Problem von Anonym - 26 Jahre

Was ist mir passiert? Belästigung? Vergewaltigung? Was war das...?

Hallo zusammen, ich glaube, ich bin ziemlich kaputt. Ich wurde schon häufig recht massiv belästigt/bedrängt. Erst mit 15 von dem Partner meiner Großmutter und später hatte ich ein weiteres unschönes Erlebnis nach einer Nacht Feiern mit einem Bekannten eines Studienkollegens. Alles was mir da passiert ist, war klar scheiße, aber ich würde das, was mir passiert ist, als Belästigung definieren.

Aber was ist dann das hier (s. unten)? Es ist ja wohl keine Vergewaltigung, da er ja erst nur mit den Fingern in mir war und ich später mit ihm mit bin. Aber was dann? Zählt so etwas auch „nur“ als Belästigung? Oder gibt es „Zwischenstufen“? Es macht mich wahnsinnig, dass ich nicht weiß, als was genau das zählt:

Drei Jahre nach meinem letzten „Erlebnis“ war ich auf einer Party auf dem Campus meiner Uni (England). Ich war noch nie so betrunken. Er war auch dort. Ich erkannte ihn vom Sehen aus unserem Wohnhaus. Ich muss wohl auch mit ihm getanzt haben. Plötzlich habe ich gefühlt, wie er seine Finger aus mir gezogen hat und ich mit geöffneter Hose auf der Tanzfläche stand. Wie kann ich nur so betrunken gewesen sein, dass ich nicht mal gemerkt habe wie er meine Hose geöffnet hat und in mir war??!! Wie konnte ich nur so betrunken sein, dass ich so dermaßen die Kontrolle verloren habe? Und wie konnte das das mitten auf der Tanzfläche geschehen? Hat das keiner gesehen? Danach habe ich einen Blackout. Plötzlich standen wir vor seiner Wohnung. Ich glaube, ich wollte sogar mit ihm schlafen. Wieso sollte ich sonst mitgegangen sein? Ich habe meine Hose ausgezogen und bin ins Bett. Ich weiß noch, er hat gefragt ob er ein Kondom nehmen soll und ich habe Ja gesagt. Ich war so müde. Ich bin eingeschlafen sobald ich gelegen bin. Erst als er in mich eingedrungen ist, bin ich vor Schmerzen wieder einigermaßen zu mir gekommen. Und was mache ich? Ich lieg total bescheuert einfach mal nur da bis er endlich fertig war. Danach habe ich mir das Blut von den Oberschenkeln gewischt (erstes Mal und so), habe mich angezogen und bin am nächsten Tag in meinem Badezimmer aufgewacht. Selbst wie ich in mein Zimmer gekommen bin, weiß ich nicht mehr.

Also mittlerweile sind ein paar Jahre vergangen, ich fühle mich total kaputt, bin komplett beziehungsunfähig (meine ich ernst, ich hatte nie eine echte Beziehung bisher), komme aber meinstens mit allem klar. Nur kann ich niemanden davon erzählen, weil ich nicht weiß, „was“ mir passiert ist. Was ist das gewesen?? Mir wäre sehr geholfen, wenn ich nur eine Einschätzung hätte, was da vorgefallen ist.

Nuala Anwort von Nuala

Hallo du!

Du hast uns in der Vergangenheit schon oft geschrieben. Es ging dabei immer wieder um deine prägenden Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt. Nun möchte ich dir darauf antworten.
Dir lässt die Frage keine Ruhe, was genau du erlebt hast. Nun, das ist klar eine Vergewaltigung gewesen. Wenn jemand einem anderem Menschen ohne dessen Einverständnis bzw. unter Ausnutzung seiner Wehrlosigkeit (in deinem Fall starker Alkoholeinfluss) die körperlichen und psychischen Grenzen überschreitet, indem er sie oder ihn mit den Fingern penetriert, ist das eine Vergewaltigung. Dazu braucht man keinen Penis und auch keine Gewaltmittel.
Es gibt leider alle möglichen Formen von Vergewaltigung: Mit Gegenständen, Körperteilen, durch Frauen, durch Männer, mehrere Täter:innen oder eine einzige Person. Wenn eine Frau einem Mann oder einer anderen Frau beispielsweise eine Flasche in den Anus einführt, weil diese:r sich gerade nicht wehren kann oder sie schlicht stärker ist, ist das genauso Vergewaltigung. Oder wenn Person 1 Person 2 "überredet" und sich mit schmeichelnden Worten die Grenzen übertritt. Wenn jemand vor Angst gelähmt ist, die weiß, was gerade passiert oder manche Sachen teilweise noch schön findet, haben die Täter:innen leichtes Spiel. Hinterher schieben sie dann oft noch dem Opfer die Schuld zu.

Bei dir lese ich das auch heraus - Warum du so viel Alkohol getrunken hast. Warum du es nicht bemerkt hast. Warum du dann noch mitgegangen bist. Klar, das ist eine menschliche Reaktion. Doch sei dir bitte im Klaren: Du hast KEINE Schuld! Niemand hat das Recht, dich anzufassen, nur weil du betrunken bist! Du kannst so viel trinken, wie du willst - das ist deine Sache. Das berechtigt niemanden, dir die Schuld zu geben oder Dinge mit dir zu machen, die du nicht möchtest!

Leider leben wir in einer Gesellschaft, in der Frauen schnell die Schuld gegeben wird. Stichwort "Blaming the victim". Sie hätte sich ja anders verhalten, sich anders kleiden, deutlich(er) Nein sagen können. Darüber hinaus werden Frauen als hilflose Opfer dargestellt (vor allem in den Medien) und Männer sind die Bösen. Als ob Frauen nicht stark und mächtig sein können. Da wird quasi schon im Vorfeld angenommen, dass es dazu kommen MUSS, dass eine Frau zum Opfer wird. Die Folgen sind fatal.
Neuerdings werden besonders Männer mit Migrationshintergrund an den Pranger gestellt. Bei all diesen Zuschreibungen und Vorstellungen von Schuld - Unschuld wird die Realität geleugnet: Sexualisierte Gewalt ist nicht die Schuld der Betroffenen. Sexualisierte Gewalt passiert meistens im Nahfeld der Betroffenen, vor allem im Familien - und Freundeskreis. Und es sind selbstverständlich nicht nur die "bösen Ausländer", wie es uns rechte Hetze verkaufen will.
Vergewaltigung und andere Formen von Gewalt kommen in jedem Land vor - gerade da, wo es entsprechende günstige Bedingungen gibt, wie z.B. im nach wie vor patriarchal geprägten Deutschland (in Deutschland wird immer so getan, als sei es so ein fortschrittliches und emanzipiertes Land, in Wahrheit ist mehr oder weniger offensichtlich, dass Frauen in sehr vielen Hinsichten absolut benachteiligt sind. Eben auch, was zahlreiche Übergriffe und Gewalttaten angeht). Auch in Großbritannien, wo du vergewaltigt wurdest, gibt es diese Probleme. Solange Frauen sich männlichem Dominanzgebahren unterordnen sollen und ihnen systematisch der Raum genommen wird, können Gewalttaten immer neu entstehen. Gleichzeitig erleben Frauen einen krassen Druck, "schön" und "sexy" zu sein - und sexuell "verfügbar. Das ist alles ziemlich krank! Anstatt eine Frau als vielseitige Persönlichkeit zu sehen, die zum Beispiel sehr klug ist, wird sie häufig auf ihr Äußeres reduziert. Von den Tabus rund um Menstruation, Abtreibung und selbstbestimmter weiblicher Sexualität ganz zu schweigen. Das sind alltägliche Einschränkungen, die viel zu sehr akzeptiert und nicht hinterfragt werden. Das alles macht es Frauen sehr schwer, sich ein freies Leben zu schaffen, ohne sich zu schämen oder gar schuldig zu fühlen. Und auch für Männer ist es schwer, weil sie schnell in Verdacht kommen, nur Sex zu wollen oder Täter zu sein.

Ein guter Trick, um im Alltag schnell zu erkennen, wie sehr Frauen oft benachteiligt werden: Wenn du dich fragst, ob das jetzt ok war oder nicht, setze gedanklich einen Mann an die Stelle der betroffenen Frau. Ganz häufig fällt dann auf, dass es nicht ok ist! Frauen haben aber zu sehr verinnerlicht, Sachen hinzunehmen, mitzumachen und sogar als richtig zu empfinden. Beispiel: Eine Frau wird im Supermarkt angerempelt und Sachen fallen zu Boden. Der verursachende Mann hilft ihr, alles aufzuheben - und fasst ihr dabei mit der Hand an den Po. Frauen neigen durch ihre Erziehung und Erfahrung dazu, das als harmlos abzutun. War wohl ein Versehen! War bestimmt lieb gemeint! Er hat mir ja geholfen! Nein, er hat die Sache ausgenutzt, um dich anzugrapschen. Ein Typ würde vermutlich viel eher dazu tendieren, den Grapschenden in die Schranken zu weisen - oder zumindest zu realisieren, dass das gerade weder ok war, noch angenehm. Es geht also zuallerst darum, ein Gefühl zu haben, was sich gut anfühlt - und was nicht. Oder was seltsam ist. Daher ist es so wichtig, schon den kleinen Kindern zu vermitteln, dass ihr Bauchgefühl stimmt und ihre Grenzen geschützt werden!

So, nachdem ich sehr viel Allgemeines geschrieben habe, möchte ich zu deiner Schilderung zurückkommen: Du spürst, dass du psychisch total überfordert bist. Deswegen solltest du dich in therapeutische Behandlung begeben. Aktiv gegen die erfahrene Gewalt vorzugehen ist der Schritt in die richtige Richtung.
Ich habe vorhin ein Problem beantwortet, in dem es ebenfalls um sexualisierte Gewalt geht. Bitte lies dir auch das durch, um für dich weitere Infos herauszufiltern. https://mein-kummerkasten.de/330729/Ich-glaube-ich-wurde-mit-12-vergewaltigt.html
Außerdem findest du im Netz (z.B. via https://wildwasser.de/) und auch hier im Kummerkasten viele weitere Hinweise und Tipps.
Ich möchte dich ausdrücklich ermuntern, dich weiterhin so in der Öffentlichkeit zu verhalten, wie du es möchtest - sei es in puncto Alkohol, Sexualität, Partys... du darfst das alles und niemand darf dich ungefragt darin hemmen, dir Gewalt antun oder dir Schuld zuweisen. Balle deine Faust! Und nicht nur du: Wir alle sollen das tun. Auch die Männer! Nur so können wir Ungleichheiten und Gewalt entgegentreten und auf Dauer freier und glücklicher werden.

Ich wünsche dir alles Liebe!
Nuala