Anwort von PaulG

Lieber Damien Noah,

du kannst sicher sein, dass ich deine Geschichte ernst nehme. Ich finde es bewundernswert, dass du trotz deines Handicaps noch so viele Hobbys hast, die Sticheleien erträgst und für deine Zukunft arbeitest. Ich kann dich nur darin bestärken - lass nicht nach, denn du wirst ganz sicher etwas aus dir machen! Dein Text gehört mit Sicherheit auch zu den inspirierenden Geschichten für viele Menschen mit ähnlichen oder ähnlich schweren Problemen, die ihn lesen und daraufhin Mut schöpfen können. Es freut mich deshalb umso mehr, dass du dich getraut hast, dich zu öffnen! Nun möchte ich versuchen, auf deine Frage zu antworten.

Das ist so ein ewiges Rätsel, das mit dem: "Bilde ich mir das nur ein...?" Wie viele Menschen haben sich das schon gefragt? Und wie oft, frage ich mich gerade, ist es mir schon so ergangen? Man kann es nicht sagen. Auch nach deiner Erzählung kann ich nicht einschätzen, ob das, was du zu sehen glaubtest, real ist, oder ob es deine Sehnsucht wiederspiegelt. Beides ist möglich - aber ich kann nicht in ihren Kopf gucken, du verstehst? Ich sage mal so: Wenn du es dir nicht einbildest - und der Anzahl der Zeichen, und ihrer Häufigkeit nach, spricht viel dafür -, dann kann ich mir gut vorstellen, dass auch sie mehr für dich empfindet.

Nun ist es natürlich so, dass sie unter enormem Druck steht, sollte das zutreffen. Es ist nicht wirklich leicht, mit jemanden Zeit zu verbringen, ihm seine Sympathie zu bekunden, den das ganze Umfeld mehr oder weniger ablehnt - in diesem Fall mit dir. Es ist ein Zeichen von Mut, das sehr für sie spricht; es muss ihr aber auch wie ein Spiel mit dem Feuer vorkommen, da sie jedes Mal riskiert, dafür aufgezogen oder selbst ausgeschlossen zu werden. Wir alle haben das irgendwann mal gelernt: Man muss es darauf ankommen lassen, muss zu denjenigen stehen, die ausgegrenzt werden. Nur - es dann auch tatsächlich zu tun, wenn es not tut, das ist dann schon etwas ganz Anderes. Wenn der eigene Einsatz gefragt ist, koste es was es wolle, fallen einem auf einmal tausend Gründe ein, warum man hier eigentlich doch gar nicht zuständig wäre... es kostet einen ja was! (Denk mal an die Sache mit den Flüchtlingen... da geht es einem Teil der Gesellschaft ganz ähnlich.) Trotzdem: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. (Erich Kästner). Und das stimmt auch. Deine Mitschülerin tut es wirklich, sie setzt sich für dich ein, sie beschäftigt sich mit dir - und das kann man auf jeden Fall als Zeichen werten, dass sie dich nett findet. Wie weit ihre Zuneigung jedoch geht, das lässt sich schwer beurteilen. Und vor allen Dingen ist es für sie riskant oder unangenehm, wenn du ihr zu offen deine Dankbarkeit beweist. Jedes Mal schwankt sie in ihrem Kopf zwischen "Ich muss das jetzt, ich will das jetzt!" und "Aber was wird dann wohl passieren...?" Auf der einen Seite du, den sie sympathisch findet, der einen Beistand gebrauchen kann - und auf der anderen Seite der Rest, und die Risiken, die aus der Beschäftigung mit "dem Außenseiter" erwachsen: Ablehnung, Ärger, Streit, Geringschätzigkeit. Du kannst nichts dafür, dass das Leben dir so übel mitgespielt hat, Damien, und du solltest ihr (wenn sich die Gelegenheit bietet) auch auf jeden Fall weiterhin deine Wertschätzung zeigen. Es ist nichts gewonnen, wenn du ihr zuliebe so tust, als ließe es dich kalt: Du würdest sie nur verlieren, und das Ergebnis für sie wäre dasselbe. ("Haben wir's dir nicht gleich gesagt? Tja, so haben wir uns in dir getäuscht! Selber schuld!") Es ist gut, dass du zu ihr stehst, über sie nachdenkst, aber manchmal kann es sie auch überfordern.

Wenn du nicht schon so mit der Tür ins Haus gefallen wärst (mit dem Kuss), dann würde ich dir geraten haben, ihre Wandelbarkeit nicht so schwer zu nehmen. Da sie als Mensch in der Situation ist, wie ich sie eben beschrieben habe, ist es nur klar, dass sie manchmal abweisend, manchmal zugänglich ist - je nach dem, welche Seite in ihr gerade die Oberhand hat, und ob sie von Anderen Zuspruch oder Spott erntet. Du kannst von ihr durchaus erwarten, dass sie, wenn sie mit dir befreundet sein möchte, sich offen und klar zu dir bekennt; andererseits spricht nichts dagegen, dass du um diesen inneren Zwist bei ihr weißt. Sie wäre deiner nicht wert, würde sie ihn nicht letztlich zu deinen Gunsten beilegen. Dennoch wird er immer mal wieder wach. Und ich befürchte, mit dem Kuss hast du das Pendel, für sie unerwartet, in eine Richtung gedrückt, die sie irritiert und in ein Gefühl der Bedrängnis gebracht hat. Waren da andere Leute dabei? Ob ja oder nein: Dir muss klar sein, dass ein Kuss nun mal etwas sehr Intimes ist, das sehr unter Zugzwang setzt. Hätte sie ihn erwidert, wärt ihr ein Paar gewesen - wenigstens in den Augen der Anderen. Zumindest hätte es wenig Sinn gemacht, dies nicht als Beginn einer Beziehung zu werten. Hättet ihr einander weiter geküsst - was hätte das für euren Umgang am folgenden Tag bedeutet? All das ging ihr durch den Kopf - und das war die eine Möglichkeit. Oder aber das, was sie gemacht hat, nämlich dich zurückzuweisen. Das macht such Umstehenden klar, dass da nichts weiter ist und wird. Was aber durchaus nicht heißen muss, dass sie es sich nicht wünscht. Ihre Reaktion besagt erst einmal nur, dass sie zu durcheinander ist, um damit umzugehen, zu zögerlich und zu unentschlossen, vielleicht zu ängstlich, um diesen Schritt zu wagen. Oder aber, sie liebt dich tatsächlich nicht - dann war es vielleicht ein Teil des Zweiten, und im Wesentlichen einfach der Schreck und die Überraschung.

Mach dir eines klar: Was geschehen ist, ist geschehen. Du kannst es nicht mehr ändern, und es bringt rein gar nichts, wenn du dir deswegen einen Vorwurf machst. Im Gegenteil: Wenn du morgen gefragt wirst, ob du sie liebst, solltest du sagen "Wonach sah's denn aus?!" Die Katze ist aus dem Sack, Damien. Du solltest es keineswegs an die große Glocke hängen, sag von dir aus lieber gar nichts dazu. Aber: Duck dich nicht weg wie ein geprügelter Hund, sondern lächle in die Runde und halte stand. Euch beiden ist nicht geholfen, wenn du jetzt auch noch verleugnest, was du fühlst. Jedoch solltest du ihre Intimsphäre wahren und nicht damit hausieren gehen, denn alles, was von dir kommt, ergänzt ihr Bild von dir und möglicherweise ihre Verwirrung. Wenn du jetzt jedem, der es hören möchte, steckst "Ich liebe sie, ja und?", wird sie sich vielleicht denken, dass sie dir falsche Hoffnungen gemacht hat, du mit ihrer freundschaftlichen Annäherung nicht umgehen kannst, und eher beschämt sein. Wenn sie dich auch liebt, wird ihr schlechtes Gewissen, dass sie dann sicherlich hat, noch weiter anwachsen. Sei deshalb deutlich, aber nicht zu offensiv. Es ist gut, dass du ihr gleich mitgeteilt hast, wie es aussieht, dass es dir leid tut. Nun musst du jedoch eisern sein und ihre Antwort abwarten. Sollte es keine geben - ist das auch eine. Das hieße dann: "Ich weiß nicht ein noch aus, ich bin überfordert, ich kann dich nicht einschätzen..." Sie hätte kapituliert. Dann solltest du dir wiederum nicht vorwerfen, dass du schuld wärst. Das bist du nicht. Ja, der Kuss war voreilig, leichtfertig - hättest du mich vorher gefragt, hätte ich dir davon abgeraten. Aber nun ist es geschehen, und Punkt. Sich jetzt selbst zu zerfleischen, weil man einen Fehler gemacht hat, mit dessen Folgen man doch leben muss, hat keinen Sinn. Du hast deiner Liebe zu ihr Ausdruck verliehen, in der Art und Weise, die dir passend schien - vielleicht war sie das für sie nicht. Aber damit musst du auskommen. Verbiege dich nicht - es war wie es war, und das Leben geht weiter.

Die Worte, die du für deinen Brief gewählt hast, finde ich sehr gut. Denn du hast sie um ein vertrauliches Gespräch gebeten - irgendetwas in diese Richtung sollte es geben. Du hast aber auch nicht deine Gefühle für sie bestritten - das wäre fatal gewesen. Nun gilt es, ruhig Blut zu bewahren und abzuwarten. Ich könnte mir vorstellen, dass sie auch in dich verliebt ist; in diesem Fall ist das, was jetzt geschieht, für dich eine Geduldsprobe, eine Prüfung deiner Beständigkeit und der Freiheit und des Respekts, die du ihr zu geben bereit bist. Wenn du jetzt gelassen bleibst und sie nicht unter Druck setzt (was vor allem auch heißt: Keine weiteren Nachrichten oder Mails an sie!), kannst du im Endeffekt nur gewinnen. Falls nicht - hast du auch nichts verloren. Denn wenn von ihrer Seite Gefühle da sind, hat der Kuss sie nicht weggeblasen. Wie sollte er auch?

Ich wünsche dir daher Gelassenheit, Mut - und die Kraft ,stets zu dir zu stehen. Denn was sagt die Prothese über dein restliches Äußeres aus? Was hat ein Stück deines Körpers, das zufällig nicht Fleisch und Blut ist, mit deinem Wesen und deinen inneren Werten zu tun? Genau: Rein gar nichts! Nicht jeder kann von sich behaupten, trotz aller Prüfungen und Schmerzen so anständig, liebevoll und ehrlich geblieben zu sein. Sei stolz auf dich, und lass dich niemals unterkriegen.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul