Problem von Catalina - 17 Jahre

Ich fühle mich minderbemittelt und dumm.

Wie schon in der Überschrift gesagt wird, fühle ich mich zu dumm für die Welt, zu dumm für mein Umfeld. Ich weiß einfach nicht mehr weiter, weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Am besten erzähle ich mal etwas über mich.

Mein Name ist Catalina und bin 17 Jahre alt. Ich habe eine tolle Familie und einen Freund, mit dem ich seit 2 Jahren zusammen bin. Jedoch habe ich ein für mich sehr belastendes Problem,mit dem ich mich so gut wie jeden Tag beschäftige, nämlich dumm sein. Ich bin in der Schule zudem eine richtige Niete, bin 2 mal sitzengeblieben. Einmal in der ersten Klasse, weil ich laut den Lehrern noch unterentwickelt sei, und einmal in der 9. Klasse, wahrscheinlich wegen den Fehlstunden. Ich hatte Angst falsche Antworten zu geben, ausgelacht zu werden. Ich wurde sogar so nervös, dass ich in Mathematik nichtmal eine einfache malaufgabe (11x11) lösen konnte. Die Klasse hat mich ausgelacht, ich habe im Hintergrund "wie dumm kann man bloß sein?!" gehört, der Lehrer hat mich dumm angeschaut und bin weinend aus der Klasse rausgerannt. Ab dem Zeitpunkt habe ich die Motivation für die Schule komplett verloren, und musste wiederholen. Nun bin ich in der 10. Klasse, auf dem Weg zum Abi, doch es wird nicht besser. Meine Noten sind noch gerade so gut, dass ich nur vielleicht sitzenbleibe. Ich habe in meinem Mathekurs 2 Leute, die sogar in der Uni in Mathe unterrichtet werden, und zur zu Klausuren kommen. Alle anderen schreiben Glanznoten, während ich es höchstens zu ner 4- schaffe.
Zudem habe ich das Gefühl, dass mich die Eltern meines Freundes auch dumm finden. Am Essenstisch wird sehr viel über Politik und Geschichte geredet, ich kann überhaupt nicht mithalten. Sogar der 1 Jahr jüngere Bruder meines Freundes kann mitreden. Immer wenn sie mich fragen, bringe ich nur ein leises stottern raus, und bin den Tränen nahe. Allgemein rede ich kaum bis gar nicht. Trotz vielem lesen, stärken des Allgemeinwissens und lernen, ist mein Wissen, dass ich mir erlangt habe wie weggeblasen, wenn ich nur mit einer Person rede. Die einzigen, mit denen ich über mein Problem rede sind meine Eltern, mein Freund und mein Psychologe. Mein Freund nimmt mich hinsichtlich dieser Thematik kaum ernst, sagt die ganze Zeit "hör auf damit, du bist nicht dumm, du nimmst das viel zu ernst.". Im Intelligenztest des Psychologen kam heraus, dass ich durchschnittlich intelligent mit schlechter Konzentrationsfähigkeit (er meinte aber, dass das mit meinen Depressionen zusammenhängt), doch ich will nicht einfach nur schlechter durchschnitt sein. Das war für mich wieder eine Bestätigung, dass ich kaum Intellekt besitze, wie die Eltern meines Freunde, wie meine Schwester, wie gut 80% meines Umfeldes. Jeden Tag versuche ich unglaublich viel zu lernen, Rechenaufgaben zu lösen, viel zu lesen, doch alldies bringt mich nicht weiter. Ich brauche einfach mal einen gutes Rat, abseits vom Psychologen, wie ich damit besser umgehen kann oder wie ich meine Intelligenz steigere.
Vielen Dank im voraus, Carina.

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Catalina,

wenn ich das Wort "dumm" höre, habe ich jedes Mal noch das Bild eines Keulen schwingenden Höhlenmenschen vor mir, der nicht weiter als bis zur nächsten Mahlzeit denken kann. Siehst du dich so? Ich glaube, "dumm" ist in unserer Zeit zu einem solchen Allerweltswort geworden, dass es seiner ursprünglichen Bedeutung schon wieder entwachsen ist. Grundschulkinder pfeifen sich gegenseitig an "Ey, wie dumm kann man sein, Mann!", und pubertäre Jungs lachen sich einen Ast über Schulkameraden, die gerade nicht da sind, und es fallen Sätze wie: "Tja, der überzeugt mich jedes Mal wieder, dass er dumm wie Brot ist..." Um diejenigen Menschen zu beschreiben, die das Wort "dumm" wirklich verdienen - Schläger, Tierquäler, Rassisten - für die ist es dann wieder zu billig. Das ist schon seltsam. Eines aber ist klar: Dein Freund hat recht, und du bist keineswegs dumm.

Wenn man von einer Sache spricht, muss man auch ihr Gegenteil nennen: Mein bester Freund hat auf dem Wirtschaftsgymnasium Abitur gemacht, auf dem zweiten Bildungsweg also. Heißt auf Deutsch, er hat sich zwei Jahre vor mir für eine Abschlussprüfung abgerackert, hat sich beworben, hat zwei weitere Jahre mit Wirtschaft graue Haare bekommen, aber trotzdem einen Einser-Schnitt geschafft. Und alles nur, weil er nach der Grundschule lieber auf die Realschule ging, statt gleich aufs Gymnasium. Aber er muss sich von Leuten, die auf einem betuchten Gymnasium ihr Abi gemacht haben, anhören: "Ach, du mit deinem Schmalspur-Abitur, viel wert ist da ja nicht gerade!" Das sind dann Menschen, die Latein, Hebräisch und Griechisch gelernt und einen Traumschnitt hingelegt haben, die sich wahnsinnig etwas darauf einbilden, ohne Wartesemester ins Psychologie- oder Medizinstudium zu kommen - aber Mitstudenten, die welche auf sich nehmen mussten, weil ihr Abschluss nicht so gut war, bekommen von ihnen gesagt: "Mit dir gebe ich mich nicht ab!" All das sind Dinge, die ich aus meinem Freundeskreis weiß. Ich habe dir jetzt Leute geschildert, die nach der Definition unserer Gesellschaft als "intelligent" gelten. Würdest du zustimmen, dass jemand, der zwar ein glänzender Mediziner oder ein guter Anwalt werden kann, aber menschlich verhärtet, das für sich in Anspruch nehmen darf? Ich eher nicht.

Intelligenz, wie wir das Wort benutzen, heißt dasselbe wie: Leistungsfähigkeit. Und leistungsfähig bist du, wenn du möglichst viele komplizierte Gleichungen möglichst schnell rechnen kannst, möglichst viele Vokabeln weißt, möglichst gediegen reden kannst. All das sichert dir womöglich einen tollen Job, Geld, Ansehen und Macht. Aber ehrlicher Respekt, ehrliche Liebe und Wärme ist damit noch lange nicht gewonnen. Und auch nicht zu schaffen. Was mich betrifft, so sind die Menschen, die mich in meinem Leben am meisten gestützt und von denen ich am meisten gelernt habe, diese: Mein Vater - Malermeister; meine Mutter - Apothekenhilfe; ein väterlicher Freund - Gärtner; mein Patenonkel - Lebenskünstler, der Kioskbesitzer, Rettungsschwimmer, Hilfslehrer und manchmal Trinker war... und viele andere. Nur ein Teil von ihnen hat einen höheren Abschluss, und nur wenige haben etwas daraus gemacht. Aber sie hatten etwas, das du nicht in der Schule lernst: Ein offenes Ohr, eine zärtliche Hand, wenn nötig, und die Eigenschaft, im richtigen Moment die richtigen Entscheidungen zu treffen; die Eigenschaft, hart zu sein, wenn es das brauchte; die Eigenschaft, zu merken, wenn jemand einsam war; die Eigenschaft, verzeihen zu können. Und nicht zuletzt das Talent, all das zu vermitteln. Ich würde von mir keineswegs behaupten, dass ich all diese Fähigkeiten habe, wenn überhaupt eine. Aber ich möchte dir damit zeigen, dass es nicht darauf ankommt, wie groß dein messbarer Erfolg ist: Messbar in Form von Noten, in Form von Sätzen, die Menschen, die keine Ahnung haben, leichtfertig hinschleudern. Natürlich ist ein Abschluss wichtig, eine Ausbildung, ein Beruf, das alles soll nicht bestritten sein. Aber ob messbarer Erfolg, großer messbarer Erfolg, dir ein glückliches Leben garantiert, ob er dich befähigt, aus deinem Leben das Beste zu machen, das ist eher fraglich.

Mir fällt in diesem Zusammenhang gerade ein Satz aus "Harry Potter und die Kammer des Schreckens" ein: "Viel mehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, Harry, die zeigen, wer wir wirklich sind." Das möchte ich auch dir ans Herz legen. Denn du hast vor allem über Dinge gesprochen, die dir schwer fallen - Dinge, die sich in messbarem Erfolg niederschlagen: Rechnungen, Kenntnis von Büchern. Doch auch wenn diese Dinge nicht verkehrt sind, braucht es sie nicht, um ein guter Mensch zu sein. Und sie zu beherrschen, sagt noch lange nicht aus, dass man nicht als dumm gelten darf.

Es wäre schön, wenn jemand nur einen Titel brauchen würde oder ein Abitur, damit du wissen könntest: Der ist in Ordnung, ist solide, macht nichts Falsches, entscheidet immer erst nach sorgfältiger Überlegung, lässt sich nicht täuschen, ist offen und hilfsbereit. Aber so ist es leider nicht. Denk mal an den Nationalsozialismus: Wie viele Männer, die exzellente Referenzen hatten, traumhafte Karrieren und Zeugnisse der besten Universitäten vorweisen konnten, haben sich von ihrer Angst umgarnen, von ihrer Gier verleiten lassen, haben den Verlockungen der Macht nachgegeben? Richter, die Unschuldige zum Tode verurteilen, weil sie nicht an einem Krieg teilnehmen wollen, der Millionen Menschen ins Verderben reißt. Ärzte, die Menschenversuche durchführen, nicht mal nutzbringende, sondern solche, die ihren kranken Fantasien entsprechen - sich einredend, es wäre alles nur für das größere Wohl. Priester, die Angehörige anderer Religionen ihren Henkern ausliefern, obwohl sie genau wissen, was in der Bibel steht. Schriftsteller, Philosophen, Schuldirektoren, Bürgermeister, Wissenschaftler aller Fächer, die sich mit einer Diktatur und ihren Verbrechen solidarisch erklären, und sich schamlos selbst belügen, dass das ja das kleinere Übel wäre. (Anmerkung: Heute ist es wieder genauso. Nur, die Menschen merken es nicht, weil sie vergessen, dass keine noch so berechtigte Angst und keine noch so große Schwierigkeit Gewalt rechtfertigen können. Und wir fallen auf sie herein, weil wir uns nicht klar machen, dass es nicht ausreicht, wenn jemand ein real existierendes Problem benennt, dass ich seinen Lösungsvorschlag auch gut finden muss. Aber das bloß am Rande.) Für dich heißt das vor allem: Du solltest weniger nach den Fähigkeiten sehen, die dir im Moment noch fehlen mögen, sondern solltest dich auf das besinnen, was dich ausmacht. Dumm ist nichts, was du bist, weil deine Noten schlecht sind - dumm ist etwas, das du aus dir machst, wenn du dumm handelst. Und das tust du nicht. Eine aufrichtige Freundin zu sein, ist mehr wert, als eine gute Mathenote. (Was nicht heißt, dass eine gute Mathenote nicht was Tolles ist.) Ein großes Herz zu haben, ist mehr wert, als eine Sprache fehlerfrei zu sprechen. (Was nicht heißt, dass es nicht wünschenswert ist. Es ist auch unendlich viel wert, jemandem einen Kakao kochen zu können, wenn er ihn braucht, den Arm um ihn zu legen, wenn es nötig ist, und im richtigen Augenblick sagen zu können: "Ich schaffe das nicht." Du bist nicht dumm. Was du meinst, ist: Du hast Schwierigkeiten bei den Dingen, die man, formal betrachtet, nun einmal lernen muss, um im Leben vorwärts zu kommen. Ob man dabei erfolgreich ist, hängt aber letztlich nicht von Schulnoten ab.

Den Intellekt, der dir deiner Meinung nach fehlt - der ist ja bereits da. Das haben die Tests erwiesen. Allerdings bist du gehemmt durch deine Angst vor Fehlern und deine eigene Überzeugung, es nicht schaffen zu können. Sagen wir mal so: Das Leben hat dir den Luxus nicht gegönnt, dass du in den letzten fünf oder zehn Jahren vor allem über das Anhäufen von Wissen hättest nachdenken können. Das ist aber nicht falsch. Du kannst aus dir auch nicht im Eiltempo einen neuen Menschen schmieden. Wenn du etwas beherrschen willst, kannst du dir entweder sagen: "Okay - eine vier reicht mir, es ist ausreichend, es ist bestanden." Oder es muss dich gepackt haben, du musst es wollen. Ob das jetzt ein Thema aus der Politik ist, eine Sprache, die du lernen möchtest, ein anspruchsvolles Hobby - wenn du dich etwas zwanglos näherst, wirst du es auch zugänglicher finden. Das ist bei den Schulfächern gerade nicht so der Fall, denn es hat sich dir anscheinend schon eingeprägt, dass du und die nicht zusammen können. Muss das so sein? Vielleicht werden deine Noten es - scheinbar! - ausweisen. Aber was du in Wirklichkeit mitnimmst, langfristig, kann mehr sein, als bei den Anderen. Ich würde dir vorschlagen, dass du Prioritäten setzt. Du kannst nicht alles auf einmal bewältigen, schon gar nicht unter einem so hohen Anspruch an dich selbst. Wenn es dein Ziel ist, die zehnte Klasse zu bestehen, dann kannst du das schaffen - aber vor dem Hintergrund der jetzigen Fakten wäre es vielleicht zuviel verlangt, wenn du unbedingt gut bestehen wolltest. In der Oberstufe kannst du dich auf deinen Neigungsfächer konzentrieren. Oder nach einem anderen Muster. Aber selbst wenn es passieren sollte, dass es dir weiter über den Kopf wächst, du dich durchschlägst: Verzage nicht. Du wirst deinen Weg gehen. Und über die Dinge, die du in der Schule lernst, exakt Bescheid zu wissen, weist auch noch keinen klugen Menschen aus. Eine andere Kunst ist die des Fragens: Kannst du deinen Freund bitten, dir etwas zu erklären, was du im Gespräch mit seiner Familie nicht verstanden hast? Kannst du bei seinen Eltern nachfragen, ganz unverfänglich, als fehlte dir nur ein Detail - und möglicherweise erfährst du durch die Antwort schon mehr, als dir ein Buch, das dich eigentlich abstößt, gesagt hätte? Es zeugt auch von Klugheit, wenn man zugeben kann, dass man nicht allwissend ist, und sich aufklären lässt. Wenn du unter Zwang möglichst viel einpauken möchtest, was dir nicht entspricht oder wovor du Angst hast, dann ist es vor allem unklug dir gegenüber. Denn du vertiefst deine Überzeugung, dass du dumm seist, nur noch mehr, wenn es dir nicht so leicht fällt, wie es doch einfach nicht muss. Ich kann verstehen, dass es schwer ist, wenn ich dir das sage - doch so sehe ich es. Oder ist einer deiner Mitschüler, nachdem du weinend rausgelaufen bist, dir nachgegangen, und hat dich getröstet? Nein? Das wäre nicht allein Intelligenz gewesen, weil es ihm oder ihr deine Anerkennung gesichert hätte, die man durch einen guten Beitrag im Unterricht niemals erlangt - sondern auch, weil es von menschlicher Größe gezeugt hätte. Und von menschlicher Größe zeugt es auch, dass du ehrlich über deine Gefühle bist, und dich an uns gewandt hast. Ich kann dir deinen Schmerz und Ärger nicht nehmen - aber ich kann dir nochmals sagen, dass du sehr hart mit dir ins Gericht gehst. Ist das klug? Das musst du selbst entscheiden. Und ich bin sicher, du entscheidest richtig. Vielleicht nicht gleich heute - doch du wirst.

Nach allem merkst du: Intelligenz ist ein schwieriger Begriff. Und "die Intelligenz steigern" noch mehr. Man sagt ja, es sei sinnvoll, in vielen Bereichen über das berühmte Halbwissen zu verfügen. Doch du kannst nicht alle gleichzeitig abdecken. Was meinst du, wie viele Menschen, die dir intelligent vorkommen, eigentlich bluffen, und allgemeine Aussagen kunstvoll zusammenstricken, damit sie so wirken, als wüssten sie ganz genau bescheid? Die meisten Leute bleiben mit ihrer Argumentation sehr stark an der Oberfläche, die feinen Untertöne möchten oder können sie gar nicht wahrnehmen. Um dich in der intellektuellen Welt leichter zurecht zu finden, kann ich dir vorschlagen, dass du versuchst, für dich den Druck rauszunehmen. Es braucht eine Situation, in der du nicht fürchten musst, demnächst über alles geprüft zu werden. Und es braucht die nötige Ruhe, um mit deinen Gedanken allein zu sein - damit nicht immer gleich jemand bei der Hand ist, dessen Sätze dir ausgefeilter klingen als deine, wodurch du dann gleich entmutigt wirst. Zum Beispiel könntest du, wenn du im nächsten Urlaub in einer kulturell interessanten Stadt bist, einfach mal den Reiseführer zur Hand nehmen: Meistens sind darin erste Fakten über Geschichte, Kultur, Architektur eingestreut, die schon viele größere Themenbereiche anschneiden, mit denen man sich weiter beschäftigen kann. Und wenn du dir diese Sachen besiehst, hast du vielleicht schon ein paar witzige Kenntnisse gewonnen, mit denen du punkten kannst, hast dich ein paar Theorien angenähert, die dir in der Schule grausam vorkamen, und vielleicht einige Anregungen für zuhause gefunden, von denen aus du dich weiter in etwas einlesen kannst. Aber nicht nur die Schule, sondern auch Allgemeinbildung nach Plan und Pensum zu erwerben, ist relativ schwierig, wenn man eigentlich gerade große Angst hat.

Gestern erst habe ich mich mit einer alten Freundin getroffen, die, anders als ich, nicht unbedingt ein Bücherfan ist; andererseits konnte sie mir detailliert über die Fahrpläne der ganzen weiteren Umgebung berichten, wo welche Tarifgebiete enden, ineinander greifen, wo man Geld einsparen kann, was bei der Einteilung und bei den Preisen alles unlogisch ist. Das beschäftigt sie. Sie wäre die ideale Ansprechpartnerin, wenn ich in der Umgebung ihrer Stadt ein großes Projekt zu handeln hätte, zig Dinge einkaufen und zig Leute besuchen müsste, und kein Auto hätte. Meine Schwester kämpft mit Latein und Mathe, aber am Abend finde ich sie auf einmal beim Backen in der Küche, und sie wendet ganz selbstverständlich Chemie an, wenn sie Kuvertüre schmilzt und Blätterteig rollt, die sie in der Schule schrecklich findet. Es ist also immer auch eine Frage der Auffassung: Von manchen Menschen wird solcherlei als nervig angesehen oder belächelt. Aber es sind praktische Kenntnisse, die ohne große Theorie hinter sich auskommen - ohne Betriebswirtschaft und Kapitalismuskritik im ersten, und ohne Biochemie im zweiten Fall. Vieles wird in der Schule auch furchtbar kompliziert an die Menschen herangetragen. Wenn du einmal nach dem praktischen Nutzen der Dinge fragst, oder dich informierst, die du im Chemieunterricht lernst, oder was aus den ganzen Lateinvokabeln eigentlich geworden ist - dann sieht es schon wieder anders aus. Denn was jemand sich mehr oder weniger mühsam eintrichtert, muss er auch anwenden können - und da sieht es oft schon ganz anders aus. Reicht es dir nicht, dein eigenes Metier zu haben, und ansonsten nachzuhaken, wenn du etwas nicht verstehst? Du musst dich nicht bewusst unwissend geben. Aber ich rechne darauf, dass Menschen wie die Familie deines Freundes immer ganz gern dabei sind, jemandem ihr Wissen vorführen zu können - und in der Schule macht es sich stets gut, interessierte Fragen zu stellen. Weiterhin bin ich überzeugt, dass du möglicherweise Wissen hast, das dir selbst noch gar nicht so bewusst ist - nur wirst du nicht darauf geprüft. Diese Dinge kannst du entdecken, wenn du auch einmal den Gedanken zulässt, den dein Freund dir ja schon mitgegeben hast: Du bist nicht dumm. Du setzt dich selbst unter Druck, weil du auf das, wofür du gerade eine Note bekommen sollst, oft nicht adäquat antworten kannst. Aber dies ist das Wissen, das in der Schule zählt; die Schule pumpt dich mit vielem voll, das du später nicht wirklich brauchst, weil man es mal gehört haben soll, wobei es jedoch schrecklich unhandlich und verzerrt sein kann; und Anderes wird mangels Zeit nur angerissen. Wenn du dich also bildest, dann geh nach deinem Interesse, und tue so, als gebe es niemanden, der dich je danach fragen würde - als zählten nur du und deine Freude an der Sache. Denn so ist es. Sonst bräuchte niemand mehr Wissenschaft zu betreiben, weil es immer schon jemanden gab, der vor ihm viel besser belesen war. Doch man ist ja in der Ausbildung, um auch mal Fehler zu machen. Und was du beschreibst, ist etwas, was dir von außen - fatalerweise - vermittelt wird: Dass die Fragen, die du in der Schule beantworten musst, der Gradmesser für deinen Erfolg im Leben wären. Sie stellen ein paar Weichen - aber wenn man das Herz auf dem rechten Fleck hat, kann man es immer schaffen. Und das zu wissen, wird dich auch am raschsten befähigen, dich etwas ruhiger und mit weniger Angstschweiß dem Lernstoff zu widmen. Ich wünsche dir daher beides - mehr aber die Bedingung als die Folge. Denn sie ist es, worauf es am meisten ankommt.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul