Problem von Jule - 19 Jahre

Plötzlich Schwanger

Lieber Paul,
ich weiß, du hast lange nichts mehr von mir gehört. Hättest vielleicht auch nicht gedacht, dass das mal wieder passiert, aber... irgendwie steckst du ein bisschen mit drin. Deswegen dachte ich mir, hast du es verdient daran Teil zu haben.

Ich hab's nicht mehr. Das Kind meine ich..

Der Druck war wohl einfach zu groß, die Zeit zu kurz und ich zu ... einsam?
Alles Ausreden, ich weiß. Ich bereue es. Sehr sogar.
Aber ich kann es nicht mehr ändern. Ich sollte mir vielleicht auch keine Vorwürfe machen, doch es fällt mir schwer. Ich denk oft daran... Sollte ich das lassen? Ich hoffe nicht, denn irgendwie gibt es mir ein wenig Kraft.

Klingt komisch, ich weiß.. Allein darüber nach zudenken ist weniger schmerzhaft. Doch in der Ausbildung gehen wir gerade diese Themen durch. Abtreibungen, Schwangerschaften, usw. Ironischer Zufall.. aber ich möchte nicht mit anderen darüber reden. Sie könnten es nicht verstehen, wie auch? Aber das will ich auch gar nicht, denn es war meins. Mein Körper, mein Herz, meine Sorgen, meine Situation, mein... ja.. mein Baby. Das war's, leider. Vielleicht hätte ich auf dich hören sollen. Nein, wahrscheinlich.. Aber wo wäre ich dann? Ich wusste dass es wahrscheinlich ne Risikoschwangerschaft wird, da ich Rh- bin. Ist das ein Trost? Nein. Ich hätte es geschafft. Wir hätten das geschafft, aber..

Die Angst war größer. Vor meiner Familie, dem Druck, der Zukunft und vor allem vor mir selbst. Ich hasse wenn Leute darüber reden, als wäre es ein Gegenstand. Wie als hättest du einen alten Löffel aussortiert. So ist es nicht, aber das brauch ich dir ja nicht erklären. Du verstehst mich.. irgendwie. Aus welchem Grund auch immer.

Ich konnte einfach nicht früher schreiben. War mir selbst jetzt nicht sicher, aber ich hatte das Gefühl, es hat dich gefreut etwas von mir zu hören. Leider jetzt mit einer unerwünschten Nachricht. Tut mir leid.

Mir wurde gesagt, ich soll alle Erinnerungen beseitigen, dann geht's mir wieder gut. Komisch dass diese "klugen" Ratschläge von Leuten kommen, die das noch nie getan haben, oder?
Viele, die mir sagen.. sie würden es nie abtreiben. Trauen sich aber nicht mal eine Hundepatenschaft zu. So viel Verantwortung, ständig raus gehen.. nicht so ihr Ding. Aber das mit nem eigenen Baby wäre natürlich kein Problem. Manchmal kann ich mir das Lachen nicht verkneifen, obwohl ich weiß, dass sie mich damit verletzen. Wohl, weil sie es nicht wissen. Denn niemand sagt dir ins Gesicht, was er wirklich denkt.
Alle meinen, das würden sie niemals tun. Das sei Mord, man sollte dafür bestraft werden. Doch wenn sie erfahren, dass ich in genau dieser Situation stecke, gucken sie alle nur verlegen zur Seite. Sie entschuldigen sich und meinen, dass sie nicht in der Situation stecken und ich wohl das richtige getan hätte.

Heuchlerei, aber immerhin erfährt man so einige interessante Dinge, die man anders nie erfahren hätte. Mein Freundeskreis hat sich dementsprechend minimiert und aufs nötigste beschränkt. Wenn man nichts kann, ehrlich sollte man sein. Besonders in einer Freundschaft. Siehst du das nicht auch so?

Ich bin nicht perfekt. Nicht mal annähernd. Das möchte ich auch nie sein, wie langweilig! Aber jeder weiß genau, aus meinem Mund kommen nur Dinge, die ich auch wirklich so meine. Ich steh 100% dahinter und bin immer ehrlich und direkt. Ist gleichzeitig auch ein Schwachpunkt von mir. Sachen in Watte zu packen ist nicht mein Ding. Ich kann's einfach nicht. Wenige kommen damit klar - nicht schlimm. Aber das ist mir jetzt alles umso deutlicher geworden.

Das viele Menschen urteilen, ohne zu wissen. Das wollen viele auch gar nicht, weil es sie nicht einmal interessiert. Schockierend, oder?

Ich wollte immer ne glückliche Mutter sein. Eine die stolz und stark ist. Ich hatte das Gefühl, das ich das noch nicht konnte und abgeben konnte ich es erst recht nicht. Ich hatte große Angst vor dem Eingriff, dass was schief geht. Nicht dass ich es bereue, denn das wusste ich. Physisch ging alles gut. Psychisch eher weniger. Ich bin bis jetzt nicht zur Nachuntersuchung gegangen und der Eingriff ist schon eine kleine Ewigkeit her.

Ich hab aufgehört zu essen, warum auch immer.. aber irgendwie hatte ich ne Blockade im Kopf, die irgendwann körperlich wurde. Zuerst wollte ich es einfach nicht. Nicht sehen, nicht riechen, nicht schmecken. Dann hatte ich keinen Hunger mehr. Nie. Und ja, dann wurde mir von dem Anblick allein schon schlecht. Krass, was das alles ausmacht, oder?

Aber es geht langsam bergauf. Wenn nichts mehr ging, aber die Schule musste laufen!Doofe Prüfungsphase, viele Vorträge, "Zwangsernährung" streng kontrolliert. Erschreckend dass man selbst nicht merkt, wie man abrutscht und man Warnungen einfach nicht hören will. Doch insgeheim war das vielleicht auch mein Hilferuf. Einmal nicht allein sein. Negative Aufmerksamkeit ist total bescheuert, ich weiß. Aber irgendwie besser als gar keine.

Aber nur Zuhause. Ich steh nicht gern im Mittelpunkt, noch nie. Schön meinen einstudierten Satz bei behalten. "Hey, wie geht's dir?" - "Mir geht's auch gut." Macht doch jeder irgendwie, auch wenn es nicht so ist. Und ich will sein, wie jede andere in meinem Alter. Doch das bin ich nicht, vielleicht auch gut so. Ich setz mich in die Klasse und es geht um Nägel, Tattoos, Frisuren, die neusten Schuhe... und natürlich auch um Typen. Bei mir nicht, das auch noch nie.

Ich hoffe ich hab dich heute nicht gelangweilt, bin etwas vom eigentlichen Thema abgekommen.. aber ich hatte dir halt auch ne Menge zu erzählen.

Bei dir hoffe ich wirklich, dass es dir gut geht. Schönen Abend dir noch!

Deine immer starke Jule!

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Jule,

du hast leider deutlich länger als bisher auf meine Antwort warten müssen. Das hatte den Grund, dass es im Kummerkasten technische Erneuerungen gab, die einige Zeit in Anspruch nahmen und derentwegen ich auf die Zuschriften nicht zugreifen konnte.

Ich beginne mit einem Satz von dir:

"Ich konnte einfach nicht früher schreiben. War mir selbst jetzt nicht sicher, aber ich hatte das Gefühl, es hat dich gefreut etwas von mir zu hören. Leider jetzt mit einer unerwünschten Nachricht. Tut mir leid."

Dir muss gar nichts leid tun, Jule. Und deine Nachricht ist auch nicht "unerwünscht".

Was den Inhalt betrifft: Ich bin hier, um Menschen zuzuhören und, wenn ich kann, öffentlich darüber nachzudenken - in der Hoffnung, dass es ihnen etwas hilft. Dir hat es anscheinend geholfen, zumindest ein bisschen, und das freut mich. Es stimmt, dass ich die Hoffnung hatte, du würdest dich entscheiden, das Kind zu behalten. Aber dass du es nicht getan hast, ist etwas, das ich überhaupt nicht bewerten möchte. Es steht mir auch nicht zu. Nur wenige Menschen können nachempfinden, wie es dir jetzt geht - ich gehöre mit Sicherheit nicht dazu. Die Welt ist aus den Fugen, aber sie dreht sich weiter. Es gilt, am Leben zu bleiben. Und du lebst. Das ist gut. Darauf kannst du aufbauen.

Wie du richtig sagst: Du wirst die Erinnerung nicht beseitigen können. Du wirst es auch nicht schaffen, dir einzureden, dass "das alles schon richtig" gewesen wäre. Es war weder richtig noch falsch. Es war deine Entscheidung. Was auch immer dich im Einzelnen dazu bewogen hat, kann nie eine Garantie dafür sein, dass es dir gelingt, es vor dir selbst zu rechtfertigen. Das wissen die Leute, die du kritisiert hast (und das tust du zu Recht), sehr genau. Aber sie tun sich wohl schwer, einzugestehen, was wir im Grunde alle wissen: Es gibt kein besser oder schlechter, in dieser Sache nicht. Es ist durchaus verständlich, dass es dir über diese Unsicherheit hinweghilft (wenigstens ein kleines bisschen), erstmal schonungslos zu moralisieren und deine Entscheidung zu hinterfragen. Jule: Wir alle stecken nicht in deiner Haut. Niemandem von uns steht es zu, dir Vorschriften zu machen. Wenn wir es doch tun, geschieht es aus Hilflosigkeit.

Wenn du von mir einen Rat möchtest, ist es dieser: Denk jetzt nicht, du müsstest stark sein. Lass dir aber auch von den Moralisten nicht einreden, was du getan hättest, sei unverzeihlich. Wenn du durch die Tage gehst, Jule, dann lasse das zu, was sich für dich am richtigsten anfühlt - Schmerz, Härte oder Wut, was es auch sei, es bindet dich ans Leben, solange es aus dir selbst kommt. Auch Lebensmüdigkeit kann manchmal, für eine gewisse Zeit, heilsam sein. Denn sie beweist uns ja, dass wir in Wirklichkeit am Leben hängen; wir betrauern, was es (unserer Meinung nach) sein sollte, aber nicht geworden ist.

Und was du erlebt hast, wird dich nie mehr verlassen. Ich denke, darüber ist sich jeder im Klaren, der halbwegs realistisch denkt. Es wird immer ein Teil von dir bleiben. Und wenn du das Bedürfnis hast, zu trauern, gegen dich selbst zu wüten - solange du dich nicht aus dem Leben verabschiedest, lass es zu. Es holt dich sonst irgendwann ein. Und vermutlich wird es immer wieder kommen. So realistisch sollten wir sein. Aber es ist möglich, damit zu leben - und darum allein kann es gehen. In dem Tempo, das du möchtest. Auf deine Art und Weise.

Als ich dich bat, das Kind zu behalten, habe ich das getan, weil ich dachte, dass du es hättest schaffen können. Aber dass du dich anders entschieden hast, bedeutet deswegen nicht, dass du etwas hättest tun "sollen". Ich wollte dir keine Vorschriften machen; es beruhigt mich, wenn du sie nicht als Vorschriften verstanden hast, sondern als die Bitten, als die sie gedacht waren. Es ist zwar - das gebe ich zu - gerade kein schönes Gefühl. Aber was bedeutet mein Unwohlsein im Vergleich zu dem, was du in diesem Moment durchlebst? Mach dir keine Sorgen um mich, Jule. Ich komme zurecht. Wichtig ist allein, dass DU nicht deinen Lebenswillen verlierst. Das Beste, was du jetzt erreichen kannst (und vielleicht dauert das noch Jahre), ist, zu einer Bewertung des Ganzen zu kommen, die für DICH stimmig und richtig erscheint. Du allein bist der Maßstab. Du musst dich in der Lage sehen, damit zu leben, darauf kommt es an. Ich und alle Anderen, wir zählen nicht. Wir können nicht wissen, wie es ist. Deswegen gibt es auch keinen Königsweg.

Für dich muss, sei es morgen oder in vielen Jahren, ein Bild entstehen, das dir ermöglicht, damit umzugehen. Wie dieses Bild beschaffen sein sollte, womit du am besten leben kannst, bestimmst nur du, kannst nur du in dir selbst finden. Wenn du irgendwann sagst "Es war falsch, das Baby nicht zu behalten", um es trauerst und dich letztlich entschließt, für die Menschen weiterzuleben, die du liebst, und sie mit Liebe zu segnen, dann ist das gut. Es ist aber genauso okay, wenn du irgendwann befindest "Es war der sicherere Weg, es nicht zu behalten. Ich habe mir mein Leben aufgebaut und kann vieles tun, was ich in einem anderen Leben nicht hätte tun können." Auch das ist okay. Du bist auf dem Weg, Jule. Dieser Weg ist nie ganz zuende. Aber wenn langsam etwas in dir entsteht, das Klarheit bedeutet, in welche Richtung auch immer - dann ist das das Beste, was wir uns jetzt erhoffen können.

Es ist nur zu verständlich, dass du dir schwer tust, den Eingriff nachzubereiten. In gewisser Weise mag es einfacher sein, sich über die Frage den Kopf zu zerbrechen "Was wäre gewesen, wenn...?" beziehungsweise "Hätte ich...?", als sich ganz konkret deinem Körper zu widmen, mit dem etwas Dramatisches vor sich gegangen ist. Trotzdem möchte ich dich bitten - falls du es jetzt noch immer nicht getan hast - dringend zur Nachuntersuchung zu gehen. Es ist für niemanden etwas gewonnen, wenn, je mehr Zeit vergeht, deine Hemmung immer größer wird und du irgendwann zusätzlich in der Angst lebst, dass der Eingriff gesundheitliche Spätfolgen haben könnte. Was geschehen ist, ist geschehen. Da es kein Zurück gibt, ist es wichtig, das, was vor dir liegt und nötig ansteht, nicht zurückzuweisen. Ich denke, ich kann verstehen, warum es dir schwer fällt. Aber ich habe auch das Gefühl, dass sich hier vielleicht etwas andeutet, das zu einer Gefahr werden könnte: Wenn du es zwar schaffst, das, was geschehen ist, vor dir selbst zu rechtfertigen - was eine große Leistung ist -, andererseits aber gleichgültig gegenüber deinem Körper wirst, dann ist dein Geist stabilisiert, aber du schwindest trotzdem dahin. Dann hat es auch keinen Sinn mehr, sich gegen die Schuldgefühle zu stemmen. Wenn dein Körper und Geist sich voneinander lösen und sich ignorieren, statt füreinander zu arbeiten, bist du früher oder später nicht mehr in der Lage, der inneren Leere standzuhalten. Dann sinkst du herab in die Dunkelheit, beginnst dich selbst zu hassen und zu verzweifeln, und von diesem Punkt wieder wegzukommen, ist sehr schwer.

Natürlich hat es durchaus sein Gutes und seine Berechtigung, die Schuldgefühle auch zuzulassen. Ich selbst rate dir ja dazu. Aber das, wovon wir hier reden, ist keine Trennung von einem langjährigen Partner, auch nicht der Tod eines geliebten Menschen, der in hohem Alter stirbt; es ist etwas Drittes, das sich nicht so leicht einordnen lässt. Normalerweise würde man nach einem erlittenen Verlust sagen, gut, es kommt die Trauer, es kommt die Wut, und irgendwann die Akzeptanz. So wird es bei dir aber nicht sein. Es wird immer ein Teil von dir sein. Und deswegen ist es wichtig, dass du ihn zwar nicht wegschließt, aber auch einen Weg findest, damit zu leben. Denn du sollst und darfst fröhlich leben, deinen Weg gehen. Versuche, immer im Hinterkopf zu behalten: Das "Weiter" ist das Ziel, das Leben zu gestalten.

Grundsätzlich kann es nur dir überlassen sein, welche Bewertung deines Handelns du irgendwann triffst und daran festhältst. Das Wichtigste aber scheint mir, dass du dich erinnerst, dass es auch noch andere Dinge gibt - deine ursprünglichen Ziele, das, was du wolltest und verfolgt hast, ehe deine Schwangerschaft diese Pläne auf den Prüfstand brachte. Du kannst das alles jetzt immer noch erreichen - und noch wichtiger, es ist richtig und gut, das auch zu wollen und danach zu streben. Ob es nun um den Wunsch nach einer Familie geht, um deine beruflichen oder ganz persönlichen Ziele: Das Verkehrteste wäre, sie jetzt fallen zu lassen, weil du denkst, die Welt ist gewandelt, es geht nicht mehr. Doch! Gerade jetzt ist eine große Portion Ehrgeiz und Lebenswillen das Beste, was du gebrauchen kannst.

Lass dich nicht irre machen von Leuten, die in dir ab jetzt nur noch die Abtreibung sehen wollen. Sie wird immer da sein, aber das bedeutet nicht, dass sonst nichts Platz hat. Ansonsten könnte man auch gleich aus dem Leben scheiden. Das war aber von Anfang an nicht das Ziel. Und deshalb ist es auch gut, wenn du Hilfe annehmen kannst - auch wenn dazu Druck notwendig ist. Du hast damit recht, dass kaum jemand wirklich verstehen kann, was in dir passiert. Aber das, was sie alle "nur gut meinen", mag mitunter trotzdem ein geeignetes Mittel sein, um nicht vom Pfad abzukommen. Wenigstens fürs Erste. Setze dich daher mit dem Gedanken auseinander, dass eine Therapie und eine Unterstützung deiner Ernährung - zumindest von der Idee her - nicht falsch sind, sondern dass du sie nutzen kannst, um dir selbst wieder Leben einzuhauchen. Wenn du sie hingegen zurückweist, dann - und auch da hast du wiederum recht - kann man es auch lassen. Es ist das alles nur dann zu deinem Nutzen, wenn du auch tatsächlich davon profitieren willst. Wenn dir der Wille fehlt, macht es alles eher komplizierter. Jede medizinische und therapeutische Unterstützung kann nur das aktivieren, was in dir selbst ist oder in dir entsteht. Von außen kann niemand dir etwas zuführen, was dir hilft, sei es ein Medikament, eine Methode oder ein Gedanke. Alles, was wirklich hilfreich ist, kommt aus dir selber, die äußeren Dinge können bloß Impulse dazu sein. Du musst selbst entscheiden, ob du sie annehmen möchtest. Ein Fehler ist es meistens nicht.

Wenn viele Leute in deinem Umfeld mit deinem Schritt nicht umgehen können, dann zeigt das erst einmal, dass sie hilflos sind - wie ich sagte. Sie kommen nicht damit zurecht, dass du etwas getan hast, was wohl die meisten Menschen spontan als unmoralisch ansehen (wenn es nicht gerade um eine Vergewaltigung oder Ähnliches geht) - schließlich ist ein menschliches Leben beendet worden. Ich selbst habe schon so manche Stunde darüber nachgegrübelt, wie ich mich dazu verhalten soll - mit dir zu schreiben, hat dieses Nachdenken noch einmal angeregt. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass es wichtig ist, einer jeden Frau, die in einer Situation ist wie du es warst, Unterstützung anzubieten und sie zu ermutigen. Die endgültige Entscheidung - und so sagt es, meine ich, in diesem Land auch das Gesetz - kann aber nur von der werdenden Mutter ausgehen. Nur dann, wenn sie zustimmt, ist das, was passiert, recht. Und das, was sie befindet, ist recht. Daran habe ich mich halten wollen, und ich hoffe, dass mir das gelungen ist.

Deine Entscheidung, Jule, hast du zwar allein getroffen - aber doch gab es eine ganze Reihe von Menschen und Begebenheiten, die dich dabei eingeschränkt haben: Die spontane Reaktion deiner Mutter. Der Streit in deiner Familie. Der Konflikt mit deinem Freund. Die Angst um deine Ausbildung. All das sind Dinge, die in einer perfekten Gesellschaft nicht gegeben wären. Vielleicht hätte eine Jule, deren Leben im Ganzen einfacher wäre, sich anders entschieden. Aber so war es nicht; und wem ist jetzt genützt, daraus einen Vorwurf zu stricken? Damit helfen sich viele nur über ihre eigene Unsicherheit hinweg. Es ist nicht wahrscheinlich, dass jemand, der behauptet, in einer Extremsituation, die er nie durchlitten hat, völlig souverän zu handeln, das dann auch wirklich tun würde. Leider wirst du ihnen das nie vermitteln können. Und vielleicht kann es uns auch beruhigen, dass es so viele Menschen gibt, die spontan ausrufen "Aber nie im Leben würde ich...!" Vielleicht würden sie anders reden, wenn sie selbst in deiner Lage gewesen wären. Sollte es aber anders sein - dann lassen wir ihnen doch ihre Naivität über das, was das Leben mit Menschen machen kann. Und seien wir froh, dass so viele Leute in unserer Zeit offenbar ein so glückliches Leben führen, dass ein unerwartetes Kind darin jederzeit Platz hätte. Das ist doch hoffnungsvoll, oder nicht? Auch wenn es für dich schmerzlich ist, Menschen zu verlieren, die du als Freunde angesehen hast: In solchen Situation entscheidet es sich, was wirkliche Freunde sind. Niemand von ihnen muss fühlen, was du fühlst. Und niemand kann mir erzählen, dass irgendjemand das, was du nun durchgezogen hast, gerne auf sich nimmt. Trotzdem kannst du diese Menschen nicht halten, daher lass sie sein, wie sie sind. Du kannst dir die Größe leisten, die sie sich dir gegenüber nicht erlauben wollen.

Ich danke dir für dein großes Vertrauen und deine Offenheit. Du kannst dich gerne immer wieder bei mir melden - oder generell hier im Kuka -, wenn du das möchtest. Vor allem aber wünsche ich dir viele positive Momente mit dir selbst, viel Einkehr und viele schöne Gedanken an das Leben, das vor dir liegt. Die Vergangenheit nehmen wir überallhin mit, wohin wir auch gehen - für dich gilt das ganz besonders. Es heißt jedoch nicht, dass man nicht mehr froh sein darf. Und dass du dir das erlauben kannst, liebe Jule, wünsche ich dir am allermeisten.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul