Problem von Anonym - 23 Jahre

durcheinander und überfordert mit meinem Leben

Liebes Kummerkastenteam

Ich habe mir nach einer Ausbildung zur Kauffrau einen grossen Traum verwirklicht und begonnen Medizin zu studieren, leider ist das Studium viel anspruchsvoller und anstrengender als erwartet. Ich fühle mich überfordert.
Ich lerne sehr viel und ernähre mich ungesund wegen dem ganzen Stress. Auch habe ich aufgehört regelmässig Sport zu treiben und Freunde zu treffen. Die neuen Leute vom Studium sind zwar sehr nett, viele konzentrieren sich aber vor allem darauf, dass sie selber alle Prüfungen bestehen. Weil ich aufgehört habe Sport zu treiben und begonnen habe ungesund zu essen habe ich auch stark zugenommen und fühle mich nicht sehr wohl in meiner Haut. Ich nehme mir weniger Zeit mich um mein Äusseres zu kümmern (mich zu schminken oder mal ein paar neu Klamotten shoppen zu gehen).
Eigentlich würde ich mir sehr eine Beziehung wünschen, allerdings fällt es mir schwer auf Männer in meinem Alter zuzugehen, da ich mich ja momentan nicht sehr attraktiv fühle.
Aus finanziellen Gründen wohne ich auch immer noch bei meinen Eltern.
Trotzdem dass ich viel lerne, komme ich eher schlecht durch das Studium.
Allerdings fasziniert mich die Fachrichtung Medizin und auch der Beruf danach immer noch sehr.

Wenn ich jedoch sehe, wie andere Leute in meinem Alter bereits arbeiten, von zu Hause ausgezogen sind, eine Beziehung führen und viel Zeit für Freunde oder um Hobbies zu betreiben haben, habe ich das Gefühl dass mir ziemlich etwas fehlt im Leben. Ich fühle mich einsam, überfordert und ständig unter Druck. Ich habe grosse Angst, dass das auch nach dem Studium im Berufsleben so weitergeht und mein Privatleben weiterhin darunter "leidet". Ich wünsche mir sehr, später Kinder und eine eigene Familie zu haben.

Daher frage ich mich: Ist es das wirklich Wert für mein Traumstudium alles zu opfern und zu hoffen, dass es nachher im Berufsleben besser wird, oder wäre es besser, zu einer Fachhochschule die auf meiner Ausbildung als Kauffrau aufbauen würde und bei der ich mehr Zeit für andere Sachen hätte zu wechseln?
Ich mache mir diese Sorgen, da ich auch oft mit meinen Eltern streite und eigentlich merke, dass ich ausziehen und mein Leben selber auf die Reihe kriegen soll.
Es belastet mich, da es um meine Zukunft geht und da ich auch merke dass ich sehr unglücklich bin und fast jeden Tag weinen muss, ich habe Angst dass diese Verzweiflung stärker wird.

Vielen herzlichen Dank für eure Hilfe!

Bernd Anwort von Bernd

Liebe Unbekannte,

was macht Dein Studium zu Deinem "Traumstudium"? Vielleicht solltest Du Dir diese Frage zuerst einmal selber in aller Ruhe stellen und beantworten.
Einiges von der Frage hast Du bereits durch Dein bisheriges Leben beantwortet: Deine Ausbildung hatte nicht die Bohne mit Medizin zutun!
Es scheint also nicht in erster Linie das "unbedingte Verlangen, für andere Menschen da Zusein" Deinen Traum zu bestimmen?
Ich will Dir hier einen Menschen vorstellen, den ich sehr bewundere. Der es genau andersherum gemacht hat, als Du:
Vielleicht kennst Du Anita von unserem Kummerkasten noch? Sie hatte zuerst studiert (Anglistik) und sich kurz vor dem Abschluss, den sie sicherlich positiv bestanden hätte, dann eine Herzensangelegenheit - einen Traum - erfüllt: sie hat nach dem Studium eine Ausbildung zur Krankenpflegerin begonnen.
Einen Schritt zurück in der Skala der "gesellschaftlichen Hierarchie" aber Kilometer vorwärts als Mensch!

Hier bist Du das Thema! Und das will ich nicht vergessen! Und die Frage, die ich Dir anfangs gestellt hatte.
Lass mich diese Frage konkretisieren:

- hast Du eine erste Hilfe Ausbildung, die nicht studienbedingt und über das hinaus geht, was für den Führerschein verlangt wird?
- bist Du aktiv in DRK, DLRG, ~Seelsorge oder einer ähnlichen Einrichtung, die sich meist "unbemerkt" für Menschen einsetzt?

Selbst wenn Du all die Fragen mit "Nein" beantworten musst: ich will ganz sicher nicht damit bewirken, dass Du Dich "schlecht" fühlst!

Gründe, warum Du Dich derzeit nicht wohl fühlst, hast Du ja selbst schon zur Genüge in Deiner Zuschrift geschildert!
Und genau diese Gründe solltest Du ernster nehmen, als alles, was ich Dir noch schreiben kann!

Kennst Du den Begriff der "Beratungsresistenz"?

Das betrifft irgendwie uns beide gleichermaßen: Alles, was Du an gesundheitlichen und sozialen Folgen Deines ehrgeizigen Studiums hier schilderst, ist für einen Fachmann wohl Grund genug, Dir einen anderen Weg zu empfehlen.
Von den Fachleuten, zu denen wir ja auch irgendwie gehören wollen!
Deren Rat anzunehmen aber niemandem schwerer fällt, als uns selber!
Mal ganz ehrlich: was würdest Du (ohne Approbation und Doktortitel) schon jetzt einem Patienten empfehlen, der Dir Deine (Kranken-)Geschichte erzählt?

Einige Dinge in Deiner Zuschrift sind mir - über das Generalthema "Medizinstudium" hinaus - besonders aufgefallen. So schreibst Du z.B.:
"Eigentlich würde ich mir sehr eine Beziehung wünschen, allerdings fällt es mir schwer auf Männer in meinem Alter zuzugehen, da ich mich ja momentan nicht sehr attraktiv fühle."
Nun weiß ich nicht, ob Du diesen so passenden Begriff "attraktiv" bewusst benutzt hast?
Fast vollständig beschrieben hattest Du es vorher schon, was alles zu Deiner "Attraktivität" beiträgt; was Du gerade außen vor lässt, um einem Traum zu folgen?!

"Weil ich aufgehört habe Sport zu treiben und begonnen habe ungesund zu essen ......und fühle mich nicht sehr wohl in meiner Haut. Ich nehme mir weniger Zeit mich um mein Äusseres zu kümmern ."

Mit diesem Satz beantwortest Du eigentlich Deine Frage: das Ergebnis aller Deiner "Traum"-Anstrengungen macht aus Dir ein "Nicht-ich"!
Du kennst Dich selbst nicht wieder! Akzeptierst Dich selber nicht! Magst Dich selber nicht, wie Du Dich nun selber erkennen musst!

Ich denke, Du solltest Dich selber wiederfinden!
Deine Attraktivität definieren!
Träume neu und zu Deiner Attraktivität passend finden, träumen und verwirklichen.

Du schreibst:
"Wenn ich jedoch sehe, wie andere Leute in meinem Alter bereits arbeiten, von zu Hause ausgezogen sind, eine Beziehung führen und viel Zeit für Freunde oder um Hobbies zu betreiben haben, habe ich das Gefühl dass mir ziemlich etwas fehlt im Leben. Ich fühle mich einsam, überfordert und ständig unter Druck."

Damit hast Du sicherlich einerseits Recht. Der direkte Weg ins Leben sieht so aus: Schule von 6 bis 15 (Hauptschule). Danach Lehre bis 18. Und dann Beruf, Auto, Frau und Kind.

So wie Du es schreibst, sind Arbeit, ausziehen und Beziehung schon auch für Dich gangbare alternative Wege, weil Du ja eine abgeschlossene Ausbildung hast!
Es stellt sich nur die Frage: was macht Dich im Kreise Deiner Familie einsam?
Würde ein Auszug von zuhause nicht den Druck erhöhen, eine Beziehung einzugehen, nur um einer gesteigerten Einsamkeit zu entgehen?
Hältst Du an Deinem ungesunden Studium fest, um Dir und Deinem Umfeld gegenüber ein Argument zu behalten, warum Du die Einsamkeit im Kreise Deiner Familie nicht gegen eine Einsamkeit alleine eintauschen kannst?
Hast Du vielleicht Angst vor Schritt drei in Deiner Liste (Arbeit, ausziehen, Beziehung ....) und umgehst das Problem, indem Du Dich in den ersten zwei Schritten in "Träumen" verhedderst, die Du selbst schon nach wenigen Worten als nicht eigentlich existentiell für Deinen Lebensplan entlarvst?
Worum geht es eigentlich in den Streitigkeiten mit Deinen Eltern?
Setzen die Dich unter Druck? Oder setzt Du Dich selber unter Druck, um Deinen Eltern etwas entgegenzusetzen?
Du merkst vielleicht, dass meine Gedanken sich langsam im Kreise drehen. In einem Kreisverkehr, in dem ich auch Dich irgendwie wiederfinde?

Einen Ausgang aus den vielen gefühlsmäßigen Kreisverkehren, in die wir in unserem Leben immer wieder mal geraten, finden wir nur, wenn wir unser Leben "entschleunigen"!
Runter mit dem Tempo und Zeit nehmen, uns selbst wiederzufinden!
Damit wir die richtige Ausfahrt aus dem Kreisverkehr erkennen und auch sicher nehmen können!

Okay, liebe Unbekannte. Ich habe hier einige Gedanken zusammengefasst, die mir bei Deiner Zuschrift gekommen sind.
Vielleicht hast Du einige Antworten auf meine Fragen?

Sei geduldig mit Dir! Und suche den Weg, in dem Deine Träume Dich nicht so sehr unter Druck setzen, dass Du daran verzweifelst!

Alles Liebe
Bernd