Problem von Nele - 20 Jahre

Ich kann nicht mehr

Hallo.
Ich bin 20 Jahre Alt, schwer depressiv, sozial phobisch und frisch arbeitslos.
Frisch Arbeitlos, weil ich erst seit 2 Wochen nicht mehr Vollzeit arbeite (nur noch 6 Stunden die Woche). In der ersten Woche war das Fantastisch. Ich hab meine Arbeit abgrundtief gehasst, aber wenigstens hatte ich etwas zutun und konnte mich von meinen Gedanken ablenken. Jetzt hab ich den ganzen Tag für mich. Ab August hol ich mein Abitur nach. Deswegen hab ich mir auch keinen neuen Job gesucht.
Seit circa einer Woche geht es mir immer schlechter. Ich hatte schon vorher immer wieder schlechte Phasen, aber nicht so schlimm wie jetzt. Es ist so als hätte es meinen letzten stationären Aufenhalt (Dezember bis diesen Februar) gar nicht gegeben. Trotz Medikamenten schlaf ich nicht. Ich bin nur Müde und hab ständig Panikattacken. An meinen guten schlechten Tagen möchte ich in die USA abhauen und Straßenmusik machen. Hauptsache raus aus diesem Leben und mit dem was mir Spaß macht Geld verdienen. Selbst wenn ich dann auf der Straße sitze ist das immernoch besser als alles was mich in diesem "Leben" noch erwartert. An meinen richtig schlechten Tagen möchte ich endlich sterben. Dabei dachte ich, dass ich die Suizidgedanken endlich überwunden hätte. Ich hab in letzter Zeit öfters viel Alkohol getrunken und dazu einfach alle möglichen Medikamente, die ich da hab, durcheinander genommen. Dadurch wirkt alles wenigstens etwas erträglicher. Ritzen möchte ich mich nicht mehr. Zumindestens solange Sommer ist. Das letzte mal ist immerhin "schon" 4 Tage her.
Vermutlich sollte ich eigentlich wieder in eine Klinik, aber ich möchte mir meine Zukunft dadurch nicht schon wieder verbauen. Damit meine ich die geregelte, langweilige, eigentlich nicht lebenswerte Zukunft. Die, die ich für andere Leben werde. In meiner Gruppentherapie trau ich mich nicht meine Gedanken so genau auszusprechen. Meine Einzeltherapeutin ist grade im Urlaub.
Mir ist grade alles zu viel.
LG

Nuala Anwort von Nuala

Liebe Nele,

wie gut, dass du deine aktuelle Situation mit uns teilst! Ich hoffe, das Schreiben hat dir schon etwas Erleichterung geschafft.
Doch falls du das jetzt liest und es dir immer noch so miserabel geht, lass dich bitte direkt stationär einweisen! Besonders wenn die Suizidgedanken wieder präsent sind, ist das ein ernstes Alarmzeichen und
dann besteht genau jetzt Handlungsbedarf! Dann ist es auch erst mal egal, ob du dort in Gruppentherapien gehst oder nicht, solange du eng von Ärzt:innen und Therapeut:innen betreut wirst (und Einzelgespräche erhältst)!
Deine berufliche Zukunft ist dabei übrigens wirklich nebensächlich. Was ist denn gewonnen, nicht in eine Klinik zu gehen, wenn du dann in den Abivorbereitungen oder danach völlig zusammenbrichst, weil wichtige Themen aus deinem Leben nicht genügend beachtet und bearbeitet wurden und sich dann alles mit aller Gewalt seine Bahn bricht?!
Es ist sicherlich ein guter Vorsatz, dich nicht mehr zu ritzen, doch geht es trotz allem um das viel tiefer Liegende. Daher ist es so essentiell, in kompetenter Behandlung zu sein und umfassend Strategien zu erlernen, Druck, seelischen Schmerz etc. konstruktiv zu begegnen. Also: Wenn du dich dann doch ritzt, ist das eben so. Auf Dauer sollte es dann weniger werden und irgendwann hoffentlich nicht mehr als Ventil fungieren, weil du andere Wege gefunden hast. Schlimmer als Ritzen in einem Moment ist es in meinen Augen, wenn dir eine gute Unterstützung versagt bleibt.

Für den Fall, dass es dir etwas besser geht (bzw. für die spätere Zukunft), habe ich ein paar generelle Gedanken, die dir eventuell helfen können.

- Zu deiner therapeutischen Situation:
* Ich weiß von anderen Leuten in Therapie, dass es eine schwere Zeit sein kann, wenn sie dringend mit der:dem Therapeut:in sprechen müssten, doch diese:r zwei Wochen oder länger nicht zu erreichen ist. Ich hoffe deswegen, dass ihr gemeinsam in der letzten Sitzung darüber geredet habt, wie du damit umgehen kannst. Es kann ja Vereinbarungen für den Notfall geben (nur als Hinweis für die Zukunft und du gerade merkst, dass du eine solche Absicherung gebraucht hättest...).
* Womöglich ist deine Therapeutin wieder aus dem Urlaub zurück. Dann ist der nächste Termin mit ihr sehr entscheidend, denn ihr müsst besprechen, was konkret zu tun ist, um deinem "psychischen Einbruch" angemessen zu begegnen. Die Frage ist für mich zumindest, was dir jetzt am besten helfen kann, wie gut du medikamentös eingestellt bist und ob es nicht noch wesentlichere Dinge zu tun gäbe, als auf die Medikation zu bauen.
* Sofern es absehbar ist, dass deine absolute Tief - Phase nur vorübergehend ist, würde ich mich an deiner Stelle sehr auf die Arbeit in der Therapie konzentrieren bzw. die Arbeit an und mit dir selbst. Kliniken sind gut, wenn es akut ist oder chronisch besser aufzufangen ist, doch gerade die Einzelgespräche, die viele so dringend benötigen, können nicht immer gewährleistet werden. Daher finde ich es an sich wirklich toll, dass du bereits einen Therapieplatz sicher hast. Ich hoffe, du hast schon Vertrauen zu deiner Therapeutin aufbauen können, weil das, wie du sicher weißt, die grundlegende Voraussetzung für den Erfolg darstellt.
* Ganz wesentlich ist es, dass du in den Sitzungen konkret äußerst, was du dir vorstellst, was deine Bedürfnisse sind und woran du an einem Tag/einer Woche etc. arbeiten möchtest. Nicht passiv mitmachen, sondern einbringen, was in dir vorgeht und auch mal Stopp sagen, wenn es nicht so geht (also nicht nur das Inhaltliche der Therapie mitgestalten, sondern auch auf der übergeordneten Ebene - z.B.: Was soll die Sitzung einläuten, damit ich mich gut auf alles Weitere konzentrieren und mich wohl fühlen kann? Wie möchte ich mit Thema X verfahren? Welche Vorgehensweise ist mir zu fremd, um sie annehmen zu können? Was erleichtert mir den Zugang zu meinen Gefühlen? Was soll die Therapeutin stärker berücksichtigen? usw.). Allgemein geht es darum, dass sowohl dir als auch deiner Therapeutin deine jeweiligen Bedürfnisse bekannt sein sollten, sofern du sie spüren kannst. Das erleichtert das gemeinsame Arbeiten, ist ehrlich und effektiver, weil sich deine Therapeutin besser auf dich einstellen kann.

- Zur Ausbildung/Arbeit:
* Zunächst ist es gut, dass du die negative Beanspruchung durch deine ungeliebte Arbeit losgeworden bist! Wenn du sowieso schon schwer depressiv warst und dann noch die zusätzliche Last durch eine gehasste Arbeit hinzukommt, ist es für mich einleuchtend, dass du aktuell am Boden bist, dass es zumindest zum Tief beigetragen hat. Vielleicht sind deine letzten Kraftreserven verbraucht, wodurch alle weiteren Negativfaktoren noch schwerer wiegen. Also positiv ausgedrückt: Du hast den Ballast los und kannst dich davon erholen. Außerdem hast du mit dem Abitur eine hoffnungsvolle Perspektive!
Aber: Ich gebe zu bedenken, dass deine psychische und physische Gesundheit Vorrang haben. Solltest du merken, dass du dich gerade nicht im Stande fühlst, dein Abitur nachzuholen, verschiebe dies bitte, um dich nicht zusätzlich zu überfordern und weitere schlechte Gefühle aufzubauen! Misserfolgs - Erlebnisse sind da Gift, das kennst du bestimmt aus eigener Erfahrung.
* Du musst dich nicht in dem Extrem sehen, einen langweiligen Job in einer angepassten Umgebung machen zu müssen! Du selbst bist die Schöpferin deiner Umgebung. Wenn du willst, dass du nicht mit Langeweile und Eintönigkeit konfrontiert bist, hast du das selbst am besten in der Hand! Du kannst zwar nicht alles beliebig gestalten, doch welche Arbeit du wählst, mit welchen Leuten du dich umgibst, welche Einstellungen du lebst - das kannst du sehr wohl bestimmen. Abstriche und Niederlagen wird es dabei immer geben, doch niemand ist gezwungen, völlig auf seine Ideale und Träume zu verzichten!

- Kritik an unserer Welt und Verbitterung:
* Es gibt Menschen, die sind mit der Welt, wie sie besteht, total zufrieden und finden nicht, dass sich da etwas grundsätzlich ändern sollte. Trotz Kriegen, Ausbeutung, Umweltzerstörung und vielen anderen Ungerechtigkeiten. Ich gebe zu, dass ich nicht zu diesen Menschen zähle und es ganz im Gegenteil absolut verstehen kann, wenn man das Elend und die ungleichen Chancen unerträglich findet. Ich weiß aber auch, dass es schon auch eine starke "selbstzerstörerische" Note annehmen kann, sich zu sehr in diese Seite der Außenwelt zu begeben. Zum Einen deswegen, weil dadurch schnell vergessen wird, was es alles an schönen und hoffnungspendenden Dingen gibt. Denn auch wenn die Medien voll von Hiobsbotschaften, Tod und Verderben sind, gibt es genau zur gleichen Zeit viele Projekte, Befunde und Aktionen, bei denen Menschen sich für andere einsetzen, etwas Zukunftsweisendes herausgefunden oder an der Verbesserung bzw. Abschaffung von Missständen arbeiten. Sich das bewusst heraus zu suchen und einen Kontrast zum Grau zu schaffen, ist anfangs ungewohnt, doch das lässt sich durchaus in Routine umwandeln. Im Zweifel lieber die Standardmedien meiden und sich ausgesuchte politische und umweltbezogene Berichte ansehen, die ausgewogener und positiver über Entwicklungen schreiben. -
Zum Anderen wird die Auseinandersetzung mit dem Leid überall schnell zum Selbstläufer: Dann sehen wir überall nur noch die gescheiterten Beziehungen, die Misshandlungen, die Morde. Gleichzeitig ist der Blick auf die große weite Welt fatal, weil es uns schier erschlägt und wir als einfache Menschen uns automatisch ohnmächtig fühlen - und ausgeliefert.
* Um aus dem Gefühl "die ganze Welt ist scheiße" herauszukommen, kannst du versuchen, deinen Frust in Sinnvolles umzuwandeln: Du kannst dich einer konkreten Gruppe anschließen, die für eine Sache kämpft, die dir persönlich sehr wichtig ist. Das schweißt auch schnell zusammen, wenn z.B. Demos gemeinsam besucht, Aktionen geplant und durchgeführt werden. Wie wäre es mit einer beispielsweise mit einer Gruppe, die sich für mehr Akzeptanz psychisch Erkrankter einsetzt?
* Eine weitere Strategie ist, mehr bei dir zu bleiben und mehr im "kleinen Ausschnitt" zu denken. Also: Nicht alles auf der Welt sehen, sondern erst dich und dein direktes Umfeld betrachten. Das ist ja auch das, was dich im Alltag bewegt und wo du am leichtesten Veränderungen erzielen kannst. Es ist nicht zu unterschätzen, dass viele kleine Dinge so viel mehr bewirken können als das "ganz große Ding".
Dazu gehört auch, auf andere Menschen zu achten und offen im Herzen zu bleiben (natürlich in Abhängigkeit von deinen jeweiligen Ressourcen). Es ist leicht zu bewerkstelligen, selbst fremden Personen für einen Augenblick Anteilnahme und Solidarität zu vermitteln. Sei es, einem offensichtlich traurigen schniefenden Menschen fragend ein Taschentuch hinhalten (bei sozialer Phobie kann das eine größere Hürde sein, aber gleichzeitig auch als Übung gelten!). Oder als leichter umsetzbare Sache die Sträucher im Vorgarten gießen, weil sie schon viel zu lange kein Wasser mehr bekommen haben. Auch Nachbarschaftshilfe kann eine Option sein, bei der du nicht gleich so viel interagieren musst. Sei es, Sachen in eine Verschenkekiste in den Hausflur oder auf die Straße zu stellen. Oder sich um etwas kümmern, was allen gehört.
* Noch eine Möglichkeit, sinnvoll bzw. kreativ mit deiner Haltung zur Welt umzugehen, besteht in der Umwandlung deiner Empfindungen in Musik und Songtexte. Auch wenn du Gedichten nicht abgeneigt bist und generell Schreiben. Das ist ein super Ventil.
* Wenn du dich mehr "erden" möchtest, kann ich dir Gärtnern empfehlen. Dazu brauchst du nicht viel. Nicht mal einen eigenen Garten. Du kannst auch auf der Fensterbank Pflanzen ziehen und dich an deren Wachstum und Aussehen erfreuen. Pflanzen sind dankbare Lebewesen, denen du nicht nur deine Gedanken anvertrauen kannst, sondern die bei dir leben, ohne dich zu bedrängen. Das Gärtnern hat zudem den großen Vorteil, dass du etwas Naturnahes machst und deine Sinne angeregt werden. Probier es mal aus! Am besten erdest du dich übrigens, wenn du barfuß auf dem Erdboden bist und dann mit der Erde arbeitest. Dankbare und üppig blühende Sommerpflanzen sind z.B. Ringelblumen, die auch gut in Töpfen wachsen.
* Yoga, Reiki, Meditation etc. sind weitere Möglichkeiten, sich die innere Mitte zu verschaffen und mehr über sich selbst herauszufinden. Ein entsprechender Kurs bringt dich mit anderen Menschen zusammen, was vielleicht noch nicht sofort, doch im Laufe deiner Arbeit an der sozialen Phobie interessant sein könnte. Ansonsten kannst du meditative Techniken auch zuhause ausprobieren.

Nun wünsche ich dir, dass dein Tief nur vorübergehend ist und du dich bald in einem positiven Wandlungsprozess befindest (und vielleicht bist du das schon längst!).

Bitte melde dich wieder, wenn dir danach ist und/oder du uns eine Rückmeldung geben möchtest.

Alles Liebe!
Nuala