Problem von Anonym - 17 Jahre

Ich weiss nicht wie ich weitermachen soll !!! ...

Hallo...
Ich habe seit längerer Zeit starke Depressionen und Ängste... unter anderem auch schon Suizidgedanken...
Ich fange einfach mal an von meiner Vergangenheit zu erzählen damit ihr eines meiner Probleme etwas verstehen könnt... und zwar war das so, dass ich in der weiterführenden Schule von niemandem akzeptiert oder gemocht wurde... ich war ständig eine Aussenseiterin und kam auf Dauer nicht mehr damit klar (man bedenke ich war 11) Ich wurde ausserdem oft ausgelacht und gemobbt so dass ich eine Art Schulangst entwickelte... bis ich dann in der sechsten die Schule wechselte. Dort lernte ich dann ein Mädchen kennen welches ziemlich eigenartig war. Sie hörte andere Musik als andere ( Metal, Metalcore) und verhielt sich immer sehr zurückhaltend. Es kam dazu dass wir beste Freundinnen wurden und ständig etwas unternahmen. Wir haben über jede Kleinigkeit gelacht und waren einfach wunschlos glücklich! Sie hat genau so gedacht wie ich, hatte die selben Interessen wie ich. Sie war im Grunde genommen sowas wie eine Seelenverwandte. Mit dem Unterschied dass sie mehr Möglichkeiten hatte ihre Art komplett auszuleben. Sie durfte alles. Ich durfte mir nicht einmal die Haare färben oder wss mit Jungs machen...
Sie hat mir gezeigt wie mab das Leben genießen kann ohne ein Teil von den anderen zu sein die alle hassen die individuell sind...Wir zogen uns düster an, hörten Metal, schauten Animes, spielten Computerspiele ... wir waren das Gegenteil von anderen Mädchen in unserem Alter. Aber wir waren glücklich!
Das schlimmste kam dann aber in der achten Klasse als wir uns gestritten haben... ich weiss nicht mehr wieso, denn es ist zu lange her...
Wir haben erst nach einem halben Jahr über Whatsapp wieder miteinander geschrieben und uns "vertragen" . Ich sah sie nicht mehr weil sie ab der neunten die schule gewechselt hat.. sie meinte es sei alles in "Ordnung" doch ignorierte meine Nachrichten.
Als ich sie dann nach einem weiteren halben Jahr darauf ansprach meinte sie nur zu behaupten ich sei unreif und kindisch ( immer noch wegen dem Streit )
Seit dem haben wir gar keinen Kontakt mehr... sie hat mich überall geblockt und ich habe keine Gelegenheit mehr mit ihr zu sprechen... obwohl ich ständig an meine Seelenverwandte denken muss... das ganze hört sich vielleicht nicht so schlimm an aber für mich war sie eine Art Person in meinem Leben die mir ein großes Stück weitergeholfen hat. Und es fühlt sich nach all der Zeit immer noch so schrecklich an weil ich sie vermisse und dass seit Jahren.... es gibt aber keine Möglichkeiten mehr...ich bin so depressiv und glaube dass ich so eine Person die genau so ist wie ich nicht mehr so schnell finden werde... heute bin ich 17 und komme noch immer nicht damit zurecht.....

Außerdem habe ich im Laufe der Jahre eine Art Angst vor Menschen entwickelt... ich habe Depressionen und weiss nicht weiter... ich kann nicht aus dem Haus gehen ohne Angst zu bekommen... die Blicke reichen manchmal schon... ich muss sie alle ausblenden... ich hasse die Menschheit nicht. ... ich fühle mich bloss unwohl und leide unter Stimmungsschwankungen.... ich brauche Hilfe bevor es zu spät ist
Ich habe einen Termin beim Psychologen doch dass dauert noch einen Monat und ich hoffe ich halte es durch... bitte helft mir :(

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

ab wann ist etwas schlimm? Es ist gut, dass du dich an uns gewandt hast. Ich hoffe, dass ich dir ein wenig Kraft geben kann. Aber voraus schicken muss ich eines: Würdige dich nicht selbst herab, indem du sagst, dein Problem klinge vielleicht gar nicht so schlimm. Es klingt schlimm. Es ist auch schlimm, wenn ein junges Mädchen so am Boden zerstört ist, dass sie keinen Sinn mehr sieht. Wenn jemand das nicht schlimm findet, dann bist nicht du der Grund und deine Geschichte, sondern dass der Mensch, der es nicht schlimm findet, ein Ignorant ist.

Vielleicht kommt es dir seltsam vor, dass ich diesen Satz von dir aus deinem Text heraus gegriffen habe. Mir ist jedoch wichtig, dir zu verdeutlichen: Ich sitze hier nicht, um Leuten abzuwinken, nach dem Motto: Jammer hier nicht rum! Ich mache diesen Job, weil ich Leuten das Gefühl geben möchte, ernst genommen zu werden. Sehr häufig rate ich eigentlich zu wenig konkreten Handlungen, sondern bemühe mich, den Leuten klar zu machen, dass sie das, worunter sie leiden, schon viel zu sehr nachahmen: Die Geringschätzung, die ihnen entgegen gebracht wird, haben sie schon übernommen. Sie schätzen sich selbst gering. DU schätzt dich gering, wenn du mir einen Text schreibst, der mir klar macht, dass es hier um Leben und Tod gehen könnte - und andererseits glaubst, ich könnte Schwierigkeiten haben, das zu begreifen. Es ist unerheblich, ob ich das so empfinden würde. Du empfindest es anders, für dich ist es schlimm. Und wenn ich nicht so raten würde, dass dir Genüge getan ist, nicht mir, dann dürfte ich hier nicht sitzen. Hab keine Angst vor mir. Ich glaube dir nämlich. Das wollte ich sagen.

Für dich hat es schon schwierig angefangen: Du hast zu Beginn der Zeit auf einer weiterführenden Schule keine Aufnahme gefunden, hast Ablehnung erfahren. Das Tragische ist - oft wissen Kinder nicht, was sie sich gegenseitig antun. Oft wissen auch erwachsene Menschen das nicht. Derjenige, der gerade in der starken Position ist, der Freunde hat, gute Noten hat, beliebt ist, der haut immer drauf - ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass er es nur einem glücklichen Schicksal zu verdanken hat, dass die Rollen nicht vertauscht sind. Und ob wir das vielleicht vergessen, das müssen wir alle uns jeden Tag aufs Neue fragen. Du hast die Erfahrung gemacht, ganz unten zu sein, isoliert, misstrauisch beäugt, getriezt und abgelehnt - dass dich das sehr geprägt hat, ist verständlich. In frühen Jahren werden die Grundsteine gelegt, oft durch Erlebnisse, die dem, durch den sie kommen, klein erscheinen - aber dem, den sie treffen, eben nicht. Oder hast du nicht auch Bilder von Erfahrungen mit deinen Mitschülern im Kopf, die dich immer noch beschäftigen, aber an die sie wahrscheinlich kaum mehr denken? Es treibt dich noch um, obwohl die Zeit sich, Gott sei Dank, geändert hat. Und hier möchte ich ansetzen: Du hast früh gelernt, liebe Anonyme, dass du angeblich wenig wert bist. Man hat dich so behandelt - das allein ist schlimm. Es ist noch schlimmer, weil Kinder es oft gar nicht merken, weil Menschen eben so sind. Doch was am allerschlimmsten ist, ist, dass du es angenommen hast. Der erste Schritt zur Besserung könnte die Erkenntnis sein, dass das, was die meisten brüllen, weil es ihnen leicht fällt, weil es einfach ist, für die Starken zu sein, nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen muss. Du warst niemals wenig wert, sondern schon immer ein Mensch mit einer eigenen Persönlichkeit, mit Stärken und Besonderheiten.

Deine Freundin hat für dich alles verkörpert, was dir gut tut, was auch immer richtig war: Dass man seinen eigenen Sinn und Weg finden muss. Dass jeder Mensch etwas Eigenes ist. Und dass es arm ist, das Individuelle zu verachten, das Andere, weil es nicht ins Bild passt. Ihr habt das gemeinsam umgesetzt, habt es auf die Spitze getrieben, habt provoziert - das hat dir gut getan. Du sagst zu Recht: Sie war eine Seelenverwandte für dich. Wenn du das sagst, verstehe ich es so: Du hattest in ihr alles, was du dir wünschst. Sie hat dir nicht nur das eröffnet, was für dich schön war, sondern sie war es auch, als Person, die etwas verkörpert, wie du leben willst. Ob deine Freundin zu dir zurück kommt, kann ich dir nicht sagen. Dir bleibt im Grunde nur, ihr zu sagen, das es dir leid tut (was immer es war), aber dass es eben auch vorbei ist. Irgendwann muss alter Streit auch ruhen können. Wenn du nicht einmal mehr den Anlass nennen kannst, kann es so groß nicht gewesen sein. Möglicherweise hat sie es so empfunden, möglicherweise war es auch verstehbar. Wenn es für sie noch immer Grund genug ist, dich links liegen zu lassen - okay. Du kannst es leider nicht ändern, kannst nicht mehr tun, als es ihr anbieten. Was du aber kannst, ist, dich zu erinnern, was deine Freundin dir vermittelt hat: Nämlich ein Gefühl, wie du leben willst, eine Vorstellung, was dir wichtig ist. Und das gilt es, auszuleben.

Über lange Zeit liefen euer beider Leben parallel: Ihr hattet denselben Stil, dieselben Hobbys, man sah euch immer gemeinsam. Das Ganze wart ihr, im Wortsinn, es lebte von euch beiden als Team. Jetzt, wo ihr euch zerstritten habt, klafft in dir eine große Leere. Was, fragst du dich unterbewusst, macht es noch für einen Sinn, wenn sie doch nicht mehr bei mir ist? Die Antwort ist: Es macht sehr wohl Sinn. Nämlich, weil es dir etwas gibt, du selbst zu sein. Das kannst du auch, ohne dass jemand Gleichgesinntes an deiner Seite ist. Wenn du es aber tust, wirst du am ehesten wieder jemanden finden. Denn den besten und meisten Eindruck macht der, der zu sich steht und sich nicht verbiegen lässt. Das kannst du doch trotzdem noch sein, oder? Was entspricht dir? Welche Kleider möchtest du tragen, welche Spiele spielen, welche Hobbys haben, welches sind deine Ziele, deine Meinungen, deine Sympathien? All das zusammen macht deine Identität aus. Wenn sie an eine andere Person geknüpft ist, die all das Gute, was von einer befriedigenden Identität ausgeht, mit sich trägt, dann kann sie es auch wieder fort nehmen. Scheint es. So ist es aber nicht. Denn all das, was du mit deiner Freundin gelebt und betrieben hast, das war schon in dir. Das gehört nicht nur ihr, das macht auch dich als Person aus, es ist ebenso ein Teil von dir wie von ihr. Weder kopierst du sie, wenn du das lebst, was dir entspricht, noch kannst du es nur, wenn du mit ihr befreundet bist. Interessant finde ich, dass die Teile deines Textes, in dem es um dich geht, eher verschüchtert und zurückhaltend wirken, voller Zweifel, ob du überhaupt etwas wert bist. Da, wo es um dich und deine Freundin geht, sprichst du plötzlich all die Dinge aus, die ich dir auch gern vermitteln will: Du hast ein Selbst, etwas, das du bist, das auch keiner dir nehmen und keiner ersetzen kann. Glücklich bist du nur, wenn du es lebst und dir nicht nehmen lässt. Es bringt nichts, konform zu sein, weil es zwar einfach, aber nicht befriedigend für dich ist. Solange du alles, was dir gefällt, was sich für dich gut anfühlt, nur in Verbindung mit deiner Freundin leben möchtest, wirst du unter Umständen ewig warten. Denn Personen kommen und gehen, sie zeigen dir etwas, stoßen dich auf eine Seite deines Selbst, die du noch nicht kanntest. Das hat auch deine Freundin getan. Doch sie konnte es nur, weil der Boden dafür bereitet war. Und was du von ihr mitgenommen hast, das hast du nicht einfach nur nachgeahmt, sondern du hast es für dich neu gedeutet. Keiner, der heute lebt, kann etwas leben, ohne dass jemand ihn inspiriert hat. Und nichts, was jemand lebt, ist exakt dasselbe, wie das, was es bei seinem Vorbild war. Weil jeder anders ist. Darum also - habe keine Scheu, dir den Stil zu geben, der dir behagt. Es ist dein ganz eigener.

Jede Angst lässt sich im Grunde nur abbauen, wenn man sich mit ihrer Quelle konfrontiert. So ist es bei Menschen, die Angst vor Spinnen haben - das alte Beispiel - so, dass sie erst Bilder gezeigt bekommen, dann eine kleine Spinne, dann eine größere, und irgendwann dürfen sie eine auf die Hand nehmen. So ist es, wenn du Angst vor Hunden hast, Höhenangst, Angst vor der Dunkelheit. Immer kleine Schritte. Du musst nicht alles auf einmal schaffen. Aber du kannst dir kleine Ziele setzen - einkaufen, ins Kino gehen, in die Stadt fahren. Was wichtig ist, ist, dass du dich Blicken aussetzt, dass du etwas Anderes siehst. Und du wirst merken: Wenn die kleinen Kraftproben für dich zur Normalität werden, dann werden auch größere leichter zu schaffen sein. Wenn du dich ganz verschließt, wird alles dir riesengroß und schwierig scheinen. Das ist es auch - am Anfang. Doch wenn du beharrlich bleibst und dir nicht zuviel vornimmst, kann es klappen. Vergiss dabei eines nicht: Dich nicht zu überfordern. Sei auch nachsichtig mit dir. Du kannst nichts für deine Situation, du möchtest sie langsam und vorsichtig ändern, entsprechend deinen Kräften im Augenblick. Mach dir keine Vorwürfe, weil du nicht alles auf einmal kannst. Du bist auch nicht allein mit deinem Problem. Es ist nicht so, dass die ganze übrige Menschheit dir etwas voraus hat. Mach dich nicht selbst nieder, respektiere dich - und damit meine ich: Respektiere, dass du Fehler hast. Das ist wichtig. Genauso, wie es wichtig, auch manchmal hart mit sich selbst ins Gericht zu gehen. Aber darauf kommt es gerade nicht an. Es kommt darauf an, dass du die Achtung vor dir selbst zurück gewinnst - mit all deinen Fähigkeiten und auch deinen Fehlern. Rückschläge werden nicht ausbleiben. Man muss damit rechnen, aber man darf sich auch nicht einreden, wenn sie geschehen, wäre das endlos schlimm. Du bist nur ein Mensch. Und du musst kein Übermensch sein, wenn du dir selbst schon so viel Menschlichkeit absprichst. Darauf kommt es an, dass du das nicht mehr tust.

Liebe Anonyme: Verzeih dir. Selbstkritik ist gut. Doch du hast dir dein Los nicht ausgesucht. Du kannst es verändern. Ich wünsche dir, dass du zur Ruhe kommen kannst, dass du dich kleinen Herausforderungen stellst und dann größeren. Dass du Kontakte knüpfen kannst - und dass du dich selbst mit mehr Respekt ansiehst. Wenn du Schwierigkeiten hast, anderer Leute Blicke zu ertragen, dann vielleicht, weil du Geringschätzung erwartest, wo keine sein muss? Weil du sie so sehr verinnerlicht hast. Aber so mitleidlos ist die Welt nicht. Hab Vertrauen in die Welt - und auch in dich. Du kannst es schaffen.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul