Anwort von PaulG

Lieber Tobi,

leider war ich durch den Semesterbeginn so in Anspruch genommen, dass ich erst jetzt wirklich die Ruhe für eine Antwort habe. In den letzten zwei Wochen kann viel passiert sein - ich wäre dankbar, wenn du mich auf den neuesten Stand bringen könntest, falls das nötig ist.

Ich denke, dass bei Helena mehrere Dinge zusammentreffen, die alle auf ihr Verhalten einwirken: Das eine ist ihr Schulstress und alles, was es sonst an Zeitfressern gibt - man könnte jetzt einwenden, gut, wenn man jemanden unbedingt treffen will, dann findet man auch einen Moment. Andererseits: Vielleicht ist es wirklich so, dass sie ihre letzte Beziehung noch sehr mit sich herumträgt, und ein wenig Angst hat, sich auf dich einzulassen. Das muss gar nichts mit deiner Person zu tun haben. Wie du selbst ja weißt, hinterlässt die Liebe Spuren im Herzen. Es ist möglich, dass sie allgemein noch zu verunsichert und zu unentschlossen ist, und aus der ganzen Sache nichts Dauerndes wird. Das Falscheste, was du machen könntest, wäre dann aber, das auf dich zu beziehen und daraus eine Kritik an dir abzuleiten. Sehr wahrscheinlich mag sie dich sehr, sie macht auch klare Andeutungen, die darauf zielen, dich zu testen. Du hast das sehr gut bewältigt. Vermutlich wäre es ebenso falsch, ihr übertriebene Beteuerungen zu machen oder gar deine Liebe zu gestehen, wie es falsch wäre, dich frustriert zu zeigen. Wenn das Ganze also noch aktuell ist - übe dich in Geduld. Ich denke, sie wird das zu schätzen wissen.

Wenn es nicht klappt, solltest du dir auch mehrere Dinge ins Gedächtnis rufen: Helena befindet sich gerade mitten in einem wichtigen Einschnitt in ihrem Leben. Sie macht ihr Abitur, lässt die Schule hinter sich und es beginnt mit dem Studium eine ganz neue Phase. In dieser Zeit des Umbruchs kann es sein, dass man zögert, eine Bindung einzugehen - in dem Sinn, dass man skeptisch ist, eine neue Beziehung zu starten, und vorsichtig, sich emotional zu binden. Da du bereits arbeitest und dir dein Leben selbst leisten kannst, stehst du gerade sehr viel fester im Leben und bist möglicherweise viel optimistischer, als sie es gerade sein kann. Wenn die Töne zwischen euch ernster werden, und du dir sicher bist, dass sie auch Gefühle für dich hat, kannst du sie auch darum bitten, eine Entscheidung zu treffen. Bis dahin solltest du nicht vergessen, dass gerade sehr viel auf sie einbricht und auch sehr vieles wegbricht, von ihrer persönlichen Geschichte noch ganz abgesehen. Ich denke, du machst das schon sehr gut, dich ruhig zu verhalten und sie nicht zu drängen, aber andererseits auch den Kontakt mit ihr zu genießen. So lernt sie dich unverfälscht kennen und weiß, worauf sie sich einlässt, wenn sie sich für dich entscheidet.

Ich kann dich nur beglückwünschen, Tobi: Du hast die Herausforderungen der letzten Jahre wirklich beeindruckend gemeistert, und aus dir ist ein viel offensiverer, selbstbewussterer Mensch geworden. Die Erfahrungen, die du mit Helena bis jetzt gemacht hast, wird dir niemand mehr nehmen können - selbst wenn daraus keine Beziehung entsteht. Ich habe das Gefühl, dass du die Dinge jetzt objektiver siehst, und nicht mehr alles negativ auf dich oder ein vermeintlich "feindlich gesonnenes" Schicksal zurückführst. Was du dir selbst bewiesen hast, kann sich wirklich sehen lassen, und das hast du ganz allein geschafft.

Was Helena für eine Persönlichkeit ist, kannst du am besten beurteilen. Man kann auch sehr unterschiedlich sein, und trotzdem eine gute Beziehung führen. Solange du ein offenes Ohr für sie hast und bereit bist, ihr den Freiraum und die Zeit zu geben, die sie braucht, wird es schon gutgehen, denke ich. Vergiss aber auch nicht: Auch du hast deine Wünsche und das Bedürfnis nach Klarheit, Sicherheit und Zuwendung. Es ist auch nicht richtig, wenn sie dich ewig hinhält, denn das kostet dich Energie und ist für beide Seiten unbefriedigend. Im Augenblick reicht es wohl, wenn du dich unverkrampft gibst und ansonsten abwartest - sie ist eben einfach auch sehr ausgelastet zurzeit, das bringt das Abi so mit sich. Doch wenn es sich länger hinzieht, solltest du auch anfragen, ob sie wirklich ernsthaft darüber nachdenkt, dass aus euch mehr wird, oder ob es ihr lieber ist, sich nicht festzulegen. Das muss eure Freundschaft und euer gutes Verhältnis nicht berühren, vielleicht nicht einmal, dass ihr Zärtlichkeiten austauscht; jedoch scheint mir, du wünschst dir mehr, und früher oder später solltest du darauf dringen, dass du erfährst, wie deinen Chancen eigentlich sind.

Wenn sie innerlich noch sehr von der unguten Erfahrung mit ihrem letzten Freund umgetrieben wird, ist es nur gut, wenn du dich als Gesprächspartner anbietest. Wichtiger ist aber, dich freundlich und rücksichtsvoll zu zeigen - auf diese Weise schaffst du schon eindrucksvoll einen Kontrast zur Vergangenheit, den sie wahrnimmt. Wenn sie noch nicht bereit ist, bestimmte Erfahrungen mit dir zu teilen oder sie noch gewisse Ängste plagen, dann versuche nicht, unbedingt alles von ihr zu hören, sondern akzeptiere die Grenzen ihrer Offenheit, wie sie sie setzt. Denn schließlich wollt ihr beide auch etwas Neues beginnen, in dem für euch beide die Vergangenheit keine so große Rolle spielen wird, wie (hoffentlich) ihr zwei miteinander und füreinander. Allerdings spricht auch nichts dagegen, wenn sie ein großes Bedürfnis nach Reden entwickelt, dich in ihre Vergangenheit einweihen möchte, dass du ihr das erlaubst und ihr zuhörst. Du machst das schon sehr richtig, und du musst auch nicht viel kommentieren; Taten und Gesten zählen hier mehr als Kommentare. Ich bin überzeugt, dass du einen guten und vielversprechenden Weg eingeschlagen hast.

Ich wünsche euch beiden viel Glück, und vor allem dir die Beharrlichkeit und Ruhe, die es braucht. Sei für sie - aber vergiss auch dich selbst nicht, und schütze dich, wenn dir etwas emotional nahe geht, das sie betrifft. Denn du lässt sie spüren ,dass sie dir wichtig ist, das ist gut; doch achte darauf, dich nicht abhängig zu machen, und frage sie lieber direkt, wenn du dir bei etwas nicht sicher bist, als allzu viel in ihre Worte hinein zu interpretieren. Wenn ihr eine so gute Gesprächsbasis habt, solltest du das nutzen - nicht nur, wenn es um sie, sondern auch, wenn es um dich geht. Nur so sieht sie in dir den Menschen, der du bist, und erhält ein umfassendes und realistisches Bild. Und schließlich: Nur so kann aus dem "sie" und "ich" - ein "wir" werden. Stütze sie, wo du es für richtig hältst; du erkennst gut, wo es notwendig ist, ich vertraue auf dein Gefühl. Aber verstelle dich auch nicht, sondern sei ganz der Mensch, der du bist. Zeige die Grenzen deiner Belastbarkeit auf, falls sie dich - ohne es zu denken oder zu wollen - an diese bringt. Das ist mir besonders wichtig - damit du von ihr profitieren kannst und ihrer Zuneigung, wie sie von deiner. Dann werdet ihr viele Hürden gemeinsam bestehen können.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul