Problem von Anonym - 21 Jahre

Angst vor Nähe/Intimität in einer Beziehung

Lieber Paul,

ich danke Dir sehr für deine letzte Nachricht an mich. (Ich hatte zum letzten Mal zu dem Titel „Weihnachten und mehr“ über das Verhältnis zu meinem Vater und auch die Angst vor Beziehungen geschrieben.) Du hast mir durch deine Worte viel Mut zugesprochen und sehr geholfen.

„Die Liebe ist ein Wagnis. Es mag sein, dass es viele Bedingungen gibt, die man idealwerweise erfüllen muss/kann, bevor man in eine Bezieung startet. Doch ist das wirklich wichtig. Werden wir nicht blind für das, was wirklich die Liebe ausmacht. Uns selbst und den anderen anzunehmen wie er ist. Vielleicht müssen wir usn auch selbst Fehler zugestehen, vielleicht müssen wir lernen nicht perfekt zu sein. Sei offen dafür dich zu verlieben. Finde den Mut zu vertrauen.“

Diese Worte haben mich sehr berührt und zum Nachdenken gebracht und ich möchte dir gerne noch dafür danken. Und tatsächlich war zu diesem Zeitpunkt bereits jemand in mein Leben getreten. Allerdings wusste ich noch nicht/hatte ich damals noch keinen Gedanken daran, dass sich mehr entwickeln könnte. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich zu diesen Fragen/Problemen deine Worte und Meinung hören können, da es mir trotz meines Wunsches zu vertrauen doch sehr viele Schwierigkeiten gibt, bei denen ich momentan nicht weiter weiß.

Ich hab einen Mann kennen gelernt, der sich schon eine Zeit lang begonnen hatte für mich zu interessieren. Wir haben uns oft mit Freunden getroffen und dann auch regelmäßig über unseren Alltag geschrieben. Als er dann irgendwann versucht hat meine Hand zu nehmen, hat er gemerkt, dass ich diese noch nicht annehmen kann und über Nachricht gesagt, dass er sich wünschen würde, dass mehr aus uns werden würde und mir gesagt wie glücklich er neben mir ist. Ich hab ihm offen gesagt, dass ich Zeit brauche um ihn richtig kennen zu lernen und zu vertrauen. Er hat es verstanden und versprochen mir Zeit zu lassen. Wir haben uns sehr oft getroffen und gemeinsam gekocht und dabei viel geredet. Dabei hat er mir nicht nur zugehört, sondern war auch sehr offen über sich und sein Leben. Ich war beeindruckt wie offen und ehrlich er auch von seinen Ängsten und Sorgen erzählte. Wir haben viel über unsere Familien geredet und über unsere Vergangenheit und über den Alltag. Allerdings hatte ich immer das Gefühl, dass er sich etwas mehr offenbart als ich (was aber nicht daran lag, dass er mir nicht zugehört hätte). Ich habe aber versucht auf mich zu hören und die Dinge zu erzählen, wann es sich für mich richtig angefühlt hat. Wir waren uns schon sehr nah und haben uns auch oft lange angesehen. Wobei ich bei seinem Blick immer das Gefühl hatte, als würde er etwas besonders in mir sehen und als wäre er so glücklich mich nur anschauen zu können. Dennoch hatte ich irgendwann solche Angst vor dem Kuss, weil ich wusste, dass ein Kuss bei uns ein großer Schritt in Richtung „mehr“ bedeutet und ich hatte Angst durch den Kuss ein Zugeständnis zu machen, zu dem ich vielleicht nicht bereit bin. Ich hatte Angst, dass ein Kuss ein „Ja“ zu so vielen mehr bedeutet und ich ihm dadurch Hoffnungen mache, von denen ich nicht weiß, ob ich sie erfüllen kann. In meinem Kopf wusste ich, dass es kein Versprechen ist und dass ich immer die Möglichkeit habe zu entscheiden, was ich will, aber in mir war trotzdem diese Blockade. Als es dann zu dem Kuss gekommen ist, ist es nach meinen Gefühl von beiden ausgekommen, wobei er sehr vorsichtig war aus Angst, dass ich vielleicht nicht bereit dazu sein könnte. Als er mir dann gesagt hat, er hatte die ganze Zeit Angst mich zu verletzen und hat es immer noch, hat mich das berüht. Wir haben jetzt auch darüber geredet, dass wir zusammen sein wollen. Er hat mir auch gesagt, dass ich sagen soll, wenn ich etwas nicht möchte und dass er mich zu nichts drängen will.
Es gibt so vieles, was ich an ihm mag. Ich mag es wie er mich behandelt und fühle mich so wertgeschätzt von ihm. Ich mag es wie er mich anschaut, als wäre ich etwas ganz besonders in seinen Augen. Ich mag es, dass er viel über sich und sein Leben erzählt und so offen mit allem ist, als würde er mir alles anvertrauen und gleichzeitig so interessiert und immer alles über meinen Tag wissen will. Ich finde es schön, wie wir zusammen kochen und dabei immer alles gemeinsam machen. Ich hab das Gefühl, dass wir die Welt ählich sehen und so viele Vorstellungen teilen. Er hat ähnliche Erfahrungen mit seinem Vater gemacht und hat über die gleichen Gefühle in Bezug auf seine Mutter geredet wie ich. Er hat mich verstanden wie mich noch nie jemand verstanden hat. Und ich fühle mich als wäre ich ihm wirklich sehr wichtig und als würde er nur das beste für mich wollen.

Nun zu meinen Problemen.

Ein Problem ist, dass ich versuche meine Liebe an etwas zu messen, was ich glaube wie Liebe aussehen müsste. Er ist nicht der Typ, der mir von Anfang an aufgefallen war, sozusagen entspricht er rein vom optimischen nicht den Merkmalen, die für mich besonders süß/attraktiv an einem Mann sind, wobei ich ihn nicht unattraktiv finde (schlank, etwas größer als ich). Somit hatte ich zu Beginn auch keinen Gedanken daran, dass mehr daraus werden könnte. Dies ist eher aus dem Gefühl der Vertrautheit entstanden. Ich hatte noch nie einen Mann gekannt, von dem ich das Gefühl habe so gut mit ihm reden zu können, der so offen und ehrlich über seine Gefühle ist und von dem ich das Gefühl hatte, dass er in vielen Dingen wirklich ähnlich denkt und fühlt wie ich und mich daher auch verstehen kann.
Daher habe ich das Gefühl diese typische Verliebtheitsphase auszulassen (wobei ich nie jemand war, der in seiner Jugend große Schwärmerein hatte). Ich bin zwar augeregt/freue mich ihn zu sehen und denke auch oft an ich, aber ich sehe neben seine Stärken auch seine Schwächen, erkenne wie diese aus seinen Erfahrungen erwachsen sind und respekte sie daher. Ich fühle mich sehr vertraut in seiner Nähe und habe das Gefühl, dass er mich verstehen kann wie sonst noch niemand zuvor. Das möchte ich nicht verlieren.
Kann es sein, dass tiefe Vertrautheit wichtiger ist als rein körperliche Anziehung und der Wunsch nach Nähe sich Schritt für Schritt aus der Vertrautheit entwickelt?

Mein anderes und größtes Problem ist, dass ich Angst habe, dass es schlimm für ihn ist, wenn ich Zeit brauche. (Oder viel mehr dass ich dadurch glaube ich würde ihm nicht wirklich viel bedeuten.) Und ich habe auch mit ihm darüber geredet, wenn auch mir es sehr schwer gefallen ist. Er hat gesagt, dass er mir Zeit lassen will. Allerdings hat er auch hinzugefügt „aber nicht Jahre“, was ich jetzt auch nicht erwartet hätte, aber trotzdem hat mir das irgendwie das Gefühl gegeben/mich daran zweifeln lasse, ob ich ihm wirklich viel bedeute. Ich weiß auch, dass ich bei diesem Thema dazu tendiere emotional relativ überzuregieren, aber ich hatte bei Männern bisher immer die Angst, dass sie gar nicht wirklich an mir interssiert sind, sondern nur an dem körperlichen Aspekt einer Beziehung. Er wirkt so als würde er es absolut ernst mit mir meinen, doch trotzdem ist die Angst präsent. Leider konnte ich mir selbst nicht beantworten, warum diese so präsent für mich ist. Natürlich ist das alles auch erschwert dadurch, dass ich noch eine Beziehung habe und keine Erfahrung in diesem Bereich habe, aber ich hab das Gefühl, dass das nicht allein der Grund für meine Angst ist. Allerdings kann ich auch kein konkretes Erlebnis nennen, dass diese Angst hervorgerufen hat. Es ist eher ein Konstrukt aus vielen Erfahrungen und Eindrücken. Vielleicht hatte ich auch bei meinen Vater das Gefühl, dass er mich nicht einfach so bedingungslos liebt, aber ich hatte das Gefühl, dass ich auch in den letzten Jahren niemals versucht habe, seine Liebe oder Anerkennung irgendwie zu erhalten, weil er durch sein Verhalten für mich klare Grenzen überschritten hatte dessen, was ich für akzeptabel halte.
Jetzt weiß ich nicht wie ich mit dem Gefühl umgehen soll und wie ich einfach in die Liebe vetrauen lassen kann und meine Angst vor Nähe und Intimität abbauen kann.

Ein anders Problem ist, dass ich auch Angst habe ihm zu sagen, wenn es zu viel wird, obwohl er mir das gesagt hat. Ich habe nicht Angst, dass er es nicht respektieren wird, denn ich vertraue ihm. Und ich halte ihn für einen unglaublich liebevollen und rücksichtsvollen Menschen, aber ich habe – glaube ich - Angst, dasse er es nicht verstehen kann oder dass ich ihn verletze, wenn ich ihn „ohne Grund“ zurückweise, weil ich nicht weiß, wie ich ihm die Gründe am besten erklären soll und habe Angst, dass er den Grund dann in sich sieht oder dass er es für komisch hält, weil viele Leute die Nähe am Anfang einer Partnerschaft auch wollen und genießen. Doch da ich die Ursachen selbst nicht gut genug verstehe, fällt es mir sehr schwer sie ihm mitzuteilen.

Wie also soll ich ihm etwas mitteilen was ich selbst nicht so ganz verstehe?

Danke sehr für Deine Hilfe!

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

herzlichen Dank für dein Vertrauen und dein Lob! Es ist schön, zu hören, dass ich etwas Passendes für dich wusste. Nicht immer ist man sich sicher, ob man so geantwortet hat, wie es dem oder Ratsuchenden nützlich ist. Nachdem ich wieder von dir höre, bin ich umso zuversichtlicher, dass du dein Leben zu deiner Zufriedenheit wirst entwickeln können.

Du hast deinem Text einen Satz aus meiner letzten Antwort an dich vorangestellt. Damit hast du dir, wenn du so willst, die Antwort in Teilen schon selbst gegeben. Denn genau das ist es, was ich dir zeigen wollte: Du hast jemanden kennen gelernt, der ganz offensichtlich eine Menge Qualitäten hat. Er lässt dir den Freiraum, der dir zukommt, gibt dir die Zeit, die du brauchst, er respektiert dich, geht auf dich ein, ihr könnt gut miteinander reden - und doch ist da diese Unsicherheit bei dir. Das ist verständlich. Ihr habt in der Tat in gewisser Weise die "Verliebtheit" ausgelassen, weil ihr euch zuerst einander geöffnet habt, voneinander erfahren habt - sozusagen freundschaftlich. Und daraus erst ist die Zuneigung erwachsen. Du kannst deinen Partner jetzt bereits sehr gut einschätzen, weißt vieles über ihn, was du, wärt ihr rascher zusammen gekommen, vielleicht erst nach und nach scheibchenweise erfahren hättest. Er entspricht äußerlich nicht dem Bild, nach dem du am ehesten Ausschau gehalten hast - doch muss das ja nichts Schlechtes heißen. Im Gegenteil: Könnte es nicht sein, dass die Unbefangenheit und Offenheit bisher gerade dadurch gekommen ist? Dass du dich ihm öffnen konntest, weil du nicht darauf fixiert warst, wie er neben dir aussehen würde? Und möglich ist es doch, dass es ihm ähnlich geht: Vielleicht war für ihn die Verliebtheit eher da, oder ist es noch. Doch was er jetzt bereits über dich weiß und sich klar ist, hätte er möglicherweise nicht so umfassend gehört, wenn ihr es eiliger gehabt hättet. Stattdessen hat er Geduld und Behutsamkeit gezeigt, und nachdem er alles weiß, was er weiß, möchte er noch immer mit dir zusammen sein. Wenn nicht noch mehr als zuvor.

Ihr habt eine große Vertrauensbasis gelegt, noch ehe ihr Ernst gemacht habt. Krass ausgedrückt: Es wundert nicht, dass du diese Verliebtheit nicht so empfindest, wie man es sich vorstellt. Denn Verliebtheit ersetzt doch ein Stück weit auch die Realität. Verliebtheit, die berühmte "rosa Brille", besteht viel aus Idealisierung und aus Hingeben, sich treiben lassen, das nicht hinterfragt und nicht an morgen denkt. So ging es euch gerade nicht. Ihr habt schon jetzt etwas Gewachsenes, ihr wisst um mögliche Schwächen des Anderen, und habt ein realistischeres Bild voneinander. Das alles heißt jetzt aber noch nicht, dass die Verliebtheit für dich nicht existiert oder existiert hat. Die Liebe hat sich langsam eingeschlichen, ist in dein Leben hinein getröpfelt, und dann war sie da. Und du hattest bis dahin gar nicht daran gedacht, dass es Liebe sein könnte. Ist es aber, deine Worte verraten es. Und zwar genau deshalb, weil du den Begriff "Liebe", dieses "Oh Mensch, bin ich verknallt!" gar nicht nötig hattest. Du hast dich auf ihn eingelassen, einfach so, weil dir wohl dabei war. Ist es nicht genau so etwas, das die Liebe ausmacht? Dass man sich ihrer nicht ständig versichern muss, sondern sie einfach lebt. Das habt ihr getan. Dafür braucht es auch nicht unbedingt gleich Körperlichkeit, das war da, ehe ihr beide es gemerkt habt. Und es ist wirklich sehr schön, diese Geschichte von dir zu lesen. Ich freue mich sehr für dich.

Ich gehe davon aus, dass dein Partner seine Schlüsse in deinem Sinn schon gezogen hat. Er wird, wenn du dir unsicher bist, es nicht als Zurückweisung seiner Person auffassen, sondern als etwas, das nichts mit ihm persönlich zu tun hat. So wie du ihn geschildert hast, müsste es mich sehr wundern, wenn er dich da missversteht. Du kannst im Grunde nichts weiter tun, als ihn immer wieder mal darauf hinzuweisen: Es geht dir nicht darum, ihn hinzuhalten, es geht um das Prinzip Intimität, für das du noch nicht bereit bist. Doch das wirst du werden - und am ehesten, wenn er dir die Zeit gibt, die du brauchst. Er wird das wissen. Ich würde da vertrauen, dass es so ist. Wenn er mit der Zurückweisung "ohne Grund" nicht umgehen könnte, dann wärt ihr niemals so weit gekommen. Denn völliges Unverständnis könnte hier nur jemand haben, der gar nicht in der Lage ist, sich in deine Situation zu versetzen. Auch ihm ist klar, dass es sich um die Summe deiner Erfahrungen handelt, dass es im Einzelfall nicht immer einen genauen Grund gibt, sondern dass es etwas mit deiner Entwicklung zu tun hat. Er hat sie bereits sehr zum Guten hin befeuert. Würde er nicht begreifen können, dass deine Zurückhaltung nicht seine Person meint, dann hätte er nie akzeptiert, dass du Zeit brauchst. Sicherlich fällt es dir schwer, aber versuche, dich da nicht verrückt zu machen. Nähe ohne dass du mit dem Herzen dabei bist, wäre für ihn nichts wert, wäre unecht. Und auch wenn du ihm jedes Mal einen genauen Anlass, ein genaues Bild liefern könntest, warum du gerade nicht willst: Es würde an dem Frust, den er vielleicht fühlt, nichts bessern. Doch Frust und Verständnis schließen sich auch nicht aus. Ich will das mal ein bisschen zuspitzen: Du musst dich auch trauen, deinen Freund ein wenig zu belasten, wenn es nötig wird. Denn du tust es nicht aus bösem Willen, sondern weil es die einzige Möglichkeit ist, auf Dauer etwas zu entwickeln, das jetzt noch fehlt. Und er hat die Bereitschaft signalisiert, dass er es schultern kann. Wenn du sie nicht in Anspruch nimmst, wirst du das Problem nicht lösen, sondern vergrößern.

Du musst auch den genauen Grund nicht kennen, warum dich diese Angst umtreibt; es ist in Ordnung, wenn es etwas Unbestimmtes ist, etwas Diffuses. Vielleicht ist gerade das ein Hinweis, dass man es überwinden kann. Doch das kann nur in dem Tempo geschehen, in dem es für dich richtig ist. Ich will nicht ausschließen, dass es für ihn nicht angenehm ist. Um ehrlich zu sein - ich bin mir sogar sicher, dass es ganz und gar nicht leicht für ihn ist. Doch was wäre gewonnen, wenn du dich zu etwas zwingen würdest? Damit könnte oberflächliche Begierde gestillt sein, doch es wäre für dich noch schlimmer als vorher, und ihm hättest du etwas vorgemacht. Mal andersrum gefragt: Du empfindest etwas ganz Tolles für diesen Mann, und er allen Anzeichen nach auch für dich - doch du hast Angst. Ist das jetzt ein Grund, es gleich bleiben zu lassen? Was ist die Alternative, als es zu wagen, zu warten, wie es sich entwickelt? Du kannst nur wagen, oder du kannst deinem Gefühl eine Absage erteilen. Was ist jetzt die bessere Wahl? Du erfährst, dass Liebe verletzlich macht. Das ist aber auch für ihn der Fall. Enttäuschungen, Missverständnisse, Frust sind nie ausgeschlossen - und glaub mir, sie werden kommen. Aber dafür ist eine Beziehung auch da, dass sie damit umgeht. Was immer einmal der Grund für Unschönheiten, für Streit, für Frust zwischen euch sein könnte, ihr seid ein Paar, um damit umzugehen. In deiner Wahrnehmung ist es jedoch fast schon gleichgesetzt mit der totalen Katastrophe. Und das ist schwierig, denn so ist es nicht. Ihr bedeutet einander, denke ich, zu viel, als dass jeder Schmerz, den ihr einander zufügen könntet, gleich das Ende bedeutet. Streit kann auch produktiv sein, vergiss das nicht.

Doch ehe du an Streit denkst, an Schmerz, an Enttäuschungen: Genieße doch lieber den Moment! Dein Freund bietet dir so viel, was dir gut tut. Und du tust ihm auch gut, sonst könnte er es dir nicht so bereitwillig geben. Ich würde mit ihm weiter offen darüber reden, was dich umtreibt. Auch, dass es dir zu schaffen macht, ihm keinen eindeutigen Grund für deine Zurückhaltung nennen zu können. Denn meinst du nicht, wenn auch er familiäre Probleme hatte, dass ihm solche Zustände bekannt sein könnten, in denen man etwas fühlt und gar nicht beschreiben kann, wie, woher? Wenn du ein bestimmtes Erlebnis nennen könntest, würde es dir vielleicht leichter fallen, deine Gefühlslage zu akzeptieren - denkst du jetzt. Doch selbst wenn das so wäre, würde es IHM leichter fallen? Würde er nicht, wenn er sich zurückgewiesen fühlt, seinen Ärger auf dieses EINE Ereignis werfen? Dabei wäre das gar nicht gerechtfertigt. Denn auch wenn es eine bestimmte Sache gäbe, die dir immer wieder vor Augen träte, wäre es doch deine ganze Geschichte, die das mit dir macht. Es würde dir nicht so gehen, wenn du nicht die Altlasten von Jahren mitbringen würdest. Und auch bei ihm ist es ja so. Zwar scheint er dir gerade gefestigt, er ist die Person, an die du dich anlehnst. Doch in jedem Menschen rumort es, auch in ihm, und manchmal dauert es, bis man weiß wieso.

Er hat zu dir gesagt, er möchte nicht Jahre warten. Das beschäftigt dich. Wie ist das zu verstehen, dass er das gesagt hat? Mir leuchtet ein, dass es dich verunsichert und dich auch irgendwo an ihm zweifeln lässt. Aber du musst diesen Satz ganz anders auffassen. Es ist ein Liebesbeweis von ihm. Wer wollte schon Jahre warten - oder besser gesagt, wer könnte es? Triebe hat jeder in sich. Der Satz bedeutet, dass ihm nichts mehr weh täte, als sich zwischen dir und dem Trieb entscheiden zu müssen. Es spricht keine Ungeduld daraus, keine Genervtheit, sondern es ist seine Angst, die sich Bahn bricht: Seine Angst, dass er vielleicht nicht stark genug sein könnte, nicht den Atem haben könnte, mit dir gemeinsam deine Ängste zu besiegen. Nur ist euch beiden nicht geholfen, wenn du dir Sorgen machst, wie lange es letztlich dauern wird. Intimität ist auch für dich ein Thema, oder? Dass du nicht so zwanglos damit umgehen kannst wie andere, hat mit deinen Erfahrungen zu tun. Aber ich bin zuversichtlich, dass ihr euch gemeinsam so viele schöne Erfahrungen sammeln könnt, dass sie deine schlechten überwiegen.

Wenn du mit ihm über diese Dinge sprechen möchtest, für die du selbst vorerst noch keine Worte hast - dann zählt vorerst auch nichts als der Versuch, von deiner Seite. Es ist nicht schlimm, wenn du vor ihm überlegen musst, erst einmal nur Halbsätze sagen kannst; es könnte ja aber auch sein, dass die Situation den Knoten ein bisschen löst. Wichtig ist, dass du es probierst. Denn für ihn wird es nicht darum gehen, von dir wohlfeile Antworten zu bekommen. Für ihn ist am wichtigsten, zu sehen, dass du dich damit auseinander setzt. Das gibt ihm Hoffnung und beruhigt ihn. Und wie gesagt: Im Grunde ist es ja auch gar nicht so wichtig, zu wissen, was exakt diese Unsicherheit und Beklommenheit bei dir verursacht hat. Wir wissen, dass die Ursachen in deinem Leben liegen, das eben nicht so verlaufen ist, dass du diese "normale" Ungezwungenheit entwickeln konntest. Du kannst sie aber entdecken, wenn du jetzt den richtigen Menschen dafür bei dir hast. Und dass das passiert, darauf kommt es doch an. Nicht die Ereignisse in der Vergangenheit sind entscheidend, sondern die, die jetzt kommen, mit deinem Freund. Denn um euch Wärme zu schaffen, braucht ihr die Quelle der Kälte nicht zu kennen. Wie ihr sie vertreiben könnt, könnt ihr auch ohne das herausfinden. Und der erste Schritt dazu ist, dass du das Thema nicht beiseite schiebst, sondern versuchst, dich mitzuteilen. Für ihn ist nämlich nichts schlimmer, als wenn er das Gefühl bekommt, dass du es verdrängst, dich einrichtest - dass es für dich gar nicht so wichtig sein könnte. Wenn du ihm zu verstehen gibst, dass du nachdenkst, dass es in dir arbeitet, dann wird ihn das beruhigen. Und je mehr es für euch zur Gewohnheit wird, diese Dinge auseinander zu setzen, desto eher wird dir vielleicht auch einfallen, was für Steine dir auf dem Herzen liegen, wird sich etwas lösen und ihr werdet dahin kommen, euch mit Zärtlichkeiten vorzutasten. Kleine Schritte, kleine, aber vertrauensvolle Berührungen, Liebesbeweise sind viel, viel besser, als wenn du das Ganze beiseite schiebst aus Angst, du könntest es ihm nicht begreiflich machen. Denn die beste Wortwahl ist hier nicht von Bedeutung, sondern der Ansatz, der Versuch selbst, es mit ihm anzugehen.

Vergiss nicht, was ich oben geschrieben habe: Er ist nicht genervt, nicht unwillig, er hat Angst. Er liebt dich, und die Vorstellung, die Liebe zu dir wegen so etwas Schnödem wie Sex aufgeben zu müssen, macht ihm Angst. Du hast einen Partner, der sich in der Rolle des Mannes wohlfühlt, der für eine Frau da ist, für sie sorgt, auf sie zugeht. Es ist für ihn quälend, wenn seine Liebe einer Frau gilt, die ihn mit der Begierde zurücklassen könnte. Wenn dein Problem ihn überfordern könnte, und in ihm den Teil des Mannes zum Vorschein bringen, den er an sich nicht sehen will. Er hat gesagt, was er gesagt hat, weil er in dieser Sache genauso hilflos ist wie du. Was ihr nur machen könnt, ist, euch vorzutasten, und darin nicht abzulassen. Aber ihr könnt es nur dann ohne Zwang tun, wenn ihr vertraut, dass es euch voran bringt. Wenn einer die Hoffnung aufgibt oder das Thema beiseite schiebt, dann ist das gefährlich.

Es geht hier nicht darum, dass du dir Druck machen sollst. Ich möchte dir vermitteln, wie dein Freund hier - meiner Meinung nach - denkt. Du musst wissen, dass wir Männer viel mehr unter dem dämlichen Thema Sexualität leiden, als ihr Frauen euch vorstellen könnt. Es ist für uns schwierig, dass unsere Triebe - oft - präsenter, heftiger und absoluter sind. Weil es eben auch für uns die Liebe gibt, die wir fühlen. Für jemanden, der seine Partnerin liebt, gibt es nichts Schlimmeres, als in ein ekelhaftes Klischee abzurutschen, wenn seine Lust ihm über den Kopf wächst. Deshalb musst (und sollst!) du dich zu nichts zwingen, aber du solltest auch Verständnis für ihn haben, wenn er damit Unsicherheiten erlebt. Das wird er, und das tut er. Es ist nicht leicht für ihn. Aber es ist niemandem genützt, wenn du dich zwingst und gegen dein Gefühl handelst. Er möchte dich spüren, aber nicht, weil du dich ihm auslieferst, sondern weil du es auch willst. Das kannst du, auf der körperlichen Ebene zumindest, derzeit nicht bieten. Du wirst es möglicherweise erleben, dass er deswegen gereizt wird, dass es Ärger gibt. Es ist komisch für ihn, aber nicht weil er dich nicht verstünde, sondern weil es ihm zu schaffen macht, dass er dir Druck machen muss. Und das tut er doch - auch ohne es zu wollen, auch ohne es dir offen gesagt zu haben? Wenn du ehrlich bist, hat allein sein Satz, er wolle nicht Jahre warten, dir Druck gemacht. Und in der Tat, er kann es nicht. Weil er ein Mann ist. Der dich liebt. Und dass diese zwei Dinge nicht zusammen gehen könnten, das ist seine große Angst. Er ist genauso hilflos wie du, und darum braucht es Vertrauen von euch beiden, um das Problem zu lösen. Vertrauen, und auch ein wenig Mut von dir, dir hin und wieder einen Ruck zu geben. Nur viele kleine Schritte machen den ganzen Weg. Das ist nicht einfach: Es wäre falsch, etwas zu tun, was du nicht eigentlich willst. Es ist aber auch problematisch, es gleich bleiben zu lassen, weil es so leichter ist. Zwischen beiden Polen kannst du deinen Weg finden, doch dafür ist es nötig, dass du dich einlässt, und dir zutraust, es zu schaffen. Auch dein Freund muss sich dieses Vertrauen in sich erarbeiten. Und Rücksicht auf dich nehmen, das ist nur recht und billig. Im Augenblick ist er auf seine Art ebenso unsicher. Er hat Mitleid mit dir, aber er weiß, dass er ein Mann ist, und das quält ihn. Denke daran, wenn du so wie jetzt etwas schwer einordnen kannst. Er liebt dich so.

Ich muss so beschließen: Eindeutige Antworten, oder sagen wir, was ich darunter verstehe, habe ich vielleicht nicht bieten können. Aber du kannst bessere finden, wenn du zuversichtlich bist. Darauf kommt es an. Ich wünsche dir für dich und deine Beziehung alles Gute, und würde mich freuen, irgendwann mal wieder von dir / euch zu hören.

Liebe Grüße,

Paul