Problem von Anonym - 26 Jahre

Herkunftsverleugnung ?

vorab möchte ich mich schon mal bedanken, dass ihr euch Zeit für mein Problem nehmt.

Ich wurde in der Schweiz geboren, bin dort zur Schule gegangen und habe mein Studium abgeschlossen. Meine Eltern sind kurz vor meiner Geburt in die Schweiz geflüchtet und haben sich hier eine Existenz aufgebaut.

Ich habe ein absolut ernstzunehmendes Problem mit meinem Herkunftsland. Ich sehe mich als Schweizer und leugne dass ich (bzw. meine Eltern) Ausländer sind. Ich hasse mein offizielles Herkunftsland, die Menschen dort, die Mentalität, das ständige Jammern, ALLES. (ähnlich wie: http://mein-kummerkasten.de/266618/selbsthass-wegen-herkunft.html)
Zu meinem Vater hatte ich noch nie ein gutes Verhältnis, nein ganz im Gegenteil, immer häufiger frage ich mich ob ich ihn hasse?! . Meine Kindheit war auf gut Deutsch „scheiße“, die Schuld schiebe ich ganz klar ihm zu.
Nun möchte ich meinen ausländischen Nachnamen ändern.
Erstens (Hauptgrund!) weil er lächerlich klingt und ich mein ganzes Leben immer und überall ausgelacht werde.. Meine Kindheit war der Horror!
und zweitens um nun voll und ganz ein Schweizer sein zu können.
Ist es falsch dies zu tun? Geht das als Verleugnung meiner Herkunft durch?

Als ich meinem Vater von meinem Vorhaben erzählt habe meinte er ich gehöre nicht mehr zu Familie usw..
Kann ich das machen obwohl ich meinen Vater so verletze?
Obwohl ich es als ein wenig unpersönlich empfinde, denke ich, ich sollte meinen Namen ändern..

Judith Anwort von Judith

Lieber Unbekannter,

Dein Beitrag berührt mich sehr. Ich habe zufälligerweise gerade vor kurzer Zeit mit einem Freund über das Thema Herkunft und Identität gesprochen. Und über den Schmerz, den Kinder von Flüchtlingen empfinden.

Du bist mit deinen Gefühlen nicht allein: Tausende Kinder in der Schweiz und in anderen Ländern befinden sich kulturell „irgendwo dazwischen“. Sie wachsen anders auf, als die Generation vor ihnen. Und sie wachsen mit Eltern auf, die zum Teil durch Krieg, Flucht und Not traumatisiert wurden und daher nicht immer die Eltern sein konnten, die sie sein wollten. Die Erfahrungen haben die Eltern hart werden lassen und sicher hat das auch dazu beigetragen, dass Du Deine Kindheit als scheisse empfandest. Diese Kinder, Deine Generation von Einwanderern oder auch die „Kriegsenkel“, wie man sie nennt, leiden noch unter den Erfahrungen der Generation vor ihnen.

Jeder geht damit anders um. Es gibt Künstler wie den Schweizer Goran Vulovi?, der sich als Serbe identifiziert, obwohl er wie Du in der Schweiz geboren wurde. Trotz rotem Pass wird er immer ein Serbe bleiben, kulturell, identitätstechnisch.
http://www.foraus.ch/#!/blog/c!/content-699-Wie-ich-zum-Auslnder-geformt-wurde

Und dann gibst es die Kinder, die sich wohlfühlen, die angekommen sind in der neuen Gesellschaft, so wie Du. Sie möchten keine „Secondos“ sein, ja, finden das Wort abwertend. Das ist verständlich, denn in unserer heutigen globalen Zeit, ist es rückständig, jemandem einen solchen Stempel aufzudrücken. Unsere Geburtsherkunft wählen wir nicht, wohl aber das kulturelle Umfeld, in dem wir uns wohlfühlen. Menschen konvertieren zu einer Religion oder sie nehmen Staatsbürgerschaften an – weil sie eine „Heimat“ gefunden haben. Sei es im eigentlichen oder im übertragenden Sinne. So wie Du.

Ich möchte hier aber nicht zu sehr philosophieren. Mein Rat an Dich ist: Nimm Deine Herkunft an und schliesse Frieden mit ihr. Du kannst Schweizer sein, mit Migrationshintergrund. Etwas zu verleugnen, was doch Teil von einem ist, führt nur zu mehr Schmerz. Sei nachsichtig und verständnisvoll mit der Generation vor Dir, denn sie hat viel erlebt.

Du hast aber auch das Recht anders zu sein! Du musst nicht das Leben Deiner Eltern weiter leben, oder ihre unerfüllten Wünsche erfüllen. So hart wie das klingt: Du schuldest Deinen Eltern nichts! Aber ich rate Dir damit, Dich mit ihnen und ihrem Erbe auseinanderzusetzen.

Hier zwei interessante Artikel zu dem Thema:
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-04/kriegsenkel-2-weltkrieg-folgen-erbe-schuld-trauma
http://www.deutschlandradiokultur.de/binationale-herkunft-wird-in-deutschland-nicht-als-gewinn.954.de.html?dram:article_id=223047

Ich wünsche Dir alles Gute für Deine Zukunft, und Dass Du Deinen Frieden mit Deiner Herkunft schliesst.

Herzliche Grüsse,
Judith