Problem von Anonym - 16 Jahre

Autismus, Schule, Familie, Alltag (3. Versuch)

Hallo lieber Leser,
Ich weiß, eine Kombination aus Autismus, Schule und Familie ist nicht gerade das Thema, über das man so informiert ist, aber ich weiß einfach nicht mehr, zu wem ich noch gehen soll, ich habe es auf Forums versucht, auf diversen Internetseiten, ich habe eine Freundin um Hilfe gebeten, doch niemand konnte oder wollte mir so recht helfen, zudem hänge ich stückchenweise überall fest, keiner weiß so recht alles und keinem kann ich alles erzählen.
Ich weiß nicht so ganz, wo der Anfang ist und weiß auch nicht, wo ich am besten zu erzählen starten soll, damit möglichst nichts unverstanden zurückbleibt. Ich versuche es also mal grob in der Kindheit:
Damals, also etwa Kindergarten und Grundschule, war ih eigentlich ein glückliches Kind, alles ganz heile, ich hatte Freunde, in der Schule gute Noten, meine Eltern waren immer für mich und meinen Bruder da. Doch auch da gab es schon kleine Problemchen, die als Probleme einfach nur unnormal und deshalb weggedrückt wurden, ich durfte sie quasi nicht haben und dementsprechend habe ich das auch geglaubt. Beispielsweise konnte ich nicht telefonieren, ich hatte immer Angst davor, zudem habe ich bei "unbekannteren" Stimmen oft nicht verstanden, was die gesagt haben und besonders viel geredet habe ich am Telefon auch nicht, wie man mir immer wieder sagte, obwohl es mir als normale Menge vorkam. Wann immer ich mich gerne mit einer Freundin getroffen hätte, musste ich entweder darauf hoffen, dass jemand anrief, dann war es weniger schlimm, oder meine Mutter bitten, dort anzurufen, für mich die beste Lösung, was sie natürlich, vor allem später zu Grundschulzeiten nicht immer tat, schließlich sollte ich ja auch irgendwann mal selbstständig werden. Aber nicht nur das Telefonieren bereitete mir unheimliche Schwierigkeiten, sondern scheinbar kleine Alltagssituationen bereiteten mir Probleme: ein Besuch bei meinen Großelten nebenan, um kurz ein Eis zu holen, Besuch von Verwandten, Geburtstagsfeiern, die Großeltern umarmen, Straßen überqueren, einkaufen gehen und essen. All das hat mich immer maßlos überfordert, doch wie gesagt, das durfte es eigentlich nicht und ich hatte es zu unterdrücken, ohne, dass ich es wusste. Das machte es umso schlimmer.
In der siebten Klasse änderten sich Dinge für mich plötzlich, logisch, ich kam in die Pubertät, da war das eben normal. Um die üblichen Teeniedramen kam auch ich nicht ganz herum, leider... Doch es geschah auch etwas anderes, im Prinzip beginnt ab hier ein vollkommen neuer Lebensabschnitt: An unserer Schule werden in der siebten Klasse die Klassen neu zusammengewürfelt, plötzlich war ich also mit ganz neuen Leuten in einer Klasse, heute leider nicht mehr, der Gedanke daran treibt mir immer ein kleines Tränchen ins Auge, weil diese beiden Jahre, trotz der Probleme einfach unheimlich genial waren und ich sie sehr vermisse. Ich hatte plötzlich eine ganz neue Art an Leuten um mich herum und vor allem fand ich Freunde. Zu diesem Zeitpunkt begann ich langsam zu bemerken, dass meine Kindheit nicht ganz so Regenbogenmäßig war, wie ich sie immer wahrgenommen habe: Meine "Freunde" hatten mich eigentlich nicht wirklich gemocht, sondern nur aus Höflichkeit mit mir gespielt und höchstwahrscheinlich eher, weil ihre Eltern das so wollten, Eltern kennen sich ja untereinander auch, also müssen die Kinder mit. Ich wurde ausgenutzt ohne es zu merken, war unheimlich still, oft wie weggetreten. Kein Wunder, dass mich niemand mochte, ich war auch ein verdammt schreckliches Kind gewesen: Habe immer versucht, alles richtig zu machen, hatte immer gute Noten, habe mich immer aus verbotenem rausgehalten, konnte mit Lärm nicht umgehen, habe es gehasst, wenn jemand unerlaubt in meinen Spielsachen rumsuchte, war leichtgläubig und war ein verdammt schlechter Spielgefährte gewesen. Das hatte ich alles weder gewusst noch so etwas in die Richtung auch nur annähernd geahnt, ich war eigentlich ein richtiges Hasskind gewesen und ich selbst hätte auch nicht mit mir spielen wollen. Soweit meine Einschätzung über damals, das ist mir nach und nach bis heute klar geworden und es würde mich nicht wundern, wenn es da noch mehr Dinge gibt, die ich nie mitbekommen habe. Damals in der siebten habe ich das erste mal wirklih Freunde gefunden, bei denen ich einigermaßen ich selbst sein durfte, mit vielen meiner Macken, keiner wurde für irgendetwas verurteilt, gezwungen oder niedergemacht. Diese Gruppe an sieben Menschen existiert so bis heute, worauf ich unfassbar stolz und unheimlich glücklich darüber bin, darunter ist übrigens auch das einzige Mädchen, das als Kind mit mir EHRLICH gespielt hat, bei ihr war alles immer viel ungehemmter und wir kennen uns bis heute.
Diese sechs Menschen sind für mich sehr wichtig und sie haben auch eine Menge Einfluss sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart auf mich. Langsam begann ich, meine kleinen Problemchen als Probleme zu entdecken und sie zu akzeptieren, ich ging nun offener damit um, dass ich manche Dinge einfach nicht konnte und/oder nicht wollte. Wenn wir uns früh vor Unterrichtsbeginn beispielsweise trafen, so rannten sie oftmals aufeinander zu und jeder wurde einmal kräftig durchgeknuddelt, bei mir hatten sie das relativ schnell gelassen, da ich gesagt hatte, dass ich keine Berührungen mochte, was sie auch so akzeptiert haben. Zwar nicht mit einem unsicheren "Ok...", aber sie akzeptierten es. Und ich habe es versucht, ehrlich! Aber das mit dem Anfassen und Umarmen ist einfach nicht meins. Eigentlich war soweit noch alles ziemlich in Ordnung, auch wenn ich mich natürlich zu fragen begann, weshalb ich nicht auch so war, wie die anderen auch und weshalb ich so vieles einfach nicht konnte.
Die achte Klasse begann ebenfalls recht glücklich, einige von uns gingen zwar, einer kam neu dazu und wir standen am Rande der Existenz, aber wir waren glücklich. Unser Mathe- und Physiklehrer machte uns die Hölle heiß, obwohl er das eigentlich gar nicht wollte, Englisch wurde imner seltsamer und das erste Mal im Leben hatten wir wirklich Unterricht im Fach Musik. In diesem Jahr begann ich mit Klavierstunden, ich war jedes Mal unfassbar aufgeregt, das habe ich sonst nirgendwo mehr erlebt, doch es machte mir Spaß und ich mochte die Lehrerin. Sie war geduldig und offen und dennoch unheimlich diszipliniert.
In diesem Jahr begannen Dinge jedoch langsam schleichend schlimmer zu werden, ich rutschte langsam in mein eigenes Tempo rein, die Teeniedramen wurden harmloser, Schule kam seit dem Vorjahr einfach zu kurz und ich hatte einfach keinen Spaß mehr daran. Meine Noten wurden schlechter und ich war gefangen damit. Die Gedanken um meine "Andersartigkeit" wurden lauter und dennoch sah ich mich nicht als wirklich "anders" an, jeder ist nunmal ein Individuum und damit einzigartig, wie jeder andere also auch. Und dennoch konnte ich mir langsam die Welt einfach nicht mehr erklären, ich schlief bereits seit einem Jahr sehr wenig und es wurde immer weniger, ich verbrachte meine Zeit im Netz, tauchte immer mehr ab dorthin, auch wenn ich der Welt gegenüber offener war als im Jahr zuvor. Langsam machte die Schule mir Angst, später ging es so weit, dass ich Bauchschmerzen davon bekam.
Und dann begann ich zu suchen. Ich suchte erst grob, klar, ich hatte keinen großen Anhaltspunkt und kleine Macken hatte ich viele, aslo tippte ich erst "ich mag keine Berührungen" in die Googlesuchleiste ein. Ich kam auf Seiten, auf denen Menschen von ähnlichem Problem erzählten, ob jung oder alt, ob Mann oder Frau, sie alle erzählten, dass sie einfach nicht damit klar kamen, wenn eine andere Person sie anfasste, in welcher Situation auch immer. Die Kommentare darunter waren ernüchternd, viele schrieben, sie hätten dasselbe Problem, der Großteil schrieb jedoch immer wieder das gleiche: "Mach' dir keinen Kopf, das wird schon." und "Akzeptier' dich so wie du bist." Mag sein, ist ok, ich akzeptiere mich ja, aber was ist, wenn ich 14 Jahre alt bin und eine Erklärung für meine Großeltern und Verwandten brauche, die das einfach nicht haben können? Darauf hätte ich damals nämlich keine Antwort gefunden, selbst, wenn ich nach einer gesucht hätte.
Heute weiß ich nicht mehr, wie die Seite hieß, auf der ich diesen Kommentar gefunden habe, ich war dort auch nur dieses eine Mal, danach habe ich sie nicht mehr wiedergefunden, doch ein Kommentar, eine junge Frau schrieb von ähnlichen und gleichen Problemen, was Berührungen betraf und sie schrieb auch, sie habe sich bereits auf 'Asperger Autismus' testen lassen, was jedoch negativ ausgefallen war. Ich hatte diesen Begriff vorher noch nie gehört und ich weiß auch nicht warum, aber aus irgendeinem Grund bekam ich diesen Kommentar nicht mehr aus meinem Kopf heraus, ich kehrte also schnell zu dieser Seite zurück und tippte schießlich -mit Vervollständigung von Google- 'Asperger Syndrom' in die Suchleiste ein. Anfangs empfand ich all das als sehr interessant, die erste Seite, die ich besuchte erzählte von der Andersartigkeit von Autisten und wie detailgetreu sie ihre Umwelt wahrnehmen. Und tatsächlich hat es nicht allzu lange gedauert und ich fand exakte Beschreibungen meiner eigenen Probleme, ich entdeckte Andersartigkeiten, die ich vorher nicht als Problem wahrgenommen hatte und entdeckte mich in vielen Dingen wieder. Plötzlich schienen Sachen erklärt, die ich unbewusst hatte unterdrücken müssen, weil man sie in der Gesellschaft nicht akzeptierte, ein "Aha-Moment" folgte dem nächsten. Ich habe nächtelang gesucht und wohl so ziemlich jede Internetseite durchforstet, die man durchforsten kann. Während ich des Nachts damit beschäftigt war meine Macken aufzudecken und sie möglicherweise sogar erklären zu können, wurden meine Probleme in der Schule immer schlimmer, die Noten wurden schlechter, ich vergaß ständig die Hausaufgaben, konnte mich nicht mehr auf das Lernen konzentieren, ich hatte keinen Spaß mehr, sondern Angst, oft über das Wochenende hinweg bis der Alptraum am Montag von neuem begann.
Die neunte Klasse begann weniger glücklich als vorher, wir wurden mit unserer Parallelklasse zusammengelegt, weil wir zu wenige waren, plötzlich waren wir 30 Leute in der Klasse, viel zu groß, da waren wir alle der selben Meinung. Privat besserte sich meine Situation kein bisschen, im Gegenteil, meine Angst zur Schule zu gehen wurde größer, meine Noten schlechter. Es war das erste Jahr, in dem ich mit meinen kleinen Problemchen und Andersartigkeiten auffiel, zumindest war es das erste Jahr, in dem selbst mir auffiel, dass ich auffiel. Bereits am Anfang des Jahres begannen ein paar unserer Lehrer mich etwas zu beobachten, anders als in den Jahren vorher konnte ich plötzlich nichts mehr verstecken, ich weiß nicht, wieso. Ich ecke nunmal an und seit Ende 2014 besonders stark. Langsam begann mir alles über den Kopf zu wachsen, die Schlaflosigkeit der letzten Jahre wurde extrem, ich hatte keine Zeit mehr für irgendetwas, ich schaffte es kaum mehr, mich aus dem Bett herauszubekommen, immer öfter kam ich später und später heraus, mein Tagesablauf wurde immer unregelmäßiger, die Zeit für alles fehlte mir, nicht selten kam es vor, dass ich es nicht mehr packte, mir die Haare zu waschen oder zu duschen, selbst Zähne pitzen wurde immer schwerer hineinzubekommen. Die Gedanken in meinem Kopf wurden immer mehr, ich bekam sie nicht mehr weg, konnte mich nun oft überhaupt nicht mehr konzentieren. Ich wurde noch auffälliger. Am Anfang des Jahres habe ich jeglichen Mut in mir zusammengenommen und mit einer Freundin geredet, ich habe mir von meinem Verdacht erzählt, was mir alles aufgefallen war, einfach alles darüber, wir haben einige Male darüber geredet. Alles was sie im endeffekt sagte war: "Du hast schon so deine Eigenheiten, keine Frage, aber du übertreibst einfach nur etwas." Teils kann ich das voll und ganz verstehen, heute zurückblickend kann ich in etwa erahnen, wie chaotisch das alles war, doch damals hat es mich verunsichert. Was, wenn ich vollkommen falsch lag? Wenn ich wirklich maßlos übertrieb? Dann stehe ich da und weiter? Ich hatte den Gedanken etwas weggeschoben. Auch für den nächsten Schritt hatte ich Wochen der Vorbereitung gebraucht, bin wie immer das Gespräch im Kopf durchgegangen, immer wieder und mit allen mir nur irgendwie erdenklichen Läufen, schließlich habe ich meine Mutter darauf angesprochen. Unser Gespräch umfasste etwa 10 Minuten und in etwa diese Sätze:
"Du, sag mal, gibt es eigentlich Autisten in der Familie?"
"Nicht, dass ich wüsste, wie kommst du jetzt darauf?"
"Naja... ich habe mich gefragt, ob ich nicht vielleicht eine sein könnte."
*an diesem Punkt sah sie mich an und lachte*
"Du? Nein, ganz sicher nicht."
"Wie kannst dir da so sicher sein?"
"[An diesem Punkt Namen einfügen], ich weiß es einfach. Das ist einfach dieser Mutterinstikt, verstehst du?"
Sie versuchte mir hier genau zu erklären was sie meinte, an den genauen Wortlaut kann ich mich jedoch leider nicht mehr erinnern, auf jeden Fall nickte ich, jedoch nicht, weil ich ihr zustimmte, sondern weil ich auf ihre Frage antwortete: "Verstehst du?" "Ja, ich verstehe was du meinst." Mehr hatte ich nicht ausgesagt.
"Weißt du überhaupt, was genau Autismus ist?"
"Ja, weiß ich. Wir können ja gerne mal so einen Test machen, aber ich nehme mal, dass wir dafür zu einem Psychologen müssen."
Ich hatte Angst davor, dahin zu gehen, damals habe ich abgelehnt, hätten wir genau dieses Gespräch geführt, hätte ich sofort genickt.
"Ich kann mich ja nochmal informieren, aber ich weiß, was das ist."
Ich habe genickt und bin dann gegangen, zufrieden war ich nicht gewesen, nicht einmal annähernd. Ebenfalls hatte ich nicht sonderlich viel Hoffnung, was das Informieren anging, denn so gut kenne ich meine Mutter doch, sie ist davon überzeugt und dann ist das auch so. Tatsächlich hatte ich Recht behalten, nicht viel später zeigt sie mir eine Internetseite, auf der es hieß -auch hier kenne ich leider den exakten Wortlaut nicht mehr-: "Man braucht keine Diagnose, um Autist zu sein, wenn man möchte, kann man auch so dieser Gruppierung gehören." Um ehrlich zu sein schockt es mich ganz schön, dass soetwas überhaupt im Netz existieren kann, denn wer auch nur ein winziges bisschen über Autismus informiert ist, kann sofort mit Leichtigkeit und wohl auch etwas Empörung gegenhalten.
Dass ich bei beiden Menschen, denen ich sehr vertraue, auf so starke Ablehnung getroffen bin hat mich damals wie heute verunsichert, ich habe mir Vorwürfe gemacht, den Gedanken weggeschoben, lange Zeit habe ich mich dafür geschämt, überhaupt diesen Gedanken gehabt zu haben.
Irgendwann bin ich durch Zufall auf das Thema "Hochsensibilität" gestolpert, eine Forschung, die noch in den Kinderschuhen steckt und etwas, das viele Menschen betrifft. Eine Zeit lang schob ich meine Probleme auf ein Thema, über das kaum etwas bekannt war, und das meine Sensibilität gegenüber äußeren Reizen erklären könnte, erst viel später laß ich, dass HS und AS sich nicht unbedingt ausschließen und beides oft zusammen auftritt.
Doch über die Zeit hinweg lösten sich meine Probleme nicht, es war nun allseits bekannt, dass ich so meine Macken hatte und dass mit mir etwas seltsam zu sein schien war nun auch in der Klasse kein Geheimnis mehr. Meine Gedanken zerfraßen mich innerlich, ich wusste nicht mehr weiter, ich bekam immer mehr Angst, habe mich vor allen anderen zurückgezogen, von allem ferngehalten und nicht selten kam es vor, dass ich lächelte, obwohl ich am liebsten geweint hätte. Dennoch gab es natürlich auch viele unheimlich schöne Momente mit meinen Freunden, in denen ich unbeschwert lachen konnte.
Noch im ersten Halbjahr geschah es, dass ich das erste mal vor jemandem preis geben musste, dass ich Probleme hatte, es war mehr oder weniger offensichtlich, ja, aber dennoch hatte ich nie jemandem davon erzählt. Nach einem über die Ferien vergessenen Referat aus Musik sprach mich meine Klavier- und Musiklehrerin das erste Mal unter vier Augen darauf an, sie sagte, dass sie mich so gar nicht kennengelernt hatte und dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass ich ein komplettes Referat vergessen hatte. Da habe ich tatsächlich das erste Mal seit langem geweint und tatsächlich konnte ich kaum mehr aufhören, ich habe ihr erzählt, wie ich mich zu diesem Zeitpunkt fühlte, was da gerade passierte und was ich mitbekam, ich erzählte ihr von meinen Problemen mit und in der Schule, wie viel Angst ich jeden Abend und Morgen hatte, dort hinzugehen und was geschah. Meinen konkreten Verdacht auf Autismus sprach ich nur einmal am Rande an, worauf wir auch nicht weiter eingingen. Mit ihr konnte ich über vieles reden, ich fühlte mich befreiter, obwohl sich meine Probleme keineswegs lösten. Bis auf zuhören und mit mir reden konnte sie mir jedoch nicht weiter helfen, verständlich, sie war ja auch nicht die Schulpsychologin oder Vertrauenslehrerin. Dennoch haben wir ein paar Dinge versucht, auf die ich jedoch nicht unbedingt weiter eingehen möchte, falls nicht unbedingt nötig. Von ihr erfuhr ich auch, dass ich schon längst zum Gesprächsthema unter den Lehrern geworden war und bereits spekuliert wurde, was denn da los sein könnte. Meine Französischlehrerin zu diesem Zeitpunkt hatte sogar mehrere Male zwei meiner Freunde gefragt, was denn da los sei, ob denn noch alles in Ordnung und normal sei. An diese beiden Freunde bin ich zwangsläufig gebunden, denn ich alleine habe oftmals Schwierigkeiten was den Umgang mit anderen Personen betrifft, wo wir wieder bei diesen kleinen Problemchen wären, dies ist eines davon, das ich ab der neunten Klasse nicht mehr verstecken konnte. Das ist etwas, das mir heute oft zum Verhängnis wird.
Die zehnte Klasse begann für schon gleich mit Stress, die neunte hatte ich offiziell gar nicht bestanden und bis zum 12. Dezember durften meine schlechtesten Noten vierer sein. Erneut waren unsere Klassen getrennt und neu zusammengewürfelt worden, ich war nun mit zwei bereits erwähnten Freunden in einer Klasse, zusammen mit dem Rest aus dem selben Zweig und den Einführungsschülern, die aufs Gymnasium wechselten. Auch, wenn diese Klasse nur um ein paar man kleiner war als die alte, so sind sie eine liebenswürdige und verdammt coole Truppe, es gibt kurz vor meiner Deadline einen Abend, den ich niemals vergessen werde und den ich sehr vermisse. In diesen wenigen Monaten (In Bayern ist es so gut wie unmöglich ein Vorrücken auf Probe zu bestehen) habe ich mich so gut wie komplett von allen anderen abgeschottet, ich habe oft im Bett gelegen und geweint bis ich eingeschlafen bin, zumal ich den Druck einfach nicht mehr aushielt. Meist kam ich nicht zum Lernen oder zum Hausaufgaben machen, weil ich nach der Schule einfach keine Energie mehr dafür hatte. Nicht selten kam es vor, dass ich nach der Schule sofort auf dem Sofa einschlief und durch meine wütende Mutter geweckt wurde, weil ich schlief, anstatt meine Pflichten und täglichen Hausarbeiten zu erfüllen.
Ab etwa Mitte 2015 begann leise schleichend noch etwas anderes zu geschehen, besonders ab Herbst bekam ich immer öfter mit, wie meine Eltern sich anschrien und immer öfter versteckten sie es auch nicht. Diese Situation verschärfte sich bis zum Ende des Jahres, oft hörte ich meine Mutter weinen, sie war wesentlich reizbarer, sie verschloss die Türen zu dem Raum, in dem sie war. Da das Schlafzimmer meiner Eltern direkt unter dem meinen liegt kann alles hören, was passiert. Wegen der Schule machte meine Mutter mir extra Druck, sie akzeptierte keine schlechten Noten und hielt mir Standpauken, wann immer meine Noten schlechter als 2-3 waren, bei guten Noten verlor sie selten mal ein Wort, mein Vater war immer der einzige, der sich mehr auf die guten Noten konzentrierte, anstatt auf die schlechten, von ihm bekam ich immer aufmunternde Worte zugesprochen, auch, wenn es weniger gut lief. Wie wahrscheinlich schon von allen erwartet bestand ich die Probezeit in der zehnten Klasse nicht, von einem Tag auf den anderen musste ich die Klasse wechseln und verlor so ohne Vorwarnung jegliche Bezugspersonen zum "Rest der Welt". Ich war vollkommen auf mich alleine gestellt, ich hatte Angst davor, vor allem einfach, bis heute rede ich nicht viel mit den anderen aus der Klasse, ich komme dort nicht zurecht, ohne Bezugsperson und in der neuen Situation stechen meine Macken noch deutlicher heraus, als sie es so schon tun, jetzt schon habe ich einen eher negativen Ruf unter ihnen, wie ein Mädchen mir ehrlich erzählte.
In der Nacht vom 31.12.2015 auf den 01.01.2016 kam dann die familiäre Wende. Zumindest schien es so. Das erste Mal redete mein Vater offen mit mir und meinem Bruder über die Situation. Etwas, das mir die Tränen in die Augen treibt war seine Frage, was denn wäre, wenn er weg wäre. Er hat geweint.
Meine Mutter und mein Vater redeten miteinander, weniger oft kam es zu Auseinandersetzungen, auch wenn sie immernoch da waren. Da meine Eltern selbstständige Firmenleiter sind haben sie eine Menge Kram zu erledigen und das Hauptproblem lag genau da, zumindest, wenn ich das richtig mitbekommen habe. Da mein Opa vor mittlerweile sehr vielen Jahren die Firma gegründet hat scheint er sich immernoch als Verantwortlicher zu fühlen und ist jeden Tag dort, obwohl er schon längst Rentner und offiziell die Firma meinem Vater gehört. Das Problem ist, dass er die Dinge nicht so überblicken kann wie andere es tun, die Dinge laufen nunmal anders als vor zwanzig Jahren und anstatt zu helfen steht er Mitarbeitern und allen anderen nur im Weg rum, lässt laut meiner Mutter blöde Kommentare fallen und meckert an allem und jedem nur rum, besonders an einem Mitarbeiter, der vergleichsweise noch nicht so lange da ist.
Mittlerweile hat sich die Situation drastisch  verschlimmert, ich weiß, dass mein Opa immernoch tagtäglich in der Werkstatt ist, zwischen meinen Eltern sieht es mehr als nur schlimm aus. Vor etwa einer Woche hat meine Mutter sichim Wohnzimmer komplett zurückgezogen, ich weiß, dass sie krank ist, ernsthaft krank und das macht nichts besser. Seit einigen Wochen kann ich meine Eltern wieder täglich schreien hören, hauptsächlich meine Mutter, diesmal mehr als je zuvor, schließlich hat sie sich vor meinem Vater zurückgezogen, ich weiß, dass sie höllische Schmerzen haben muss, nicht nur seelisch, sondern auch körperlich. An diesem einen Tag kam mein Vater sowohl zu meinem Bruder als auch zu mir ins Zimmer, er hat auf die momentane Situation angesprochen gesagt, dass wir uns keine Gedanken darüber machen sollen, dass wir ni hta damit zu tun haben und dass er das alles wieder hingebogen bekommt, in dem Moment als er in mein Zimmer kam habe ich gesehen, dass er eben erst geweint hatte, seine Augen waren ganz glasig und etwas rot. Als wir miteinander gesprochen haben, hat er wieder weinen müssen, als er zu sprechen begonnen hat musste ich das auch.
In der Schule und im Alltag hat sich die Situation nicht gebessert, Kleinigkeiten machen mir zu schaffen, jede noch so kleine Veränderung stresst mich unheimlich, ich tue mir immer schwerer damit, Sarkasmus und teilweise sogar für andere ganz einfache Ironie vom Ernst zu unterscheiden, das führt zu Missverständnissen ohne Ende, die fehlende Routine hilft noch mit dazu. Ich habe mich bereits an Foren gewendet, ein kleinerer Kummerkasten im Netz, vergebens, diverse Leute fragten mich in der ein oder anderen Community bereits, weshalb ich mich seit Monaten nicht mehr habe blicken lassen, die Antwort ist ganz einfach: Ich weiß nicht, wann ich das machen soll. Für nichts habe ich mehr Zeit,mittlerweile fehlt mir wieder die nötige Planungsfreiheit für Hausaufgaben und Lernen. Vor etwa zwei Wochen habe ich das getan, was ich von Anfang an niemals hatte machen wollen, nach langem Ringen mit allem habe ich eine Freundin angeschrieben und sie um Hilfe gebeten. Ich wusste mir einfach nicht mehr zu helfen, ich bin ziemlich verzweifelt und weiß einfach nicht, was ich noch tun soll. Meine Freundin konnte mir kaum helfen, ich glaube nicht, dass sie erkennen konnte, dass ich mit meinen Gedanken, Möglichkeiten und Nerven bereits am Ende bin. Letztes Wochenende haben wir uns bei mir zu Hause getroffen, das Thema Autismus und meine Probleme kamen dabei kaum zur Sprache.
Ich habe bereits versucht eine Klinik hier in der Nähe anzuschreiben. Das Problem ist, dass es zwar eine E-Mail Adresse gibt, ich darüber aber keine Frahen stellen darf. Was auch immer ich möchte, ich muss es telefonisch tun, darauf wurde ich bereits in der Antwortmail hingewiesen. An diesem Punkt bin ich damit auch schon wieder am Ende, wie bekannt werden das Telefon und ich in diesem Leben keine Freunde mehr, ich weiß nicht wieso das so ist, ich kann es nicht erklären. Ebenso wie i h nicht erklären kann, weshalb mir schriftliche Kommunikation so viel einfacher fällt als sich gegenüber stehen und miteinander reden.
Manchmal, wenn mir alles zu viel wird und die Gedanken mich überkommen, bekomme ich Krämpfe, ich muss weinen und muss mit meinen Gedanken irgendwie zurecht kommen, nicht selten bekomme ich Kopfschmerzen. Das ist mir zum Glück noch nicht oft passiert. Das letzte Mal war vor ein paar Monaten, es war ziemlich schlimm. Ja, ich habe mich auch schon geritzt deswegen, doch auch dass kommt eher selten vor, es hinterlässt Narben, die ich mittlerweile nur noch mit echter Anstrengung verstecken kann. Nein, Selbstmordgedanken kamen mir nie, mein Leben ist mir zu wertvoll, um es einfach so wegwerfen zu können, ich will unbedingt wissen, was nach all dem hier noch kommt.
Mit diesen über 4000 Worten habe ich nun erzählt, was zu Hause geschieht, sicherlich habe ich vieles vergessen und im Nachhinein werde ich mich darüber ärgern, dass ich etwas so wichtiges vergessen habe, doch ich kann nicht mehr länger warten, ich brauche dringend Hilfe, ich kann nicht, wie man vielleicht erwarten oder raten würde, einfach zu jemandem gehen und mir irgendwo welche suchen, es geht einfach nicht, das ist wie telefonieren und noch dazu habe ich darauf bezogen nichteinmal ein Telefon.
Ich respektiere das, was ihr für so viele andere Menschen tut wirklich sehr, ihr macht echt einen tollen Job! ;)
Update: Nichts hat sich geändert, lediglich der Schuldruck ist durch die Sommerferien nun verschwunden.

Liebe Grüße

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

du hast uns ja wirklich quasi dein ganzes Leben erzählt. Diese Offenheit und der Mut, der dazugehört, sollen auch belohnt werden, indem du jetzt endlich mal eine Antwort bekommst.

Ursprünglich ist es meine Schuld, dass es nicht dazu kam. Wir können uns im Kuka bestimmte Probleme "reservieren", wenn wir eine Idee haben, was man schreiben könnte, aber gerade noch keine Zeit dafür haben. Dadurch kommen aber die übrigen Mitglieder nicht mehr an das Problem heran. Da ich die unschöne Angewohnheit habe, manchmal ein Problem zu reservieren, dass dann in meinem Alltag zwischen Studium, Familie, Freunde, Putzen, Kochen und all diesen Dingen untergeht - was schlimm ist, denn es handelt sich jeweils um eine besondere und bemerkenswerte Geschichte -, ist es vorgekommen, dass Leute lange oder gar vergeblich auf eine Antwort gehofft haben. Ich hoffe, dass ich diese Scharte auswetzen kann. Dir möchte ich aber sagen: Dein Problem war darunter. Ich wollte es gern beantworten und habe viel darüber nachgedacht, letztlich kam es lange nicht dazu. Ferner glaube ich, dass die anderen Teammitglieder es mir überlassen wollten, und so kam eines zum anderen.

Warum eigentlich? Tja, und jetzt lasse ich die Katze aus dem Sack: Weil ich ein Asperger bin.

Ich möchte dir gern ausführlich schreiben, weiß aber nicht, ob ich alles unterbringen kann, was ich gerne sagen möchte - ich fahre nämlich in zwei Stunden in Urlaub. Daher möchte ich dir schon hier ein Buch empfehlen, das mir in meinem Leben sehr viel Hilfe und Inspiration bedeutet hat: Tony Attwood - "Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom". Darin findest du viele Tips und Erfahrungsberichte, die dir vielleicht eine Unterstützung oder Anregung sein können.

Wer ist dieser Paul, der dir jetzt schreibt? Nun, zunächst mal bin ich ein internetsuchtender, Gummibärchen essender Student, der vor etwa sieben Jahren zum ersten Mal auf den Kummerkasten stieß. Das war kurz bevor ich zum ersten Mal in der Psychiatrie war. Ich habe lange davon geträumt, hier selbst mitarbeiten zu dürfen, und vor etwa zwei Jahren ging dieser Wunsch in Erfüllung. Ich möchte hier zunächst auf deinen Austausch mit deiner Mutter eingehen, der ja, wenn ich dich richtig verstanden habe, nicht so fruchtbar war, wie du es dir gewünscht hättest.

Mit Autismus gibt es mehrere Schwierigkeiten. Zunächst mal: Autismus ist nicht wie eine Grippe, ein Knochenbruch oder ein Gendefekt - er ist keine Krankheit. Und was ihn außerdem davon unterscheidet, ist, dass man Autismus bisher nicht überzeugend physisch hat nachweisen können. Du kannst sicher sein, dass viele Menschen sich mit Autismus leichter täten, wenn es sowas wie ein "Autismus-Gen" oder "Autismus-Viren" gäbe. Man hat dergleichen aber bislang nicht gefunden, und das ist einerseits gut, weil Menschen mit Autismus sonst vermutlich konsequent wie Kranke behandelt werden würden. Andererseits ist man aber, um eine Person einschätzen zu können, auf die Beurteilung von Verhaltensweisen und Gewohnheiten angewiesen, und da jeder Mensch unterschiedlich ist - und auch jeder Arzt ein wenig anders urteilt - ist in der Tat oft ein gerüttelt Maß an Subjektivität dabei. Das ändert nun nichts an der Tatsache, dass der Autismus existiert. Inzwischen spricht man meist nicht mehr von "Asperger" (daneben gibt / gab es noch die Diagnosen "Kanner-Autismus", "Atypischer Autismus" und "Hochfunktionaler Autismus"), sondern nur mehr von "Autistischen Spektrumsstörungen", kurz ASS. Wo in diesem Feld du dich einordnest, ist letztlich dir überlassen. Ich habe mich eine Zeit lang sehr über meinen Autismus definiert, inzwischen hat das etwas nachgelassen, da ich im Großen und Ganzen ein normales Leben führe: Ich studiere, treffe Freunde, halte meine Wohnung in Ordnung, fahre in Urlaub, und ich bin auch an Mädchen interessiert. Der Autismus ist letztlich der Stein, an den ich immer wieder stoße, wenn mir etwas schwerer fällt. Vielleicht kann ich ihn aber besteigen, um von da aus die Dinge ein bisschen anders sehen und besser wertschätzen zu können. So kannst auch du lernen, deine Besonderheiten als etwas Positives zu sehen. Wie deine Mutter all das einordnet, hat damit zu tun, wie sehr sie sich schon mit dem Gedanken auseinandergesetzt hat, du könntest die Diagnose haben - wahrscheinlich fällt ihr das schwer. Zum Anderen - dazu sage ich unten noch etwas - ist das Bild von Autisten sehr von Klischees geprägt, die vor ihren Augen stehen, und aller Mutterliebe zum Trotz ihren Blick trüben. Auch meine Mutter kennt mich so gut wie kaum jemand sonst, aber die Hälfte der Dinge, die sie mir sagt, wären heute trotzdem nicht nötig. Lass dich also nicht entmutigen - es ist durchaus so, dass man den Autismus klar erkennen kann. Es ist eben mehr als eine bloße Lebensphilosophie, aber eben auch keine Erkrankung. Nicht jeder hat das verinnerlicht.

Was du geschildert hast - Schwierigkeiten im Umgang, Zurückgezogenheit, Kontakthemmungen, Berührungsängste, unbedingte Ehrlichkeit, Geräuschempfindlichkeit, mentale Overloads, Gedankenkreisen - all das sind typische Anzeichen, und wenn sie so gehäuft auftreten, denke ich, ist es wirklich sehr schlüssig, dass es sich um Autismus handelt. Wie du gemerkt hast, sind all das Dinge, die im Alltag erhebliche Schwierigkeiten bereiten können. Ich habe das Telefonieren erst so richtig gelernt, weil ich zwei Beziehungen mit Mädchen in weiter entfernten Städten hatte. Tja, und da blieb mir nichts Anderes übrig, als anzurufen, auch mal mit Vater, Mutter, Oma, Bruder, Tante zu reden - es war eine Überwindung, es hat gedauert, aber es funktionierte. Mobbing-Erfahrungen in der Schule, Depression und Tics (Macken) haben, wie erwähnt, auch dazu geführt, dass ich einige Zeit in Kliniken verbracht habe. Davon bist du verschont geblieben, was mich freut - andererseits ist deutlich, dass dir gerade alles über den Kopf wächst. Die angespannte Familiensituation trägt dazu noch ihren Teil bei. Ich hoffe sehr, dass ich dich in einigermaßen guter Verfassung antreffe (-schreibe); wichtig ist für dich, dich zu erinnern: Die Situation hat nur bedingt mit dir zu tun. Du kannst sehr stolz sein auf das, was du schon erreicht hast. Wenn dir einmal wieder alles zuviel wird, kannst du dir vielleicht einen Ausgleich schaffen. Für mich ist Kochen zum Beispiel sehr meditativ, auch bin ich Langstreckenläufer. Was die Schule betrifft: Es ist nicht möglich, alles zu schaffen. Das Einzige wirklich wichtige Zeugnis ist dein Abschlusszeugnis. Konzentriere dich vorerst auf die Dinge, die du gut kannst, und versuche, im Austausch mit Lehrern eine Komfortzone zu schaffen: Zum Beispiel durch einen bestimmten Sitzplatz, der dir am liebsten ist, oder indem du die Pausen in einem Klassenzimmer verbringst, wenn dir draußen alles zuviel wird. Das lässt sich aushandeln. Das Bedürfnis von Autisten, sich nach dem Schulalltag oder Arbeitsalltag - der für uns ungleich anstrengender ist - zurückzuziehen und die Menge der Gedanken, Erfahrungen und Umwelteinflüsse zu ordnen und zurückzubauen, ist bekannt; viele Menschen haben damit ihre Probleme, und richtig ist auch, dass Etliches, was Autisten Schwierigkeiten bereitet, natürlich kein Alleinstellungsmerkmal von Autisten ist. Andererseits weiß man, dass für Autisten die Möglichkeit, sich innerlich wie äußerlich zurückziehen, mit sich einkehren zu können, weil sie mehr erinnern, mehr verarbeiten und oftmals mehr verstehen müssen, wichtig ist.

Einundzwanzig Jahre lebe ich jetzt mit meiner Familie zusammen (Vater, Mutter, Bruder, Schwester, zwei Katzen, ein Hamster :D ) - und sie haben noch immer nicht verinnerlicht, dass ich nichts vergesse. Die Beschreibung der autistischen Erinnerung als ein Filmband, das immer wieder abläuft, erschien mir früher abstrakt, weil ich es als so selbstverständlich wahrgenommen habe, dass ich mich darin gar nicht wiedererkennen konnte. Heute weiß ich, dass mein Erinnern weit weniger punktuell ist als das anderer Menschen, sondern sehr konstant und intensiv; es ist immer schwierig, nicht von mir auf andere Menschen zu schließen, da sie die Dinge anders bewerten. Du merkst schon: Was ich erlebe, oder was wir erleben, das erleben nicht nur Autisten. Letztlich geht es nicht darum, Menschen mit Autismus einen Sonderstatus zu verschaffen, und es geht auch nicht darum, die Probleme anderer Menschen kleinzureden oder abzuschneiden. Jeder Mensch ist einzigartig, und jeder hat das Recht, mit seinen Problemen individuell wahrgenommen und nicht abgewiegelt zu werden. Wäre ich davon nicht überzeugt, wäre ich nicht hier. Ich hatte früher starke Schwierigkeiten, zuzuhören, die Gesichter der Leute zu deuten oder sie überhaupt anzusehen; das hat sich gebessert, so wie ich überhaupt eine große Zahl an Persönlichkeiten getroffen habe, im Guten wie im Schlechten, an denen ich mich "gerieben" und durch die ich viel über Menschen gelernt habe. Noch vor gar nicht so langer Zeit hätte ich mir die Arbeit hier nicht zugetraut; und noch heute, wobei das für alle Kuka-Mitglieder gilt, wenden wir uns am liebsten dem zu, was wir von unserer eigenen Erfahrung her am besten einschätzen können. Für dein Problem bin ich das - ich habe mich in vielem wiedererkannt, was du geschildert hast. Für mich ist die Sache klar - vielleicht kann dich die Meinung eines Menschen trösten, der zwei Jahre Schulbegleitung hatte, und heute auch gelegentlich Vorträge über Autismus hält? Es ist alles ein weiter Weg, das ist richtig, aber du wirst ihn gehen.

Eine weitere Schwierigkeit in deinem Fall ist eine ganz schlichte: Du bist ein Mädchen - die meisten (diagnostizierten) Autisten sind aber Jungs. Insofern findet auch bei den Psychologen, die sich mit Autismus beschäftigen, eine gewisse Fixierung auf das Männliche statt, wobei die Symptome bei Mädchen manchmal noch etwas anders sind. Ich mache ungern so offen Werbung, aber in Attwoods Buch wirst du auch dazu Schilderungen finden, während viele Ärzte, die man so befragt, oft eher das Schema des autistischen Jungen vor sich haben. Die allgemeinen Vorstellungen von Autismus sind sehr geprägt von Filmen wie "Rain Man" oder, neuerdings "Vincent will Meer", oder auch von der Serie "Big Bang Theory" (die meine Mutter mit Vorliebe guckt). Ein schöner Film, den ich dir empfehlen kann, ist "Mozart und der Wal". Du wirst bei all diesen Namen schon merken: Wer Autismus hört, denkt gerne an Hochbegabung und andererseits, völlige soziale Kälte. Was Probleme bereitet - und so habe ich auch dich verstanden - ist aber letztlich nicht Ignoranz gegenüber anderen Leuten, im Gegenteil: Der feste Wunsch nach Kontakten und Freundschaften ist da - es fällt nur oftmals schwer, diese zu schließen, zu bewahren, und (mir fällt gerade kein besseres Wort ein), bedingt durch die mentale Überlastung, "auszuhalten". Auch mir geht es so, dass ich in einem ereignisreichen und anstrengenden Semester wie diesem, sehr zurückgezogen lebe, und, da ich nicht in sozialen Netzwerken bin, mir schwer tue, mit Freunden zusammen zu kommen. All das sind Dinge, denen man sich wieder und wieder stellen muss - sie kommen nicht zum Ende. So wie jeder seine Aufgaben hat. Ich kann dir nur gratulieren, dass du Freundschaften über so lange Zeit halten kannst, und wünsche dir Entspanntheit im Umgang. Autismus, das ist ganz wichtig, ist nichts, was dich von der Interaktion mit anderen Menschen ausschließt, dich hindert, Menschen zu verstehen oder auch ihr Leben zu bereichern; daher würde ich auch das, was du über deine Kindheit gesagt hast, so nicht unterschreiben. Jeder durchlebt Phasen, in denen man unausstehlich ist - Kinder sind manchmal, das habe ich meiner Hortgruppe im FSJ miterlebt, einfach nicht nett, sondern können auch sehr grausam sein. Auf der anderen Seite sind sie weniger nachtragend - und ich würde mir an deiner Stelle nicht allzu viele Gedanken machen, was damals war oder nicht war. Zu einem Streit gehören immer zwei. Meinst du denn, sie hätten untereinander immer gern zusammen gespielt? Irgendwelche Spiele, zu denen man recht ist, gibt es dann doch. Du bewertest die damaligen Vorgänge anders, weil du sie intensiver erinnerst - meine Rede. Denke aber nicht, die Menschen um dich herum würden alles in dem Maße in die Goldwaage legen, wie du es unbewusst manchmal tust. Ehrlichkeit und der Versuch von Höflichkeit werden am Ende immer belohnt, da kannst du sicher sein. Fang gar nicht erst an, dir einzureden, dass du es dir seit jeher überall verdorben hättest - erstens stimmt das nicht, und zweitens führt es zu nichts. Versuche lieber, stolz zu sein darauf, dass du die Schule allein, wenn auch mit Schwierigkeiten, so doch bewältigt hast, dass du dich nicht hast unterkriegen lassen, dass du Freunde gefunden hast - und schließlich, dass du in der Lage bist, soviel und so kritisch über dich nachzudenken. Das ist sehr wertvoll.

Was ich dir zuletzt gesagt habe, sage ich nicht nur Menschen mit Autismus - es trifft auch auf Andere zu, und sie verdienen dieses Lob. Wie ich sagte: Ich möchte Autisten nicht aus der Masse hervorheben, aber ich möchte auch unterstreichen, dass es sinnvoll ist, sie als besonders wahrzunehmen. Die ideale Gesellschaft, in der jeder nach seinen Möglichkeiten und nach seiner besonderen Problematik beurteilt wird, ohne in ein Schema gezwungen zu werden, ohne Wertung, diese Gesellschaft ist noch nicht errichtet. Solange das noch nicht der Fall ist, brauchen wir für besonders augenfällige Geschichten Diagnosen - "Autismus", "Hyperaktivität", "Hochsensibilität", und was da noch so ist. Ich beglückwünsche dich zu den Schritten, die du gewagt hast! Wenn du weitere Fragen hast oder noch mehr erzählen möchtest, dann schreib uns gerne wieder. Ich verspreche dir, dass du diesmal rascher eine Antwort bekommst, denn wenn du meinen Namen hinzufügst, wird mir die Zuschrift als Feedback verlinkt. Vorerst wünsche ich dir einen freundlichen Sommer und die Ruhe, die du nötig hast. Denk positiv - du bist es wert.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul