Problem von Christian - 28 Jahre

Frustrationstoleranz wird immer geringer

Hallo an euch,
vorweg - ich finde eure Seite wirklich großartig. Bisher habe ich noch nie über meine Gefühle in dieser Art geschrieben - dadurch könnte es vielleicht etwas undurchsichtig werden.
Mein Problem ist, dass ich seit einiger Zeit immer größere Ungeduld und Frustration mit mir herumtrage. Wenn bei mir der Punkt erreicht ist, dass ich die Sachen nicht mehr runterschlucken kann - dann werde ich wie zu einer anderen Person.
Ich werde unfair, kaltherzig und enorm egoistisch – stoße alle Menschen von mir - so sehr, dass ich mich selbst davor erschrecke. Ich werde nie gewalttätig - zumindest nicht physisch aber psychisch kann ich schon ziemlich ekelhaft werden.
Ich habe in solchen Momenten schon Leute vor den Kopf gestoßen, die mir eigentlich sehr wichtig waren - ich wohne über 150km von meiner Familie entfernt. Eines Tages kam mein Bruder, um mir beim Renovieren zu helfen - ich hatte vorher eine ziemlich anstrengende Woche und war schon ziemlich angespannt. Im Baumarkt gab es nicht die Farbe, die ich wollte und beim Möbelhaus nicht die Möbel, die ich wollte - also eigentlich Kleinigkeiten aber als dann mein Bruder (im Guten) mir sagte, dass es nicht so schlimm wäre und ich ein Kompromiss machen könnte bin ich geplatzt. Ich weiß noch genau, was ich damals gedacht habe "Beruf geht mir schon auf den Keks und jetzt im Privatleben noch faule Kompromisse - NEIN, dann bleibt es eben".
Ich habe alles stehen und liegen gelassen, mitten im Laden, und habe die ganze Sache abgebrochen und meinen Bruder nach Hause geschickt, am gleichen Tag und ohne ihn mal mit nach Hause zu nehmen. Wir haben uns mittlerweile wieder vertragen aber 1. tut es mir immer noch leid und 2. spüre ich diese Gefühle immer noch und ich würde es wohl wieder tun. Es gibt noch genug andere Beispiel, das größte wäre wohl ein von mir abgebrochener Urlaub – damals gab es Probleme mit überbuchten Flügen und man wollte mich einen Tag später mitnehmen … nachdem mir das Hotel mit den Zimmerpreisen (hätte es erst einen Tag später gebraucht) nicht entgegen kommen wollte bin ich wütend nachhause und habe den ganzen Urlaub abgebrochen.
Ich bin eine ziemlich gemischte Persönlichkeit - auf der einen Seite bin ich sehr introvertiert während ich bei Hobbys ziemlich extrovertiert sein kann. Diese Probleme hatte ich schon während meiner Ausbildung und der danach folgenden Fortbildung, aber seitdem ich vor 3 Jahren meine Stelle angetreten habe, bin ich teilweise ungenießbar.
Ich sitze mit 2 anderen Kollegen in einem Büro, was eigentlich sehr angenehm ist, wäre da nicht der Fall, dass alle meine Kollegen und auch die Chefs extrovertiert sind und ich teilweise die Versuche meiner Kollegen ununterbrochen zu reden, nur mit Kopfhören ausweichen kann. Das dieses Verhalten unhöflich ist, ist mir bewusst -aber ich wüsste sonst nicht, wie ich mit meinen Kollegen reden würde - wahrscheinlich würde Mr.Hyde sich ans Tageslicht kämpfen, um den nervigen Smalltalk zu beenden. Mir ist schon bewusst, dass es nicht das super aufregende Leben wie in Filmen oder Serien gibt, aber dass ein Erwachsenenleben so langweilig sein kann, hätte ich doch nicht gedacht. Ich bin einfach von dieser extremen Routine im Beruf erschlagen worden. Seitdem wir neue Führungskräfte bekommen haben, haben wir keine Mitspracherechte mehr - was meinen Kollegen gefällt, da sie so keine Verantwortung mehr übernehmen müssen, nach Plan 8 Stunden abreißen können und dann war es das. aber mich macht dieser Tagesrythmus fertig - 07 Uhr aus dem Haus und um 18:00 Uhr wieder zu Hause. Andere würden sich einen so gut wie unkündbaren Job wünschen - ich vermisse dabei aber jeden Nervenkitzel. Wäre ich in Nordamerika geboren, wäre ich wohl ein extremer Jobhopper aber ich werde schon merkwürdig angesehen, da ich in 6 Jahren zwei Arbeitgeber hatte. Ein großes Problem ist hier für mich, dass ein Branchenwechsel auf Grund der recht spezifischen Ausbildung schwer ist. Selbst mit einer Weiterbildung neben dem Beruf (aufhören und zur Schule oder Universität gehen kann ich mir nicht leisten) würde auch 3-5 Jahre dauern und auch nur wenn alles in der Regelzeit abläuft. Ganz ehrlich weiß ich nicht, ob ich das so lang aushalten werde.
Hobbys gehe ich vor allem an Freitagen und Wochenenden nach - mehr ist für mich einfach nicht machbar. Abends ausgehen? Ins Kino? Partnerin kennenlernen – beim Tanzen oder in der Bar? Schaffe ich einfach nicht. Ich glaube die letzte sich zart entwickelnde Freundschaft/Partnerschaft ist schon gute 5 Jahre her – vielleicht sogar länger – ich habe es damals schon nicht geschafft mich nach Arbeit noch auf eine andere Person einzulassen. Nach einen heftigen Streit, aus irgendeinen unwichtigen Grund, wie man den Abend verbringen wollte, habe ich damals einfach Verbindungen gekappt. Nach einen so langen Tag mit extrem extrovertierten sind meine Akkus auf 0 und ich muss mich für den nächsten Tag regenerieren - manchmal musste ich auch schon einfach mal einen Tag zu Hause bleiben - ich bin nicht stolz drauf – aber der Gedanke wieder den ganzen Tag die gleiche stumpfsinnige Arbeit machen zu müssen, hat schon extreme Migräne ausgelöst.
Ich erwarte jetzt auch keine Lösung von euch – ich wollte es einfach mal runterschreiben

Nuala Anwort von Nuala

Lieber Christian!

gut, dass du alles aufgeschrieben hast. Vielleicht hat dir das selbst schon ein paar neue Erkenntnise geliefert.

Sorgen, Konflikte und sonstige Unstimmigkeiten zwischen dir und deiner Umwelt solltest du nicht herunterschlucken, sondern möglichst rasch ansprechen und dich um Klärung bzw. Veränderung der Umstände bemühen. Manchmal reicht da schon ein Wink mit dem Zaunpfahl oder auch Gedanken im Kopf neu zu strukturieren. Probleme mit sich selbst auszumachen kann in bestimmten Fällen in Ordnung sein, sollte aber nicht als generelle Strategie verwendet werden, weil der ganze Müll und Ballast in deinem Inneren bleibt und dann irgendwann eben wieder hochkommt. Oft dann eben besonders heftig, was ganz am Anfang meistens noch harmloser war.

Ich lese deine Zuschrift so, dass du nun in einer besonderen Lebensphase steckst, in der sich Veränderungen anbahnen und umgesetzt werden wollen. Dabei glaube ich nicht, dass du so viele "Schwächen" oder gar ein Frustrations - bzw. Aggressionsproblem hast. Vielmehr klingt es für mich so, als ob du auf deine verschiedenen Persönlichkeitsanteile hören und ihnen entsprechend deiner Bedürfnisse Raum zur Entfaltung geben solltest. Es scheint förmlich aus dir "herauszubrechen" und endlich wahrgenommen werden zu wollen. Ist das die Ungeduld deiner Seele, die sich als niedrige Frustrationstoleranz und Wut zeigt...?

Folgende Spannungsfelder sehe ich anhand deiner Beschreibung:
Anspruch - Realität
Introversion - Extraversion
Aktivität - Erschöpfung/Ruhe
Nähe - Abstand
Perfektion - Kompromiss
Rationalität - Emotionalität
Herausforderung - Routine

Wahrscheinlich ist es gerade an der Zeit, diese oft widerstreitenden Pole in Einklang miteinander zu bringen, mehr Balance zu finden. Einfaches Beispiel: Die Arbeitsbedingungen so wählen, dass du am Abend nicht total erschöpft nach Hause kommst, weil du von den Randbedingungen deiner Arbeit dermaßen erschlagen wirst.
Außerdem geht es vermutlich bei dir auch mehr oder weniger bewusst um die Verwirklichung von Plänen im beruflichen und privaten Bereich.

Ein Phänomen, was bei dir eventuell vorliegen könnte, ist Hochsensitivität (Hochsensibilität). Das bedeutet, dass Reize ungefilterter aufgenommen, tiefer verarbeitet und dadurch viel intensiver wirken als bei nicht-hochsensitiven Menschen. So kann z.B. eine Geräuschkulisse im Büro, so wie du sie beschreibst, viel belastender sein als für diejenigen, die das einfach ausblenden können. Zu meiner Vermutung gehört auch, dass du Smalltalk als nervig empfindest und dir durchaus viele Gedanken über deine Gefühle und dein Verhalten zu machen scheinst. Beides kommt bei hochsensiblen Personen sehr häufig vor. -
Darüber hinaus gibt es in deiner Beschreibung auch einige Punkte, die auf High Sensation Seeking hindeuten: Du bist von Routine gelangweilt, willst Abwechslung, Anspruch. Das scheint erstmal nicht zusammenzupassen, doch beide Bestrebungen schließen sich nicht aus!
Falls eines der beiden Phänomene oder beides auf dich zutrifft/treffen, würde es mich in keiner Weise wundern, dass du in dieser Jobsituation nicht zufrieden bist! Dann ist da definitiv eine Veränderung auf ganzer Linie angesagt. Natürlich wäre das eine besondere Herausforderung, einerseits störende Reize möglichst fernzuhalten, andererseits gezielt für die "guten" Reize zu sorgen...
Ich habe dir zwei Links zu unterschiedlichen Internetseiten herausgesucht, auf denen es jeweils um den Zusammenhang von Hochsensibilität, Scanner Persönlichkeit und High Sensation Seekern geht. Dort ist unten ein kleiner Selbsttest, der dich darauf hinweisen kann, ob du vielleicht auch hochsensibel und/oder High Sensation Seeker bist.
- https://www.eliane-reichardt.de/themen/sonderfall-hss/
- https://open-mind-akademie.de/der-high-sensation-seeker/
Neben den verlinkten Internetseiten gibt es mittlerweile einige sehr gute Bücher zu diesen Themen, wobei es in erster Linie um die Hochsensitivität geht. Einige Bücher sind durchaus für alle Menschen spannend, weil es teilweise um Übungen und Strategien mit Reizüberflutung, Abgrenzung und Erkennen des eigenen Potenzials geht. Elaine Aaron ist da z.B. als Autorin und Forscherin zu nennen.

Ich kann nur betonen, wie wichtig es ist, das eigene Wesen zu beleuchten, um sich besser zu verstehen und dadurch zu einem glücklicheren Leben zu gelangen. Denn Entspannung und gleichzeitig hohe Anforderungen sind beispielsweise kein direkter Widerspruch, wenn sie geschickt entsprechend der persönlichen Bedürfnisse aufeinander abgestimmt und in den Alltag integriert werden.

Wenn du Lust hast, kannst du dir zusätzlich eine psychologische Beratung (Coaching) gönnen - da geht es unter anderem klassischerweise um die oben genannten Spannungsfelder und allgemein um Lebensbewältigung mit spezifischen Herausforderungen.

So, und nun wünsche ich dir viel Spaß beim weiteren Entdecken deiner Persönlichkeit :)

Alles Liebe,
Nuala