst, den Leuten, die dich nicht verstehen wollen, die Stirn bietest, aber auch versuchst, gesprächsbereit zu bleiben, weil nicht jeder gleich auf Anhieb kapieren wird, wie sehr die Misophonie sich durch deinen Alltag zieht, und wie schwer für dich Dinge sind, die den meisten normal erscheinen. Auch deine Eltern mögen noch Zeit brauchen, bis sie ganz begriffen haben, dass das Thema die Ausmaße hat, die es hat, und nicht mehr glauben, durch Zwang etwas lösen zu können. Das berechtigt natürlich niemanden, dich deswegen zu beschimpfen. Zum Glück gibt es viele, die bereit sind, sich dir zu widmen, auch mit deinem Handicap - und du wirst sie antreffen. Zumindest, wenn du dich nicht verkriechst, sondern darauf bestehst, ein Leben zu haben. Wahrscheinlich bist du nicht gerade der Mensch, der viel in Discos und auf Konzerten anzutreffen ist - aber vielleicht kannst du andere, stillere Möglichkeiten des Umgangs finden. Und vielleicht sogar deine Belastbarkeit ein wenig erweitern. Aber auch wenn das nicht geht (ich bitte um Verzeihung, ich kenne mich mit dem Thema Misophonie nicht aus), wird sich dein Misstrauen nur abbauen lassen, wenn du seine Quelle, die Menschen, an dir teilhaben lässt. Die Risiken, die es mit sich bringt, sind nicht immer klein, das ist wahr - aber du bestehst in diesem Moment darauf, dass du ein gleichwertiger Mensch bist, und dich nicht unterkriegen lässt. Und das ist das Wichtigste.

Das mit dem Alkohol ist eine schwer einzuschätzende Sache. Was genau trinkst du denn, wenn, und wie viel? Wenn du nämlich einerseits wochenlange Blaupausen hast, dann mit Intervallen von Tagen, würde ich sagen - es ist nicht direkt gefährlich. Das heißt: Gefährlich ist Alkohol natürlich immer, zumindest wenn man sich betrinkt, und dann noch allein. Von der Menge her würde ich jetzt behaupten, dass du bei dem, was in deiner Altersgruppe häufig ist, nicht unbedingt den Rahmen sprengst. Andererseits wäre mir wohler dabei, wenn du es nicht für dich allein tun würdest, sondern lieber mit deinem Freund was essen gehen würdest, und in Maßen. Oder wenn ihr es für euch macht, egal ob daheim oder woanders, dann trotzdem gemeinsam und vorsichtig. Brauchst du den Alkohol tatsächlich? Kannst du es auch weglassen, wenn einer dieser Tage ist, oder zieht es dich mit Macht dazu hin? "Ein Alkoholproblem" ist natürlich auch immer eine Frage der Definition. Es gibt leider nicht wenige junge Menschen (ich kenne ja selbst genug), die jedes Wochenende unter den Tisch sinken, und sich noch immer ganz gut halten. Fragt sich nur, wie lange noch. In deinem Fall würde ich fast sagen, es ist nicht so drastisch, zumindest was die Menge und Häufigkeit betrifft. Allerdings solltest du darauf Acht geben, dass es sich nicht vermehrt, solltest vermeiden, dich zu betrinken, und immer jemanden an deiner Seite haben. Es ist sicherer so - denn einmal gehörig schief gegangen reicht, um dich für dein Leben zu schädigen. Und ich persönlich halte nichts davon, Alkohol zu verharmlosen, möchte dir gegenüber jetzt aber auch nicht als Moralapostel auftreten - es gibt weiß Gott schlimmere Fälle genug.

Ich möchte dich darin bestärken, dir einen Psychologen zu suchen, wenn du denkst, dass es für dich eine Stütze sein könnte. Aber ich möchte auch, dass du weißt, dass du dir gerne mal selbst auf die Schulter klopfen kannst. Du hast deine Situation bis jetzt doch gut gemeistert, und du möchtest doch nicht klein beigeben, jetzt, wo du es schon so weit geschafft hast - weder vor dem Alkohol, noch vor Mitschülern, noch vor sonstwem? Die Ängste, die bei dir entstanden sind, haben ihre Gründe, und sie lassen sich nicht von jetzt auf gleich abbauen. Wenn du aber auf deine Rechte bestehst, und dich bemühst, offen zu sein - ich sage nicht, dass es leicht ist! - dann wird sich vieles noch weiter verbessern. Und dafür wünsche ich dir viel Erfolg, und das nötige Selbstbewusstsein. Du hättest es sehr zu Recht.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul