Problem von Anonym - 20 Jahre

Kontrolle

Ich habe mit anderen Menschen ein Video gesehen, in dem Tote zu sehen sind.
Deren Reaktion war sehr emotional, ich empfinde und empfand einfach gar nichts.
Nichts. Ich könnte mir das Video noch weitere 10 mal ansehen und es würde nichts ändern.
Ich bin meistens sehr kontrolliert, neutral. Ich überlege was ich sage.
Ich kann auch Spaß haben, Witze mache. Ich weiß, wer was lustig findet und
passe mich den Menschen an.
Jedoch merke ich, dass ich einen Drang habe, Aggressiv zu sein. Oder nein, nicht Aggressiv. Man könnte Zerstörungslust sagen.
Dieser Drang wird immer größer, bis ich ihn nicht mehr unter Kontrolle habe.
Bis zu dem Moment in dem ich Gedanken habe, die ich besser nicht ausschreibe.

Mein Problem ist, ich habe das Gefühl, der Drang wird immer mehr,
und ich merke wie mir immer mehr egal ist.
Es geht um teilweise simple Dinge. Andere machen sich Sorgen um dieses und jenes,
denken darüber nach, 'was mache ich morgen'.
Ich habe nur das Verlangen endlich meine 'Zerstörungswut', wobei es keine Wut ist in dem Sinne, rauszulassen.

Was stimmt nicht mit mir? Sind Andere genauso und verbergen es nur?

Judith Anwort von Judith

Lieber Unbekannter,

Danke für Deine Zuschrift und Dein Vertrauen in uns.
Ich finde es gut, dass Du uns schreibst, denn das ist der erste Schritt, um etwas zu ändern.

Um erst einmal allgemein auf Deine Frage zu antworten: jeder hat mal Momente, in denen man am liebsten mit der Faust irgendwo draufhauen möchte. Manchmal kocht man vor Wut und dann tut es gut, es rauszulassen. Man kann das auch kanalisieren und zB Sport machen, sich einen Sandsack zulegen, in den Wald fahren und mal laut schreien etc.

Aber ein Verlangen zu zerstören, gekoppelt mit einem Lustempfinden - das ist eine andere Geschichte. Und ich denke, dass Du dem tiefer auf den Grund gehen solltest.

Leider schreibst Du nicht viel von Deinem Umfeld. Du scheinst zwar ein soziales Leben zu haben (Freunde, Familie), aber ob Du damit glücklich bist, schreibst du nicht. Stell Dir doch mal ein paar Fragen, ZB.: Wie gut kannst du Gefühle äussern? Hast du gelernt, zu streiten und auch ein "Nein" zu verkraften? Wie gut kannst Du Dich abgrenzen? Du schreibst, dass Du anpassungsfähig bist ... Aber kannst Du auch Deinen Standpunkt vertreten? Empfindest Du Freude und Liebe?

In der Kindheit und Jugend lernen wir, wie man mit Gefühlen umgeht. Trauer, Wut, Freude, Ekel... Alle möglichen Gefühle, die aufkommen, lernen wir einzuordnen und mit ihnen umzugehen. Manchmal, wenn zB ein Junge immer wieder gehört hat, dass "ein Indianer keinen Schmerz kennt", oder dass es "unmännlich ist, zu weinen", hat das zur Folge, dass man sich sehr von seinen Gefühlen distanziert und erst wieder lernen muss, sie anzunehmen und zu durchleben. Du schreibst, dass Du für gewöhnlich "kontrolliert und neutral" bist. Aber vielleicht liegt genau da das Problem? Das kannst Du Dir wie ein Ventil vorstellen: bis zu einem gewissen Druck hält es stand... Du machst gute Mine zum bösen Spiel, schluckst Enttäuschungen oder Verletzungen runter... Aber irgendwann ist das Mass voll. Und dann reagierst Du bei einer Kleinigkeit über, weil sich so viel angestaut hat.

Lieber Unbekannter, ich bin keine Psychologin, aber ich rate Dir dringend, dass Du einen Therapeuten suchst, mit dem Du das Thema besprichst. Ich glaube, Dein Drang zu zerstören und zu kontrollieren stehen in direktem Zusammenhang miteinander. Ich hoffe Du lernst in der Therapie, auf Deine Bedürfnisse und Gefühle zu achten und sie zu erleben. Das erfordert Mut! Vielleicht musst Du die ein oder andere Erfahrung aus der Vergangenheit noch einmal aufarbeiten. Aber es ist die Sache wert, um das Leben in allen Situationen und Facetten zu erfassen und zu geniessen. Eben auch das Positive!

Und wenn es mal ganz akut wird, Du das Gefühl hast, Du tust gleich etwas Schlimmes, dann wende dich am besten an die TelefonSeelsorge unter:
0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 (Anruf ist kostenfrei).

Hier ein paar hilfreiche Links:
Wie finde ich einen Psychotherapeuten
http://mein-kummerkasten.de/Soforthilfe/31/Professionelle-Hilfe-Wie-finde-ich-einen-Psychotherapeuten.html

Verletzlichkeit ist eine Stärke:
http://www.zeitzuleben.de/verletzlich-sein-macht-stark/

Zwanghaftes Verhalten (nicht ganz dein Thema, aber sicher auch hilfreich):
http://mein-kummerkasten.de/Soforthilfe/32/Zwanghaftes-Verhalten.html

Ich hoffe sehr, dass Du es schaffst, mit etwas Hilfe zu Dir selbst und Deinen Gefühlen zu finden. Ich wünsche es Dir, denn nur kontrolliert durch das Leben zu gehen, ist wirklich nur halb so schön. Du enthältst Dir viele Erfahrungen vor, daher hoffe ich, Du schaffst es, Dir selbst näher zu kommen und daher das Leben aus vollem Herzen zu leben.

Alles Gute!

Herzlich,
Judith