Problem von Überlebende - 18 Jahre

Umgang mit Familie nach Missbrauch durch Onkel

Hallo liebes KK-Team,

Ich wurde mit 8 von meinem Onkel sexuell missbraucht. Meine Mutter hat ihren Bruder in Schutz genommen (nachdem sie mir erst stundenlang vorwarf, zu lügen), mein Vater hat nichts mitbekommen. Ich leide noch heute darunter. Das Problem ist folgendes:
Ich bin seit 5 Jahren nicht mehr meine Oma, Tanten und Cousinen besuchen gewesen. Mein Onkel wohnt mit meiner Oma. Wie besuche ich meine Familie, ohne meinen Onkel zu sehen. Welche Ausrede könnte ich nutzen um mein Verhalten zu erklären? Ich habe mich stark verändert. Ich bin emotional sehr kühl. Wie soll ich das erklären? Die Wahrheit steht außer Frage! Ich kann meiner armen Oma doch nicht sagen, dass ihr Sohn mich missbraucht hat! Ich würde die Familie beschämen und zerstören. Wir kommen aus einer anderen Kultur. Vielleicht glaubt mir auch wieder keiner. Ich kann mir nicht nochmal anhören, wie jemand den ich liebe sagt, dass ich lüge. Oder sollte ich es beibehalten wie jetzt - nie wieder im Urlaub zu meiner Familie, nie wieder meine einzige, verbliebene Familie besuchen (meine Eltern und meinen Onkel zähle ich nicht dazu)? Ich kann NIEMANDEM die Wahrheit erzählen. Der einzige Mensch, der mir glaubt, ist meine alte Therapeutin (ich habe im Moment keine Therapeutin, ich suche seit Monaten und bekomme nur Absagen, ich dreh am Rad!)

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Überlebende,

du bist sehr edel. Es ist bewundernswert, wie du deiner Familie trotzdem noch die Möglichkeit geben möchtest, in einer Illusion zu leben, in der dein Onkel dich nicht missbraucht hat. Hat er aber. Und daran ist nicht zu rütteln. Und ich würde dir auch empfehlen, nicht Anderen zuliebe so zu tun, als wärst du nicht die Leidtragende. Was ist schlimmer - dass sie ihr reines Gewissen behalten und du dir eine Lüge auferlegst, die dich noch mehr peinigt? Oder dass sie es dir verübeln, wenn du die Wahrheit erzählst?

Vor dem kulturellen Hintergrund ist es denkbar, dass auch deine Oma, Tanten und Cousinen lieber dich der Lüge bezichtigen, als einem Mann, der überdies der Sohn deiner Oma ist, diese Schlechtigkeit zuzutrauen. Vielleicht kann man ihnen noch nicht einmal einen Vorwurf deswegen machen. Es ist auch nicht in meinem Sinne, sie zu verurteilen, und auch nicht, eure Kultur zu verwerfen. Menschliche Grausamkeit und Blindheit gibt es überall. Ich sorge mich aber um dich und deine Sicherheit, deine Gesundheit. Versetze dich einmal in meine Lage: Hier antworte ich einer jungen Frau, die von ihrer eigenen Mutter gedemütigt wurde, nachdem sie von einem abscheulichen Verbrechen an ihr erzählt hat. Und jetzt möchte diese junge Frau von mir wissen, wie sie es anstellen kann, auch ja vor allen heile Welt zu spielen, denen sie zutraut, sich ebenso zu verhalten. Und bei alledem - offenbar bereit ist, die Blicke ihres Onkels zu ertragen. Das bist du.

Ich sage dir offen: Ich weiß keinen Rat, wie du deine Art erklären könntest. Ich würde dir auch gar keinen geben wollen. Aber du hast in der Tat recht, es macht wohl sehr wenig Sinn, zu ihnen zu fahren, nur um ihnen das Schreckliche zu eröffnen. Zumindest, wenn du den Frieden erhalten möchtest. Du stehst vor einer schwierigen Wahl: Entweder lässt du es bleiben, gehst auf Distanz zu deiner eigenen Familie - oder du gehst hin und tust, als wäre nichts. Was dir übrigens vermutlich nicht gelingen würde. Und ob es für dich schön ist, deine Familie zu sehen, wenn das auch bedeutet, den Menschen um dich zu haben, der dich missbraucht hat - das kannst du nur selbst wissen. Ob es dir das wirklich wert ist. Wenn du das Eine ohne das Andere nicht haben kannst - was gibt es dir dann? Ich glaube deinen Wunsch zu verstehen. Der Rest deiner Familie hat an diesem Verbrechen keinen Anteil, wenigstens keinen, von dem wir wissen. Du möchtest sie nicht verlieren. Aber wenn du das reale Risiko siehst, dass sie so reagieren wie deine Mutter: Wüsstest du nicht spätestens dann, dass du auf sie verzichten kannst?

Jede Kultur kann, wenn man die Loyalität zu ihren Werten, ihren Gepflogenheiten über das eigene Wohl stellt, großes Leid hervorbringen. Ich schreibe dir, wie ich schreibe, weil ich das Gefühl habe, dass du selbst noch in einer Denkweise gefangen bist, die du ablegen solltest. Ob diese kulturell bedingt ist oder nicht, darüber kann und möchte ich nicht entscheiden. Ganz unabhängig davon - Folgendes ist los: Dein Onkel hat dich geschändet. Hat sich an einem wehrlosen kleinen Mädchen vergangen, lebt ohne Strafe in der Anerkennung seiner Lieben. Du, das Opfer, die nichts, aber auch gar nichts dafür kann, musste sich von ihrer eigenen Mutter (du bist Blut von ihrem Blut!) anhören, sie sei eine Lügnerin. Und nicht einmal, viele Male. Was, wenn deine Mutter dir einfach geglaubt hätte? Was, wenn sie alles daran gesetzt hätte, den Rest deiner Familie von der Wahrheit zu überzeugen? Was, wenn es ihr geglückt wäre, oder euch? Dann könnte die Familie heute auch noch zusammen kommen. Es gäbe dann einen anderen Schuldigen. Deinen Onkel, den rechtmäßigen Schuldigen also. Und du müsstest dir die Gedanken nicht machen, die du dir machst. So wäre es richtig. Zerrüttet wäre eure Familie so oder so. Aber nicht für eine Lüge, die keine ist. Deine Oma kann genauso wenig für die Tat ihres Sohnes, wie du etwas dafür kannst. Sie hat ihm gewiss alles geboten, was es braucht, um ein anständiger Mensch zu werden, und ihre ganze Kraft und Liebe in seine Erziehung gesteckt. Zu dieser Tat hat er sich jedoch ganz allein entschieden. Dass sie darunter leiden würde, ist zu erwarten. Dass sie es erst nicht glauben könnte, dein Onkel wahrscheinlich das Gegenteil erzählen würde, das ist auch zu erwarten. Aber die Wahrheit ist, dass er der Schuldige ist und du das Opfer. Und wer es dir nicht glaubt, sollte dir nichts bedeuten.

Ich denke mir, dass es für dich schwierig ist, das von mir anzunehmen. Wie ich schon sagte: Es geht mir nicht darum, Unzulänglichkeiten in deiner Herkunft, Religion oder Kultur aufzudecken. Die Liebe zur Familie und der Wunsch, sie zu wahren, ist uns allen eigen. Und dennoch: Du bist selbst bemüht, das Geflecht aus falscher Loyalität und Schweigen aufrecht zu erhalten, das dein eigenes Leid verursacht hat. Ich möchte nicht, dass du das tust. Ich habe Angst um dich. Und wenn deine Familie dir nicht glaubt - dann kannst du dich mit Recht fragen, wofür du sie geliebt hast. Es ist nicht leicht, sicherlich nicht. Doch es geht hier um dich und dein Wohl. Du kannst glücklich sein ohne Theater zu spielen. Wenn sie es nicht können, ist das ihre Sache. Ich will deine Frage nicht beantworten. Ich will nicht, dass du so denkst. Ich will nicht, dass du nach Entschuldigungen suchst für jemand Anderes Schlechtigkeit, für die es keine Entschuldigung gibt. Ich will, dass du egoistisch bist. Und wenn du das nicht möchtest, bitte ich dich: Fahr hin - erzähl ihnen die Wahrheit. Nur mit der Wahrheit kann man als Mensch leben. Und auch sie werden mit der Wahrheit leben können, wenn sie dich wirklich lieben. Wenn sie aber nicht wollen, dann hast du zwar eine Familie gehabt. Aber keine, die du vermissen müsstest. Das, liebe Überlebende, ist die Wahrheit, auch wenn sie schmerzt. Ich wünsche dir viel Kraft und Glück auf deinem weiteren Weg!

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul