Problem von Anonym - 19 Jahre

Andere Menschen sind für mich eine Last

Guten Tag Kummerteam.
Ich habe ein wirklich schräges Problem, weswegen ich auch nix dergeichen in anderen Foren etc. gefunden habe. Ich bin seit Jahren schon in Psychotherapie, war auch schon 4 Monate in der Klinik, nehme Antidepressiva und bekomme Hilfe vom Jugendamt. Ich war suizidal und war es zwischendurch in ein paar kleinen Phasen, aber den schlimmsten Teil müsste ich überwunden haben. Jedoch gibt es eine einzige Sache, die mich mein ganzes Leben verfolgt hat und mir sonst NIEMAND helfen konnte. Ich habe ja bereits augezählt, dass ich alles Mögliche an Hilfe bereits ausprobiert habe, aber gerade jenes Problem, wovon ich rede, stürzt mich immer wieder in suzidale Gedanken und Tatendrang.
Es geht darum, dass ich als Kind schon nicht ernst genommen wurde und meine gesamte Familie einredete, dass ich, wenn ich mal geweint hatte, nicht traurig sein dürfe, da deren Leben viel schlimmer gewesen sei (meine Familie ist ein wenig kaputt), als meines. Deshalb habe ich immer gelächelt und alle angelogen, in der Klinik usw., dass es mir gut ginge. Ok, das zu dem. Aber es kommt mehr. Ich habe Leistungsdruck, auch impliziert von der Familie, und wurde permanent mit meiner Überfliegerschwester verglichen. Deshalb habe ich auch ein Problem mit meinem Selbstwert. Dadurch, dass ich auch nie traurig sein "durfte", wurde das Gefühl wertlos zu sein bestärkt und ich nahm mich in jeglichen Gruppentherapien zurück, da ich glaubte, sie seien wichtiger als ich, was ich von der Klink und so auch tatsächlich gesagt bekommen hatte (kaum zu glauben, oder?). Soooo jetzt komme ich zu dem Problem, zu dem ich hinaus wollte. Ich habe nie ausreichend Aufmerksamkeit bekommen und ich habe nie genug an Arbeit geleistet, so meine verrückte Familie. Da ich auch nicht traurig sein durfte, habe ich gelächelt. Jedoch wird mein Inneres mit Selbstmordgedanken überflutet, wenn vor mir sich Leute mit aufgeritzten Armen zeigen. Wissen Sie was ich dabei denke? Ich glaube, sie suchen nach Aufmerksamkeit, was völliger Schwachsinn ist. Jedoch durch meinen Komplex habe ich eher das Gefühl: "Hey, der leidet mehr als ich, da ich nicht selbstverletzend bin." Und dort kommt die Leistung ins Spiel. Ich möchte besser "leiden" als andere, da ich das als Kind auch nicht durfte, aber gleichzeitig, auch wenn ich die beste im leiden sein möchte (verrückt oder?) nehme ich mich zurück, da ich eben gehört bekommen habe "du darfst nicht traurig sein!" Deshalb packe ich alle Menschen in eine Schublade. Der, der sich ritzt ist scheiße, weil er nur Aufmerksamkeit haben will. Der, der besser als ich in X-Fach ist total unsympathisch. Der, der auf Sauftouren geht, ist einfach nur dumm. Usw. Stellen Sie sich das nicht wie "Rassismus" vor, sondern eine Diskriminierung des herausragenden Eisgipfels eines Menschens Charakter oder irgendwie (ein Mensch hat durchaus mehr Eigenschaften, als auf Sauftour zu gehen oder einer der sich selbst verletzt, hat nicht die Absicht Aufmerksamkeit zu bekommen!).
Doch wenn ich mit sowas komme, wissen Sie wie mich die Menschen anstarren? Ich werde angemacht. Ich hatte mich letztens über eine in der Gruppentherapie bei der Therapeutin beschwert, die sich ihre Arme entblößte, die voller Ritznarben waren und ich glaubte, man würde mich nicht beachten und nur sie, obwohl ich an dem Tag echt schlecht drauf war. Ich habe mich überwunden und sprach es an, zwar über einen Umweg, aber es war eine große Leistung von mir, da ich mich selbst auch sonst missachtet hatte.
Ich wurde aber eiskalt angemacht, dass ich nicht Menschen so abstempeln dürfe und ich aufhören solle mir Gedanken über andere zu machen. ACH NE! Das ist mein Hauptproblem und die hat mich angemacht, als wäre ich Satan höchstpersönlich. Sie hat die Leute, die sich selbst verletzen beschützt (plausibel!) aber anstatt mir zu helfen, mir Aufmerksamkeit zu schenken und zu sagen "alles wird gut. Denke das nicht. Wir helfen dir. Kann sein, dass ich einen Fehler gemacht habe usw." hält sie mir eine Moralpredigt, dass ich mich unnötig unglücklich mache. Sie sagte: "Hör einfach auf, so über andere zu denken." Das hat sie die ganze Zeit gesagt. " Ich versteh das nicht, warum du das machst" "Das ist so furchtbar, was du über andere denkst" An dem Tag war ich nicht wegen meinen Kommilitonen in die Uni gegangen, weil ich mich zwangsläufig mit ihnen messe. Sie sagte dazu: " Wie bescheuert ist das denn. Nur deswegen?" UNNÖTIG. Hör EINFACH damit auf. Das ist MEIN individuelles tiefsitzendes Problem, neben ganz vielen anderen, wo manche Menschen die Augen aufreißen würden, warum ich noch nicht gestorben bin und ich meine Karriere so unglaublich hinbekommen habe (ich bin eine Art Workaholic). So, was sagen Sie von dieser saloppen Aussage? Ich solle aufhören. Einfach so. Simsalabim. Ich wurde erneut nicht ernst genommen und erneut nicht die Hilfe bekommen, die ich brauchte. Ich wurde wie damals als Kind fertig gemacht. Ich dürfe nicht weinen. Ich dürfe nicht traurig sein. Ich habe oft von meinen Geschwister gehört bekommen, ich sei doch "bescheuert". Das bekam ich auch in einem geschützten Ramen zu hören und wurde einer "Ritzerin" vorgezogen, wie so oft (s.o. meine Schwester wurde immer vorgezogen von meinen Eltern), nur, weil ich nicht mein Leid nach außen trage. Sie hatte auch sowas gesagt, wie: " manche Kinder haben so viel Mist erlebt, was man sich nicht mal vorstellen kann" Suppppper. Manche Menschen leiden mehr als ich und dürfen deshalb traurig sein. Da haben wir den Vergleich und der entgültigen Verlust der Ernsthaftigkeit meiner Probleme. Schlussendlich: Ich habe minderwertige Probleme. Da ich mich nicht ritze, die Schule gemeistert habe und und und. Nur deshalb? Ich bin ehrgeizig und das wird mir zum Verhängnis, dass ich wieder nicht ernst genommen werde, wenn ich von Suizidgedanken rede?
Was können Sie mir empfehlen? Soll ich anfangen mich zu ritzen, um endlich gesehen zu werden? Endlich nach Aufmerksamkeit schreien? Sie merken, ich kalkuliere vieles und denke viel nach, deshalb auch die Fülle an Hilfe, dich entgegen genommen habe. Ich wette, Sie haben auch kein einziges Wort verstanden...das tun die wenigsten, weil ich einfach so ne vergewaltigte Psyche habe. Komplex und zerstört durch Außeneinwirkung (wie gesagt, meine Probleme sind komplexer)
Ich bitte um eine schnelle Rückmeldung. An wen kann ich mich melden?

Judith Anwort von Judith

Liebe Unbekannte,

Danke für Deine E-mail.
Wow – das ist einiges! Ich habe mir Deinen Text mehrmals durchgelesen. Danke für Dein Vertrauen und auch für die Ausführlichkeit, mit der Du Deine Vergangenheit, die Umstände, die Gegenwart und auch Deine Analyse der Probleme beschreibst.

Offensichtlich hast Du Dir schon viele Gedanken gemacht und auch schon einiges an Hilfe in Anspruch genommen. Du schreibst ganz zum Schluss „Ich wette, Sie haben auch kein einziges Wort verstanden...das tun die wenigsten, weil ich einfach so ne vergewaltigte Psyche habe. Komplex und zerstört durch Außeneinwirkung (wie gesagt, meine Probleme sind komplexer)“.
Doch. Ich habe Dich verstanden. Und ich glaube auch, dass andere Dich verstehen (werden).

Du weisst ja sicher – wir sind keine Psychologen. Hier bekommst Du lediglich Ratschläge, die auf unseren individuellen Erfahrungen beruhen. Ein Ohr, eine Idee, vielleicht einen Gedankenanstoss. Aber ich versuche trotzdem mal, eines nach dem anderen durchzugehen, denn ich würde Dir gern helfen.

Ich fasse mal zusammen, was ich verstanden habe:

- Du hast schon von Kindheit an ein Muster erlebt und verinnerlicht, welches Dir quasi untersagt, traurige oder wütende Gefühle zu äussern. Es wurde Dir immer nahegelegt, dass es anderen noch schlimmer geht, und dieser Vergleich hat dazu geführt, dass Du nicht leiden „darfst“. Deine Bedürfnisse wurden somit immer relativiert und im Vergleich hintenan gestellt.

-Dadurch hast Du Dich immer schon nicht ernstgenommen gefühlt und auch unter dem Druck, Dich zurück zu nehmen und anderen den Vortritt zu lassen. Du sprichst von der Überfliegerschwester, die „keinen Kummer bereitet“. Und dies nimmst Du nun auch in Deiner Therapiegruppe wahr, da die anderen „mehr bzw. offensichtlicher (ritzen) leiden“, und denen damit mehr als Dir das Recht auf Aufmerksamkeit gewährt wird und sie „leiden dürfen“.

-Vielleicht als Konsequenz davon (aber das kann ein Psychologe besser beurteilen), bist du auch eine Art Workoholic, gut in dem, was Du tust. Das ist kein Wunder – denn wenn man schon als Kind lernt, dass man die Liebe und Anerkennung der Eltern darüber bekommt, zu funktionieren und keinen Ärger zu machen, dann passt man sich entsprechend an. Leider führt Erfolg nicht automatisch zu Glück und Ausgeglichenheit, daher darf man nicht den Rückschluss machen, dass Du keinen Anspruch auf Traurigkeit hast, weil Du „Dein Leben im Griff hast“.

- Du merkst auch, dass Du -obwohl Du das Muster erkannt hast und ablegen willst- selbst darin gefangen bist. Du beurteilst andere (Du schreibst „diskriminierst“), indem Du ihnen auch unterstellst, lediglich Aufmerksamkeit zu wollen etc.

- Du versuchst erfolglos dieses Muster zu durchbrechen. Es klingt aber fast wir eine „Spirale nach unten“, denn Du überlegst, ob Du „besser leiden solltest, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen“. Und nein, das klingt nicht absurd, sondern erstaunlich logisch! Denn das ist die Struktur, in der Du seit Kindheit gefangen bist: Zuwendung durch Erfolg und „sich anpassen“, nach „Regeln spielen“, „nicht anecken“, „anderen den Vortritt lassen“…

- Dies führt bis hin zu Suizidgedanken.

Liebe Unbekannte. Es mag sein, dass ich es nicht vollumfänglich wiedergegeben habe – aber ich hoffe, es ein Stückweit zusammenfassen können.

Was machen wir nun damit?

Zunächst einmal: Selbstmord ist nicht die Lösung! Meine Kollegin Dana hat es einmal sehr gut beschrieben: Selbstmord ist eine zerstörerische, nur gegen sich selbst gerichtete Methode, die furchtbaren Situationen zu beenden, denn es ändert nichts am Umfeld oder an den anderen Menschen, es ändert nur die eigene Lebenssituation...in den Tod. Und der Tod ist das einzige, das einem ALLE Chancen nimmt. Das alles beendet und keinen Raum mehr für Veränderungen lässt.

Und Du bist schon so weit gekommen! Wirf nun nicht Dein Leben weg. Lass „Deine Dämonen“, „Deine Muster“ nicht gewinnen oder über Dich bestimmen. Vielleicht siehst Du es nicht, aber Du bist schon so weit gekommen. Du blickst klar durch Deine Muster. Du verstehst sie.

Der nächste Schritt ist, dass Du „verlernst“ nach ihnen zu urteilen und zu handeln. Dass Du lernst, Deine Bedürfnisse anzuerkennen und wohlwollend Dir gegenüber zu sein.

Das klingt wesentlich leichter als es ist, aber es ist machbar!

Wir lernen über Jahrzehnte, die Welt zu verstehen und zu bewerten. Unsere Erziehung, äussere Einflüsse, auch traumatisierende Erlebnisse… All das macht uns zu dem, was wir sind und wie wir wahrnehmen. Daher dauert es auch eine Weile, bis man wirklich raus aus den alten Mustern ist.

Mein Rat an Dich ist nun der folgende:

Such Dir doch einmal einen Therapeuten, der sich mit Dir allein beschäftigt. Es dauert manchmal, bis man jemanden gefunden hat, der auch zu einem passt. Und bitte, sei nicht zurückhaltend! Wenn Du Dich in der heutigen Therapie nicht gut aufgenommen und gesehen fühlst, dann bitte ändere das! Du leidest, und dass ist nicht Sinn der Sache. Du verdienst die beste und passendste Therapie. Ich halte es für wichtig, dass als erstes Dein Selbstwert aufgebaut wird, damit Du lernst, eigene Ansprüche zu formulieren und zu leben. Du bist es wert! Nur Du in Deinem Rahmen. Nicht „Du im Vergleich zu…“. Um das zu lernen, gibt es verschiedene Ansätze. Schau Dich mal hier rein:
http://mein-kummerkasten.de/Soforthilfe/31/Professionelle-Hilfe-Wie-finde-ich-einen-Psychotherapeuten.html

Ich wünsche Dir, dass Du lernst Deine Bedürfnisse ernst Du nehmen, zu verbalisieren, ihnen Raum zu geben. Lerne, gut zu Dir zu sein. Einfach, weil Du es wert bist. Einfach, weil Du Du bist, und nicht, weil Du „es Dir verdient hast“. Ich hoffe, dass Du auch anderen gegenüber offen und ohne Urteil sein kannst, ohne in Konkurrenzdenken einzutreten oder Dich zu messen. Die anderen Menschen tragen alle ihr Päckchen. Manche ein grösseres, manche ein kleineres – aber ob sie leiden, können nur sie selbst entscheiden.

So, liebe Unbekannte, ich hoffe, indem ich etwas dazu geschrieben habe, konnte ich Dir beim Strukturieren Deiner Gedanken helfen. Ich wünsche Dir alles Gute! Melde Dich doch nochmal, wenn Du magst!

Und – noch zum Schluss:
Wenn du direkte Hilfe benötigst, wende dich am besten an die TelefonSeelsorge unter:
0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 (Anruf ist kostenfrei).

Denn wir brauchen immer ein paar Wochen, bis wir antworten können…

Toi toi toi!

Herzlich,
Judith