Problem von Kim - 17 Jahre

Verlust

hallo,
ich bin echt am ende langsam, meine beste Freundin ist vor etwas mehr als 2 Jahren an Krebs verstorben, ich war die 2 Jahre ihrer Krankheit immer an ihrer Seite, war immer da, egal ob es ihr gut ging oder schlecht, wir haben auch nicht viel gesprochen (auch da sie diese Fähigkeit verloren hatte und nur für ca. 3 Wochen wieder erlernt hat, bevor es dann wieder den Bach runter ging). ich habe sie wirklich über alles geliebt, sie war ein so großer Teil meines Lebens.
Die erste Zeit nach ihrem Tod habe ich fast jede Nacht geweint, ich war sehr schwach und habe mich sogar eine Zeit lang geritzt, was natürlich absolut hirnrissig ist, wie mir heute klar ist. Mit den Jahren hat sich das ganze gebessert, ich hab damit aufgehört und auch nicht mehr oft geweint und auch weniger an sie gedacht. Ich habe jetzt vor ein paar wochen mein Abitur gemacht und habe seit dem ziemlich viel Freizeit und so auch Zeit nachzudenken und auch an sie zu denken.. und seit dem habe ich so eine Art Zusammenbrüche - fast wöchentlich, manchmal öfters, immer abends eigentlich. Im einen Moment gehts mir noch total gut und im nächsten Moment krieg ich einen Heulkrampf, schrei in mein Kissen, will wild um mich schlagen, und atme so unregelmäßig, dass mir schwindlig und schlecht wird. Das dauert dann meistens ein paar Minuten, dann bin ich wieder ganz normal. Das ganze ist echt anstrengend und ich hätte nicht gedacht, dass ich mich jemals an einen kummerkasten oder ähnliches wenden würde aber ich weiß echt nicht ganz was ich dagegen tun soll...

Anna Anwort von Anna

Liebe Kim,

vielen vielen Dank für Dein Vertrauen und Deine Offenheit, Deine Gefühle zu schildern.
Du hast in einem so jungen Alter etwas erlebt, was viele Menschen erst in viel späteren Lebensjahren erleben, manche vielleicht sogar nie. Einem todkranken Menschen beizustehen, mit ihm Ängste und Trauer auszuhalten, für ihn da zu sein, wenn er in seiner Krankheit verzweifelt ist, mit ihm zu reden oder auch einfach nur zu schweigen, ist eine wahnsinnige, tiefprägende Erfahrung und eine enorme menschliche Leistung. Nicht Wenige, die viel mehr Lebensjahre und Lebenserfahrung und Charakterfestigkeit haben, verzweifeln an solchen Aufgaben des Miteinanders. Es ist wirklich etwas ganz ganz Großes, was Du da vollbracht hast und ich bin sicher, Deine Freundin war Dir unendlich dankbar dafür.

In einem Alter wie Deinem muss man eigentlich nicht an den Tod denken. Meist wird man nicht mal mit ihm konfrontiert und wenn, dann ist er sorgsam in Krankenhäuser verlagert, wo man den dem Tode nahen Verwandten vielleicht ab und zu besucht. Doch Krebs ist eine Krankheit mitten im Leben, die nicht einfach ins Krankenhaus verlagert werden kann, die der Betroffene in seinem Alltag jeden Tag aufs Neue bewältigen muss, meist viele Jahre und die ständig von Hoffnung und Enttäuschung begleitet ist. Für den Betroffenen und für die Angehörigen.
In einem Alter wie Deinem geht es eigentlich nur darum, was man nun aus seinem Leben machen will. Alles ist bestimmt von der positiven Kraft des Anfangs, von Ideen und Hoffnungen, Projekten und Zielen. Wird man in so einem jungen Alter damit konfrontiert, wie ein Mensch, der einem nahesteht, an einer qualvollen Krankheit sterben muss, scheint es sehr schwer zu sein, noch nach vorne zu schauen und von "der positiven Kraft des Anfangs" getrieben zu werden. Ich nehme an, dass Deine Freundin selbst noch sehr jung war, als sie sterben musste. Eine Erfahrung, die mitzuerleben, sehr sehr prägend ist, da man ja selbst hätte betroffen sein können; in einem Alter, in dem man doch eigentlich nur an das Leben selber denken will, nicht an den eigenen Tod. Wie muss Dich diese Erfahrung in Deinem Leben gebremst haben, in dem Gefühl, unsterblich zu sein, quasi. Ich meine, natürlich weiß man, dass man irgendwann stirbt, aber das ist einem ja nie präsent. Und das soll ja auch so sein, weil man doch jung ist und doch eigentlich noch alles vor sich hat. Und trotzdem hast Du unter diesen starken seelischen Belastungen Dein Abitur geschafft. Eine enorme Leistung! Das Abitur ist ja schon arbeitsreich genug, unter diesen Umständen hätten es viele Schüler nicht geschafft.
Dass Du in den letzten zwei Jahren nicht so sehr unter ihrem Tod gelitten hast wie jetzt, mag zwei Gründe haben. Zum Einen ist es oft so, dass so gewaltige Erfahrungen wie der Verlust eines nahestehenden Menschen, einen so tief erschüttern, dass man das im ersten Moment gar nicht in der ganzen Intensität spüren kann. Unser Gehirn ist Weltmeister im Verdrängen und je schlimmer und größer das ist, was verdrängt werden muss um täglich ganz gut leben zu können, desto heftiger kommt es später wieder. Trauer hat viele Phasen, die Verdrängung gehört sicher auch dazu, und sie kann sich über viele Jahre ziehen.
Zum Anderen hast Du, wie gesagt, Dein Abitur gemacht, was Deine ganze Konzentration und Anstrengung erfordert hat. Je beschäftigter man ist, desto weniger Zeit bleibt für Verarbeitungen. Nicht immer kann man sich aussuchen, wann einem was präsenter ist und eigentlich ist es doch auch ganz gut, dass Du den Kopf einigermaßen freibekommen konntest, um Dein Abitur schaffen zu können.

Jetzt, wo Du Dein Abitur geschafft hast und die Zeit da ist, über Dich, über Dein Leben und Deine Zukunft nachzudenken, ist es völlig verständlich, dass Du erstmal in ein Loch fällst. Bitte halte Dir vor Augen, was Du da erlebt hast. Was Du geleistest hast. Was Du verarbeiten musstest und musst. Das alles kommt hoch, sobald erst einmal die Zeit dafür da ist. Was Du gegen die enorme Trauer, gegen die Weinkrämpfe und Attacken tun sollst - nichts. Lass sie zu, gib Dich ihnen hin, lebe sie aus. Besser weinen und schreien, als es in sich hinein zu fressen und stumm zu erdulden. Die Gefühle sind da, sie wollen gehört werden, sie müssen sich einen Weg nach draußen kämpfen und so lange zu weinen, bis jede Träne geweint ist und jede Verzweiflung rausgeschrien ist, ist das Allerbeste, was Du tun kannst. Viele Menschen verstummen und vereinsamen in ihrer Trauer, seelisch ganz zugeschüttet und unfähig sich auszudrücken, verlieren sie sich in Depressionen. Dass Du weinen kannst, ist ein sehr großes Glück für Dich, dem Du nach Möglichkeit ganz viel Raum geben solltest.
Es hilft, wie Du vielleicht schon gemerkt hast, die Gefühle in Worte zu fassen, aufzuschreiben und vielleicht auch an einen Empfänger zu richten, wie Deine Nachricht an uns. Bitte belass es nicht dabei. Schreibe noch mehr, rede darüber mit Menschen, denen Du vertraust oder die Ähnliches erlebt haben. Es gibt Gesprächskreise, Selbsthilfegruppen, wenn man so will, aber auch Beratungsstellen wie zum Beispiel die Deutsche Krebshilfe, die Beratungsstellen landesweit haben und kostenlose psychologische Beratung für Betroffene und Angehörige anbieten. https://www.krebshilfe.de/
Oder vielleicht wäre ein Trauercafé etwas für Dich? Aber nicht jeder möchte mit Fremden über seine Gefühle sprechen. Das ist auch gar nicht schlimm. Wichtig ist, dass diesen Gefühlen Ausdruck verliehen wird. Vielleicht hast Du eine künstlerische Ader oder entdeckst sie, in dem Du das, was Du fühlst auf Papier bringt, mit Bleistift zeichnest, mit Pinseln die Farben verleihst, die Deine Gefühle haben. Oder Du schreibst uns einfach nochmal, hauptsache Du frisst es nicht in Dich hinein.

Noch einmal. Du hast etwas Enormes geleistet, was in Deinem Alter nur umso schwerer ist, Du hast es dennoch geschafft, Dein Abitur zu machen. Nun, nachdem Du den Stress erst einmal hinter Dir hast, gib Deinen Gefühlen den Raum, den sie brauchen. Dann wirst Du merken, dass diese Erfahrung, dieser unbeschreiblich große Verlust Dir ein inneres Licht, eine innere Stärke geben wird, die Dich niemals verlässt.

Alles Liebe, Anna