Problem von Sophie - 26 Jahre

Zerstört verliebt sein das Selbstvertrauen?

Liebes Team,
vielen Dank für Eure Webseite und Euren Rat. Es tut gut, sich aussprechen zu können, ohne sich komplett einer Person, die einer*m gegenüber sitzt, entblößen zu müssen.
Zwar habe ich die Kategorie "Probleme mit sich selbst" gewählt, doch äußert sich mein Problem mit mir in meiner Beziehung. Ich bin seit ca. 1 Jahr mit meinem Partner zusammen, wir leben gemeinsam in einer WG. Ich bin sehr verliebt in ihn und empfinde stärker, als ich das in jeder anderen Beziehung bisher erlebt habe. Ich weiß, dass auch er mich sehr liebt, auch wenn er sich erst kurz vor unserem Kennenlernen aus seiner vorherigen, siebenjährigen Beziehung getrennt hat.
Wir sind uns sehr nah und verbringen zwar viel Zeit miteinander, doch ist es uns beiden wichtig, uns als Individuen zu sprüren. Ich habe meistens viel zu tun und enge Freund*innenschaften, die ich intensiv pflege. Ihm geht es genauso. Dennoch habe ich das Gefühl, zu sehr auf ihn fixiert zu sein. Wenn wir beide zu Hause sind, aber gerade nichts gemeinsam machen, denke ich die ganze Zeit an ihn, kann mich kaum auf mein Buch konzentrieren und lausche auf jeden Tritt im Flur, ob er kommt. Wenn ich Nähe suche, er aber gerade beschäftigt ist, verletzt es mich ungemein, wenn er mich nur halbherzig küsst und ich frage mich, ob ich ihm auf die Nerven gehe.
Hinzu kommen extreme Selbstzweifel: Ständig frage ich mich, ob ich gut genug für ihn bin. Attraktiv genug, schön genug, selbstständig genug usw. Ich verstehe nicht, woher diese Abhängigkeiten und Unsicherheiten kommen. Ich war immer eine selbstbewusste Person und kenne diese Gefühle aus früheren Beziehungen überhaupt nicht (und dachte sie mit der Pubertät hinter mir gelassen zu haben). Besonders schwierig ist es geworden, seit dem er vor ein paar Monaten vorgeschlagen hat, die Beziehung für bestimmte Anlässe ab und zu zu öffnen. Obwohl ich selbst schon eine offene Beziehung geführt habe, hat mich das sehr verletzt. Ich habe es als "zu früh" empfunden und bin aus meiner Wolke 7 gefallen.
Ich tue mich schwer damit, so intensive Gefühle zu händeln und frage mich manchmal, ob das nicht einfach alles zu anstrengend ist. In meinem Umfeld wirken Menschen in Beziehungen immer so ausgeglichen und in sich ruhend. Aber ich fühle mich seit einem Jahr wie auf der Gefühlsachterbahn. Wie kann ich zu meinem gewohnten Selbstvertrauen zurück finden? Wie die Beziehung einfach entspannter angehen und ihm vertrauen, wenn er mir sagt, dass ich ihm ebenso wichtig bin, wie er mir? Und vorallem: eigentlich passt ja alles! Wie kann ich das einfach annehmen und es genießen?
Auch frage ich mich, ob das "normal" ist, oder ob ich mir professionelle Hilfe für Selbstvertrauenstraining oder sowas organisieren muss...
Danke für Eure Hilfe!
Sophie

Nuala Anwort von Nuala

Liebe Sophie,

herzlichen Dank, dass du unsere Arbeit wertschätzen und die Vorteile dieses anonymen Anvertrauens sehen kannst! :)

Ich glaube nicht, dass Verliebtheit zu solch einem Einbruch von Selbstwertgefühl führt. Und auch nicht, dass du professionelle Hilfe benötigst. Ich vermute, es liegt tatsächlich an der Art und Weise, wie ihr zueinander gefunden und eure Beziehung aufgebaut habt.
Als "Beweis", dass du im Grunde temporär verunsichert bist und kein fundamentales Selbstwertproblem hast, kannst du dir vor Augen führen, dass du mitten im Leben stehst, einige innige und intakte Beziehungen zu Freund:innen pflegst und deinen Beschäftigungen nachgehst. Du ordnest dich weder unter, noch verleugnest du deine Interessen. Du kannst auch innerhalb deiner Beziehung artikulieren, was du möchtest. Ihr könnt offen miteinander sprechen. Also: Du bist nicht defizitär - jedenfalls nicht mehr oder weniger als andere Menschen! ;P Wichtig ist die Unterscheidung von Unsicherheit und Verunsicherung - du bist offenbar nicht grundlegend unsicher, sondern lediglich verunsichert. Und das gilt es zu ergründen.

Darum glaube ich außerdem, dass du als Folge deiner aktuellen Verunsicherung das Gefühl hast, (zu) stark auf deinen Freund fixiert zu sein. Wahrscheinlich ist das ein Trugbild. In Gedanken geht es viel um ihn, um euch - und ob du "genügen" kannst. Eigentlich bist du aber schon gut mit deinem aktiven Leben ausgelastet. Daher bist du noch mehr verunsichert, weil du es eigentlich gar nicht von dir kennst und nötig hast, dir derartige Gedanken zu machen und solche Gefühle zu entwickeln. Es ist wie ein lästiger Klotz, den du dir eingefangen hast und du momenten überall mit hin schleppst. Meine Prognose lautet: Wenn du dahinter gekommen bist, was bei euch auslösend und aufrechterhaltend für diese Empfindungen ist, kannst du den metaphorischen Klotz auch wieder beseitigen. Er ist also nicht zwingend Teil deiner Persönlichkeit! Höchstens kann es sein, dass etwas in deinem Wesen sein Anhaften begünstigt. Das kann durchaus sein. Dann stellt sich mir die Frage, ob da noch etwas im Verborgenen schlummert, was eventuell schon sehr früh in deinem Leben seinen Lauf genommen hat, z.B. in deiner Kinderzeit. Darauf kannst du zurückkommen, wenn du dich ausgiebig mit deiner Partnerschaft beschäftigt hast und ihr essentielle Dinge klären und verändern konntet. Dazu dann noch ausführlicher. Mir ist es aber wichtig, dass du keinen "Krankheitswert" in dir siehst. Du zeigst völlig nachvollziehbare, ja durchschnittliche Reaktionen; ich bin mir ziemlich sicher, dass viele andere sich ähnlich fühlen wie du, hätten sie genau diese (Vor)bedingungen und diese Konstellation.

Ich habe mehrere Unsicherheitsfaktoren in deiner Beschreibung gefunden, die ich folgendermaßen zusammenfasse:
- du hast noch nie so stark empfunden wie für ihn (= Beziehung hat außerordentliche Wichtigkeit für dich)
- er kam frisch aus einer Beziehung, allein das ist ein Unsicherheitsfaktor. Obendrein war es aber auch eine recht lange Beziehung.
- die Wohnsituation kann deine Unsicherit verstärken
- sein Vorschlag der Beziehungsöffnung

Mein Gefühl sagt mir, dass ganz viel von deiner aktuellen Unsicherheit stark in den Anfang eurer Bindung zurückreicht, wahrscheinlich dort sogar ihren Ursprung hat. Vielleicht waren es die ersten beiden Punkte, die sich im Laufe eures Beziehungsjahres immer mehr aufgebläht haben - dank der weiteren Aspekte, die dann hinzukamen.
Zum Stichwort Wohnsituation muss ich einschränkend sagen, dass ich nicht weiß, ob du mit WG meinst, dass auch noch andere Personen dort mit euch leben oder du mit deinem Freund eine WG führst. Das ist schließlich Ansichtssache, wie eine WG definiert wird. Also für den Fall 1, dass ihr in einer "klassischen" WG mit anderen Menschen wohnt, birgt das auf jeden Fall Potenzial für Unsicherheiten. Allein durch so Dinge wie geteilte Aufmerksamkeit, Anlässe für Eifersucht, teilweise eingeschränkte oder fehlende Privatsphäre. Ich will das nicht zu sehr ausführen, weil ich ja nicht weiß, ob es bei euch so ist oder nicht. Aber falls ihr mit mindestens einer weiteren Person zusammenlebt, kann es ja durchaus zu Störungen eurer Intimität kommen - bzw. zu Reaktionen seinerseits, die dich wiederum beeinträchtigen (verunsichern). Ich denke da an an das Paradebeispiel Sex: Will ein Pärchen in einer WG ungestört miteinander schlafen, hat es die Wahl zwischen "Wir müssen Rücksicht nehmen und uns leise verhalten (und nicht im gemeinsamen Wohnzimmer poppen, weil wir gerade nicht allein in der WG sind)" und "ach, wir sind so laut wie wir wollen. Das können die schon ab...". Vor allem das Rücksicht nehmen (was an sich ja ehrenhaft ist), kann dazu führen, dass es zu latentem Stress kommt: Denn was ist, wenn die anderen doch was mitbekommen haben? Waren wir wirklich leise genug? Hat das Bett zu sehr gegen die Wand geschlagen? usw. Falls dein Freund sich entsprechend unentspannt verhalten sollte, würdest du wiederum mit Unsicherheit reagieren - und dich im schlimmsten Fall dafür verantwortlich machen und dich abwerten. Denn du willst ja nicht, dass es ihm unangenehm ist, mit dir intim zu sein usw. Die äußeren Umstände würden also dafür sorgen, dass es zwischen euch zu einer Schieflage kommt. Und um es wieder allgemeiner zu fassen: Auch wenn ihr nur zu zweit wohnt, kann es zu ähnlichen Reaktionen kommen. Dann sind es die Nachbar:innen. Oder er gibt dir womöglich auf andere Weise das Gefühl, dass er nicht zu 100% im Reinen mit einer Situation ist. Vielleicht bist du sehr empathisch und spürst schon kleinste Unstimmigkeiten, die er selbst mitunter gar nicht so wahrnimmt. Das würde ich auf jeden Fall an deiner Stelle erforschen, ob das auf dich/euch zutreffen könnte. Wenn ja: Dann hast du eine tolle Gabe, die dir zu mehr Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl verhelfen kann - indem du sie stolz hochhältst und sie zu deinen Gunsten nutzt.

Stichwort vorherige Beziehung: Ich habe es schon oft gehört bzw. miterlebt, dass es absolut verunsichernd und einschüchternd wirken kann, wenn frau:man mit jemandem zusammenkommt, der:die gerade aus einer langen Beziehung hervorgegangen ist. Das ist etwas sehr Respekteinflößendes! Denn: Da waren Zwei sich für mehrere Jahre derart nah, haben so viel miteinander erlebt, durchgestanden, so viel geteilt. Da ist einfach unglaublich viel passiert und gewachsen. Das ist imposant. Und wenn dann Schluss ist, ist das Band nicht abrupt durchtrennt. Die Wirkung, die Präsenz dieser anderen Person ist noch spürbar und wirkt nach. An dieser Stelle solltest du genau nachfühlen, wie vor einem Jahr die genauen Umstände waren: Wie genau seid ihr zusammengekommen? Wie war das Verhältnis zu seiner Ex-Partnerin? Gab es Ambivalenzen? Kennst du sie - und wie stehst du zu ihr? Gibt es etwas an ihrer Art, ihrem Verhalten, das du ablehnst, was Neid, Eifersucht, Unsicherheit begünstigen kann?
Es mag albern klingen, aber schon kleine (Neben)sätze können alles Weitere negativ beeinflussen: Eine Aussage, vielleicht unbedacht in den Raum geworfen, vielleicht im naiven Vertrauen oder Gefühlsduselei gesagt, ohne an die möglichen Auswirkungen zu denken. "Meine Ex-Freundin macht jetzt bestimmt das und das", "Sie hat mich vor dem Einschlafen oft gekrault", "Als wir zusammen kamen, war alles so besonders. Sie hat mich aus einem tiefen Loch geholt." Klingt erstmal ok, oder? Aber es kann auch schaden, sowas zu hören - gerade in der sensiblen Anfangsphase, wenn die alte Beziehung noch so greifbar ist. Das Fatale ist, dass wir solche Informationen zunächst aufnehmen und ihnen nicht gleich eine persönliche Wichtigkeit zuschreiben. Wir sind ja auch total verknallt und wollen nur das Beste sehen und erleben. Da werden kleine Unstimmigkeiten, aufkeimende Eifersüchteleien und andere "unschöne" Regungen gerne ignoriert bzw. bagatellisiert. Doch sie schwelen dann manchmal im Unterbewusstsein weiter. Sie können das Handeln prägen, sodass sich ohne es zu wollen neue Momente ergeben, die unweigerlich zu neuen Konflikten führen. Vielleicht wurde also da schon der Grundstein für alle weiteren Verunsicherungen bei dir gelegt.

Nun kommt hinzu, dass dein Freund wohl so eine Art Wendepunkt für dich darstellt. Wenn du bisher keine derartige Liebe gefühlt hast, ist es dir umso dringlicher, ihn nicht zu verlieren. Besonders wenn dir gleich zu Beginn eurer Beziehung gemerkt hast, dass es mit ihm komplett anders ist als in anderen Beziehungen. Du warst sozusagen total elektrisiert, in den Bann gezogen - und gleichzeitig in Hab-Acht-Stellung. Kann ich ihn so schnell wieder verlieren, wie er in mein Leben getreten ist? Ist er überhaupt schon bereit für mich? Was ist, wenn er sich doch für seine Ex entscheidet - oder mich für einen anderen Menschen so schnell verlässt, wie wir zusammengefunden haben?
Das Zusammenspiel zwischen dieser Intensität, die Eifersucht durch Verlustangst hervorrruft, gepaart mit dem Respekt vor der alten Beziehung, ist eine tückische Mischung. Und gerade weil es häufig eher subtil ist, ist es so hinterhältig.

Dann ist da noch sein Vorschlag der Beziehungsöffnung. Ja, aus nüchterner Sicht kann ich mutmaßen, dass er sich derart wohl mit dir fühlt und dir so vertraut, dass er diesen Vorschlag machen "konnte". Denn wenn er nicht dieses Level an Verunsicherung hat, das du hast (wovon stark auszugehen ist), kann er quasi aus der Sicherheit eurer Beziehung den Sprung ins Neue wagen. Für dich allerdings ist es ein Zuviel. Denn es liegt eben etwas im Argen und solange du dich nicht genauso sicher fühlen kannst wie er, wirst du die Vorstellung einer offenen Beziehung immer bedrohlich finden, egal welche Vorerfahrungen du damit auch haben magst.

Was kannst du tun? - Neben der gründlichen Selbstanalyse der genannten Punkte, die du ruhig eine ganze Weile für dich betreiben kannst, solltest du relativ schnell das Gespräch mit ihm suchen. Es bietet sich auch stark an, alle aufgelisteten Bereiche auf ihren "Wahrheitsgehalt" hin zu überprüfen. Denn vielleicht sieht er dann Dinge, die dir gar nicht so aufgefallen sind - oder du schlicht verdrängt hast. Natürlich kannst du hierfür auch gut deine engen Freund:innen befragen und mit ihnen z.B. durchgehen, wie es vor einem Jahr war. Was hast du damals zu ihnen gesagt? Was ist ihnen aufgefallen? Gab es eine Schlüsselsituation, die dich besonders bewegt hat? Wann genau hat die Verunsicherung ihren Lauf genommen?

Du solltest dir konkret überlegen, um was du deinen Freund bitten könntest. Wie könnt ihr euer tägliches Zusammenleben gestalten, sodass ihr eine gute Balance zwischen Nähe, Intimität und Aufmerksamkeit einerseits und Eigenständigkeit, Unterwegssein und Distanz entwickelt? Wie könnt ihr euch in eurer Entwicklung unterstützen, wie könnt ihr euch beflügeln, ohne euch zu hemmen?

Bitte verpass' dir keine Denk - und Fühlverbote! Du darfst dir etwas von ihm wünschen, ohne dass du dich sorgen musst, ihn zu verlieren. Du musst nicht irgend einem Standard genügen, der diffus im Raum hängt.
Mir ist eine Sache aufgefallen: Das Küssen mit abwesendem Charakter. Also da sehe ich z.B. einen Ansatzpunkt: Bitte ihn, dich nur zu küssen, wenn er wirklich Lust drauf hat. Nicht aus Routine oder Pflichtgefühl. Das kann nämlich sehr verletzend sein.

Provokant gesagt wird sich die wahre Güte eurer Beziehung letztlich daran messen, wie er auf deine Verunsicherung mit all den damit verbundenen Gedanken und Gefühlen eingeht. Wenn er wahrlich zu dir passt, wird er zu dir stehen, dich nach Kräften auffangen und pushen, wo es nur geht. Sollte er sich aber zurückziehen und dich hängen lassen, ist da etwas ganz Anderes am Laufen, was dann in Wahrheit der Kern deiner Verunsicherung ist. Und du es nicht sehen konntest oder wolltest.
Voraussetzung für eure konstruktive Auseinandersetzung ist, dass du ihm nichts vorenthältst und auch dir selbst ehrlich gegenübertrittst.

Ich wünsche dir alles Liebe!
Nuala