Problem von Anonym - 16 Jahre

Mein Vater verliert das Interesse an mir

Ich fange am besten mal ganz am Anfang an. Meine Eltern waren noch nicht sehr lang zusammen als ich auf die Welt kam. Trotzdem waren sie echt glücklich das ich da war, obwohl ich nicht geplant war. Zusammen mit meinem sechs Jahre älteren Bruder (er hat einen anderen Vater) zogen wir alle in eine gemütliche Wohnung, zwei Jahre später heirateten meine Eltern. Ich muss dazu sagen das ich schon immer sehr auf meine Mutter fixiert war, denn mein Dad arbeitet viel und ist nur an den Wochenenden zu Hause. Trotzdem haben wir uns super verstanden, ich war immer sein kleines Mädchen und sein ganzer Stolz. Als ich dreizehn war eröffneten meine Eltern mir das wir aus unserer Wohnung ausziehen würden. Meine Oma war zu diesem Zeitpunkt schwer dement geworden und wir zogen in das Haus meines Opas, damit er nicht allein sein musste. Meine Oma zog in ein Heim. Mein Vater verstand sich aber nicht gut mit meinem Opa und zog deshalb zu seinem Vater, 35 km entfernt von meinem neuen Zuhause. Dort war vor einem halben Jahr meine andere Oma an Blutkrebs verstorben und mein Opa lebte auch allein. Meine Eltern lebten also getrennt, waren aber trotzdem ein Paar. Ich kann mich noch an den Abend erinnern als mein Vater mich von unserer alten Wohnung in mein neues Haus brachte. Wir standen an einer Ampel und mussten beide Weinen. Wir sahen uns schon nur an den Wochenenden und die zusätzliche Trennung belastete uns noch mehr. Von da an besuchten meine Mutter und ich meinen Vater jedes Wochenende, mein Bruder blieb zu Hause bei meinem Opa. Nachdem mein Bruder zusammen mit seiner Freundin weggezogen war, wurde die Situation schwieriger. Mein Opa väterlicherseits starb und meinem Vater ging es nicht besonders gut. Meine kindische Hoffnung das er bei uns einziehen würde, wurde zu nichte gemacht als er begann sein vererbtes Haus zu renovieren. Die wochenend Besuche brachen ab, als mein Opa zu Hause an Lungenkrebs erkrankte. Stattdessen besuchte uns mein Vater nun jeden Sonntag. Unser Verhältnis hatte sich ziemlich abgekühlt. Ich war und bin wirklich traurig und wütend auf ihn das er nicht zu uns zieht. Kurz vor meinem sechzehnten Geburtstag verstarb mein Opa schließlich am Krebs und ich verlor eine sehr wichtige Bezugsperson. Ich wohne seitdem allein mit meiner Mutter in Opas riesigem Haus. Da meine Mutter Vollzeit arbeitet bin ich oft allein und manchmal verdammt einsam. Gerade dann wenn ich meinen Vater am meisten brauche, ist er nicht bei mir. Wenn er uns jetzt besucht ist er meistens sehr müde von der Arbeit oder einfach genervt. Neulich bat meine Mutter ihn darum für mich einen Termin beim Facharzt zu machen, er verdrehte daraufhin genervt die Augen. Kleine Sachen wie Regale an die Wand bauen bekomme ich einmal gezeigt und soll es dann selbst machen, während er im Wohnzimmer ein Bier trinkt. Mein Fahrrad ist seit zwei Monaten kaputt obwohl er sich darum kümmern wollte. Stattdessen geht er angeln und unterstellt mir das ich ihm seine Freizeit nicht gönnen würde wenn ich ihn darauf anspreche. Es ist nicht so das ich ihm nicht helfen würde, ich bin aber leider gesundheitlich nicht so fit und einfach nicht in der Lage Handwerkerin zu spielen. Auch wenn ich ihm etwas erzähle wirkt er abwesend, desinteressiert und nur noch genervt. Meine Zukunftspläne belächelt er spöttisch, so als ob ich nicht das Zeug hätte etwas aus mir zu machen. Er ist zeitweise so gemein zu mir das ich abends sehr oft weine und nicht schlafen kann. Ich wäre gerne wieder sein kleines Mädchen für das er alles tun würde. Ich bin mir sicher das das nie passieren wird und ich hoffe das er irgendwann bereut nicht für mich da zu sein. Gerade in der Zeit nach Opas Tod hätte ich ihn gebraucht, stattdessen begrüßt er mich mit den Worten: Hol mir ein Bier aus dem Keller. Und obwohl meine Eltern nocht getrennt sind habe ich den gleichen Wunsch wie jedes Kind das zwischen zwei Eltern hängt. Morgens meine lachenden Eltern aus der Küche hören die zusammen das neuste Kreuzworträtsel lösen. An meinem Geburtstag von beiden mit Geschenken und Umarmungen geweckt zu werden und nicht einfach nur ein Post it in der Küche zu finden, neben dem Geschenk von beiden Eltern, bei dem du ganz genau weißt das es deine Mutter ohne das Wissen deines Vaters gekauft hat. Ich will an Gewittertagen bei Stromausfall nicht allein im Dunkeln sitzen, weil Mama arbeitet und Papa wie immer nie da ist. Als ich versucht habe mit meinem Vater darüber zu reden wurde er sauer imd schrie mich das erste Mal in meinem Leben an. Seitdem traue ich mich nicht mehr. Alles was ich von ihm wollte war das er an den Samstagen auch vorbei kommt. Ich weiß echt nicht mehr was ich tun soll.

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

du schreibst:

"Und obwohl meine Eltern nocht getrennt sind habe ich den gleichen Wunsch wie jedes Kind das zwischen zwei Eltern hängt. Morgens meine lachenden Eltern aus der Küche hören die zusammen das neuste Kreuzworträtsel lösen. An meinem Geburtstag von beiden mit Geschenken und Umarmungen geweckt zu werden und nicht einfach nur ein Post it in der Küche zu finden, neben dem Geschenk von beiden Eltern, bei dem du ganz genau weißt das es deine Mutter ohne das Wissen deines Vaters gekauft hat."

Ich muss dir sagen, dass deine Worte mich sehr berührt haben, weil mir klar wurde: Das war es, was ich immer hatte - und oft nicht zu schätzen wusste. Auch heute oft nicht weiß. Ich habe dir für diese Erkenntnis zu danken, du hast sie mir vermittelt. Es hat leider eine Weile gedauert, bis zu meiner Antwort - und ich fürchte, die Situation ist so verfahren, dass du wenig unmittelbar tun kannst. Trotzdem möchte ich dir sagen, dass mir das, was du täglich erleben musst, sehr leid tut, und ich hoffe, dass es dir gelingt, dir ein Leben aufzubauen, in dem die Harmonie gegeben ist, die du jetzt vermisst.

Eines finde ich sehr wichtig, liebe Anonyme: Du solltest dich zur Wehr setzen gegen ungehobelte, herabsetzende Verhaltensweisen dir gegenüber. "Hol mir ein Bier aus dem Keller!", kaum dass dein Vater dich wahrnimmt, ist etwas, das nicht geht. Ja, er ist dein Vater. Ja, du hängst noch von ihm ab. Aber: Nein, du musst dir nicht alles gefallen lassen. Ein simples "Bitte, könntest du..." und die Frage "Geht es dir gut?" kannst du erwarten. Alles Andere ist gefühllos und egoistisch. Er als dein Vater wäre in der Pflicht, dir ein Vorbild zu sein, auch in Dingen wie Höflichkeit, Teamsinn und Einfühlungsvermögen. Deshalb endet deine Pflicht ihm gegenüber auch dort, wo er sich wie ein Patriarch verhält. Wenn er nicht dabei sein will, wie du dein Zimmer einrichtest - gut . Eines Tages wird er es bereuen, dir nur Hammer und Nägel in die Hand gedrückt zu haben, da sei sicher. Aber das ist dann nicht dein Problem. Doch was er auch von dir fordert, er hat es freundlich und ruhig zu tun. Und - sollte er je handgreiflich werden... du weißt Bescheid. Du kennst deine Rechte.

Deinen Opa kann dir das Leben leider nicht zurückbringen. Doch vielleicht ist die jetzige Situation ein Vermächtnis, ein Auftrag, es besser zu machen: Lass dich nicht unterkriegen. Plane dein Leben, verfolge deine Ziele. Lass dir von niemandem einreden, du könntest dies oder jenes nicht schaffen. Dass dein Vater sein Interesse an dir verliert - oder richtiger, schon längst verloren hat - wird irgendwann zu einem großen Problem für ihn werden, wenn er sich selbst einsam fühlt und niemanden mehr hat, den er dirigieren kann. Bis dahin: Hab den Mut, zu träumen! Nimm die Verachtung für deine Person, die dir signalisiert wird, nicht als dein Selbstbild an, sondern kämpfe dagegen. Versuche, unter Menschen zu kommen - verfolge deine Hobbys. Nutze den Sommer, um die Natur zu erleben, Wald und See, oder auch die Stadt. Vervollkommne deine Pläne für die Zukunft. Lass nicht zu, dass jemand von außen diese für dich so wichtige Jugendzeit mit Schmerz und Tränen vollgießt, bis nichts mehr hineinpasst. Denn du wirst es schaffen, etwas aus deinem Leben zu machen, etwas Großartiges.

Schaff dir Erinnerungen. Wähle die Bilder für deine Wände, halte Ordnung und versuche überhaupt, dir ein kleines Nest zu schaffen, in dem du sicher sein kannst - lass das Chaos nicht Besitz von deinem Leben ergreifen. Achte auf die kleinen Dinge: Es hilft dir, dein Bett zu machen, wenn der Tag hart ist - es wird sich freundlicher anfühlen, wenn du dich abends hinein fallen lässt. Es hilft dir, deine Kleider so zu wählen, dass du dich wirklich wohl darin fühlst - und nicht nach dem Erstbesten zu greifen, weil du denkst, der Tag werde ohnehin furchtbar. Es hilft dir, am Abend einen Kakao zu trinken oder einen Tee. Es hilft dir, am Morgen eine Viertelstunde die Vögel singen zu hören oder zu beobachten, ganz bewusst. Es hilft dir, wenn jedes Ding seinen Platz hat, wenn du Gegenständen eine Bedeutung beimisst. Wichtig ist, dass du dir klar machst: Jedes Detail um dich herum hat eine Auswirkung auf deine Seele. Was dich so zerstört, ist, dass dein Vater kein Interesse an diesen Details zeigt, an dem, was dich begeistert, an dem, was die Fenster zu deiner Seele sind. Doch das darf für dich nicht zum Anlass werden, dich aufzugeben, seelenlos zu werden. Wende mehr denn je Gedanken auf, um deine Umgebung zu gestalten, deinen Tag zu gestalten, dich selbst zu gestalten. Versuche, für dich selbst schön zu sein, und ein kleines Fenster in die Zeit zu öffnen, in der du Menschen um dich haben wirst, die dich lieben und ihr füreinander sorgt. Denn das wird eines Tages der Fall sein. Doch wenn du durchs Leben gehst mit nichts als dem Gedanken, wie du den nächsten Tiefpunkt überstehen sollst, die nächste Enttäuschung, die nächste Provokation, und du nicht mehr lebst, sondern nur noch überlebst - dann wirst du zu dem seelenlosen Etwas, das dein Vater vorlebt. Ein Mensch, der sich nur dafür interessiert, das der Tag zuende geht. Und dieser Versuchung darfst du nicht nachgeben. Lebe den Moment, versuche, dir kleine Freunden zu schaffen. Dann wird das große Ganze immer noch schwer sein, aber etwas erträglicher. Weil du dann weißt, WER du bist, was DICH ausmacht und WOZU. Dieses ICH, dieses unnachahmlich Besondere ist es, das dein Vater durch seine Gleichgültigkeit zerstört - vielleicht auch zerstören will, weil er frustriert vom Leben ist, weil er anderen Menschen ihre Zukunft nicht gönnt. Aber du darfst sie dir nicht nehmen lassen, und auch dein Lachen nicht, deine ganze Seele.

Wenn es gar nicht mehr geht, zuhause, solltest du eine dritte Person zuschalten. Denn auch deine schulischen Leistungen werden darunter leiden - und damit letztlich auch dein ganzes Leben. Vielleicht hilft es dir schon, dich jemandem anzuvertrauen, der wirklich da ist und dir zuhören kann. Ich glaube nicht, dass sich dein Vater wirklich umstimmen lässt. Das muss aus ihm selbst kommen. Aber es wäre gut, wenn jemand ihn in die Schranken weisen würde. Und vielleicht braucht es dazu jemanden, der mehr Autorität ausstrahlt als du selbst. Ich weiß nicht, wer das sein könnte - doch zumindest wäre es gut, wenn, sollte sich das Problem so fortsetzen und du immer größere Schwierigkeiten haben, es zu verbergen, man auch bei dir in der Schule (das, heißt ein Lehrer oder deine Lehrer insgesamt) davon wüssten. das heißt nicht, dass es an deinen Vater weitergegeben werden muss. Aber es kann dir sichern, dass deine schwierige Situation - noch verschärft durch den Tod deines Opas, was schon eine enorme Belastung ist - bei deiner Einschätzung berücksichtigt werden kann. Und vielleicht findet sich ja auch jemand, der noch in der Lage ist, deinen Vater mit Worten zu erreichen.

Was dich selbst betrifft, auf diesem Gebiet: Es gilt, zwei Grundsätze zu beachten. Erstens: Lass dir nichts bieten, was unter deiner Menschenwürde ist. Niemand hat das Recht, dich zu beschimpfen, dich psychisch zu zermürben oder zu erniedrigen. Sage deine Meinung - solange es dich erleichtert. Aber wenn du Gefahr im Verzug siehst, dann gilt es auch, dich selbst zu schützen - und dir Hilfe zu holen. Wenn du Angst hast, wenn du fürchtest, es könnte eskalieren, dann zögere nicht. Es geht um dich - und du bist nicht irgendjemand, sondern du hast noch so viel vor dir. Schätze dich nicht gering. Halte dagegen - bewahre dich, und lass dich nicht zerbrechen.

Ich wünsche dir viel Kraft und ruhige Stunden, in denen du inneren Frieden finden kannst. Vor allem aber wünsche ich dir Freunde und Mentoren zu finden, die dir wirklich zur Seite stehen - nicht nur Worte machen können, wie ich.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul