Problem von Jenny - 16 Jahre

Chaos Leben / Schüchternheit und mehr

Ich fühle mich seit der 5. Klasse nicht mehr so gut. Ich hatte Anfangs 1-2 Freunde mit denen ich teilweise was unternehmen konnte. Mit der Zeit bemerkte ich, dass ich nur ausgenutzt wurde. Ich war schon immer das ruhige Mädchen die nicht wirklich aus sich herauskommt, weshalb ich auch im Unterricht Schwierigkeiten habe, dazu noch sehr vergesslich und unkonzentriert bin. Nun bin ich übrigens in der 10. Klasse. Es hieß immer: ,,Du redest nie", dass zieht mich nur noch mehr runter und das ist vielen nicht bewusst. Ich antworte auf jede Frage und bin eigentlich nett zu allen wenn sie was brauchen. Aber über mich wird ständig gelästert, weil ich anders als die anderen bin, weil ich denen anscheinend nicht gut genug bin. Ich weiß es einfach selbst nicht genau, weshalb ich immer mehr in meinen Gedanken versinke. Vor 2 Jahren fing die Selbstverletzung an. Dazwischen waren lange Pausen wo ich clean war. Es passierten Rückfälle, vorkurzem auch. Ich habe über einen Psychologen nachgedacht, aber habe mich nie bereit erklärt, da ich mich nun mal nicht bereit fühle. Ich versuche mich immer wieder selbst aufzubauen. Habe derzeit einen Freund, er sagt zu mir: ,,Wir schaffen das". Er weiß genau wie's mir geht und bei ihm bin ich ein komplett offener Mensch. Bei seiner Familie allerdings noch sehr ruhig und das spricht sich natürlich rum. Denn es wird gesagt, dass ich nicht schüchtern sein brauche, aber so leicht ist es nun mal nicht. Am liebsten würde ich diese ganzen Sachen erklären können das allerdings sehr schwer ist. Ich fühle mich mit der Schüchternheit sehr eingeschränkt und es werden teilweise in der Klasse auch ironische Sachen gesagt wie: ,,Du redest zu viel" oder ähnliches, ich verdrehe da meine Augen und hoffe einfach das alles bald ein Ende hat und ich wieder normal ohne Einschränkungen leben kann, ich bin generell ein sehr ängstlicher Mensch. Ich fühle mich in meiner Klasse reifer als die anderen, da sie mir sehr kindisch erscheinen für ihren Alter die sich mit Shisha/Zigaretten, Rap Musik etc. cool fühlen, dass einfach nur traurig ist. Meine Mutter kann es nicht verstehen warum man Selbstmordgedanken hat, das finde ich ebenfalls traurig.. Ich habe es ihr so gar schon mehrmals erklärt. Ich bin ein sehr perfektionistischer und pessimistischer Mensch. Ich fühle mich dazu noch sehr dick und fange an mich immer mehr zu wiegen, esse sehr viel gesund, immer weniger (Gibt Ausnahmefälle) und versuche mich nur an Wasser anzutasten. Mein Freund macht sich da natürlich immer mehr Sorgen, musste miterleben wo ich bei ihm verrückt nach scharfen Gegenständen gesucht habe und er versucht hat mich davon abzuhalten, hinter her hab ich mich zitternd im Schrank versteckt. Nachts sehe ich Geister die zu mir sprechen. Ich habe das Gefühl, dass Dämons in meinem Körper sind, weshalb ich mich nicht kontrollieren kann. Selbstmordgedanken spielen übrigens bei mir auch eine Rolle, ich fing öfters an lange Abschiedsbriefe zu schreiben und fing immer mehr an zu planen. Ich bin sehr reizbar auch gegenüber meinem Freund. Und bei Praktika hatte ich auch Schwierigkeiten. Hatte das Gefühl, dass einige mich deswegen hassen oder nicht mögen. Ich bin auch nur ein Mensch, nur leider sehr ängstlich.
Ich hoffe ich habe es recht ausführlich erklärt, gibt glaube mehr zu erzählen, aber das reicht erstmal was mir sehr am Herzen liegt.
LG

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Jenny,

nun liegt deine Zuschrift natürlich schon eine ganze Weile zurück. Trotzdem glaube ich, dass ich dir in Bezug auf deine Situation immer noch ein paar Dinge sagen kann.

Deine Problematik ist sehr vielschichtig, Jenny. Da sind einmal die akuten Gefahren, die durch das Selbstverletzen und deine Suizdgedanken heraufbeschworen werden. Zum Anderen ist da das allgemeine Problem deiner Schüchternheit und das Unverständnis, das dein Umfeld dir entgegenbringt. An Selbstvertrauen und am Überwinden von Ängsten kann man immer arbeiten; aber Dinge wie Ritzen und Selbstmordgedanken dulden keinen Aufschub (was dir jetzt zynisch klingen mag, da du selbst so lange auf eine Antwort von uns hast warten müssen, was mir sehr leid tut).

Du hast den großen Vorteil, dass du deine Lage bereits selbst sehr gut begriffen und analysiert hast. Vor allem ist es gut, dass dein Freund dir in dieser Zeit zur Seite steht. Andererseits hast du ja auch schon gemerkt, dass deine innere Zerrissenheit auch die Menschen um dich herum manchmal hilflos macht - auch deinen Freund, gerade weil er dir so gerne helfen möchte. Du hast grundsätzlich recht damit, dass eine professionelle Hilfe auch nur dann Erfolg haben kann, wenn bei dir die nötige innere Bereitschaft dazu vorhanden ist; insofern hast du richtig gehandelt, dass du nicht gleich "die Keule auspacken" wolltest, sondern erst versucht hast, deine Situation mit den Mitteln zu bewältigen, die dir zur Verfügung stehen. Nur musst du dich jetzt, wo das Ganze zunehmend schlimmer wird, dich auch fragen: Hast du das noch unter Kontrolle? Oder droht sie dir allmählich zu entgleiten? Vieles von dem, was du schilderst, deutet darauf hin, dass deine seelische Qual dich immer mehr überwältigt. In solchen Momenten ist es durchaus keine Schande, sich einzugestehen, dass man professionelle Hilfe nötig haben könnte. Nicht so sehr, weil sich sofort etwas bessern muss - das ist immer ein langer Prozess, und die nötige Zeit solltest du dir auch geben -, sondern weil es wichtig ist, um sich herum ein Netzwerk zu schaffen, das einen auffängt, wenn es unerträglich wird. Und einen im Ernstfall vor dem Schlimmsten bewahrt. Aber die Entscheidung dazu kannst nur du treffen.

Wenn es dir gerade nicht gelingt, mit deinem Freund oder deiner Mutter in allen Einzelheiten über deine inneren Zustände zu kommunizieren, dann hilft es dir vielleicht, es aufzuschreiben. Und zwar nicht, indem du versuchst, das Leid und die Angst von Monaten in einem Rutsch zusammenzufassen. Versuche stattdessen, über einen längeren Zeitraum das Schreiben als Strategie zu nutzen, wenn dich eine Angst überfällt, wenn du Stimmen hörst, oder wenn du dich Zweifel gepackt haben: In den Momenten, in denen du sonst zur Schere gegriffen hättest, braucht es ein Ventil, durch das deine aufgestaute Emotion, deine Wut und dein Schmerz entweichen können. Dass du deine Gefühle in Worte zu fassen versuchst, wenn sie dich gerade erfasst haben (und nicht später!) mag dir schwer vorkommen - ist es mit Sicherheit auch. Es geht dabei auch nicht nur darum, selbst nachvollziehen zu können, was mit dir geschieht (und es für Andere anschaulich zu machen), sondern auch darum, dass du einübst, im Fall eines Falles nicht nach einer Klinge zu suchen. Nach und nach wird dir die Ersatzbeschäftigung so zu einer Gewohnheit, und die Wahrscheinlichkeit, dass du wirklich Hand an dich legst, sinkt. Statt des Schreibens sind natürlich auch viele andere Strategien denkbar: Kunst, wie zum Beispiel auch Malen, ist für viele Leute in ähnlichen Situationen ein Ausdrucksmittel, wenn sie keine wirklichen Worte für ihr Erleben haben. Genauso kann es natürlich auch etwas Anderes sein.

Außerdem kannst du nach Wegen suchen, deinen Drang nach einer körperlichen Grenzerfahrung, die dich ins Leben zurückholt (und was bisher das Ritzen für dich erfüllt hat) durch eine weniger schädliche Handlung zu ersetzen: Das muss etwas sein, was dir zwar einen gewissen physischen Schock versetzt, aber keine Verletzung herbeiführt - dich dabei jedoch trotzdem erdet. Denkbar ist zum Beispiel ein kurzes Eintauchen deiner Hände und Arme in kaltes Wasser; auch kannst du nach einem Gegenstand mit unschädlichen Spitzen suchen, den du über deine Haut fahren lässt oder in den Händen drückst, bis die Anspannung nachlässt. Hierzu empfehlen sich die metallischen "Needled Balls", die in der Akupressur verwendet werden, und die du vielleicht in ihrer soften Version als kleine, stachlige Gummibälle kennst. Du kannst sie immer bei dir tragen, um sie im Bedarfsfall hervorzuholen und dich damit zu beschäftigen. Damit das immer dann möglich ist, wenn du es gerade brauchst, tätest du dir einen Gefallen, wenn du deinen Klassenlehrer oder -lehrerin wenigstens ansatzweise in deine Problematik einweihst; so könnte dir ermöglicht werden, dass du, wenn akuter Druck besteht, das Klassenzimmer verlassen kannst, um dich abzureagieren. Ganz generell ist natürlich körperliche Erschöpfung jeder Art die beste Methode, um psychisch "runterzufahren"; hier musst du selbst entscheiden, ob du dir zeitlich noch eine AG oder eine Runde Joggen am Abend erlauben kannst. Das hat zusätzlich zwei Vorteile: Erstens trainierst du dadurch, dass du dich allen möglichen Umwelteinflüssen aussetzt, wie Lärm, Geruch, Stimmen usw., auch deine Belastbarkeit. Und zweitens steht ja auch noch deine Angst, zu dick zu sein, im Raum. Diese trifft zwar mit Sicherheit nicht zu, doch ist es vom psychologischen wie auch vom gesundheitlichen Standpunkt wohl am besten, wenn du dir eine zeitlich begrenzte, aber regelmäßige Trainingseinheit wählst, die dich nicht überfordert, aber dir die Gewissheit gibt, etwas geleistet zu haben. Es ist niemandem gedient - am allerwenigsten dir selbst - wenn du dich einem rigiden Trainigsplan oder sogar einem Ernährungsplan unterwerfen würdest, was dich beides nur zusätzlich unter Druck setzt und dir außerdem wichtige Genussmomente nimmt. Ich möchte dich übrigens regelrecht dazu auffordern: Gönn dir die Dinge, die du magst - ersetze nicht Schokolade durch Äpfel oder Saft durch Wasser. Etwas genießen zu können, ist eine wichtige Gabe, die du nicht verlernen solltest. Diese Dinge als Belohnung einzusetzen und bewusst zu dir zu nehmen, ist wesentlich sinnvoller, als dir jeden Genuss zu versagen, woraufhin du dann nur noch panischer wirst. Am Anfang wird dir das möglicherweise schwer werden - einen geplante "Sünde" zu begehen. Trotzdem, tu es, denn auch das Genießen und das sich-auf-etwas-freuen soll nicht vernachlässigt werden. Kannst du beides anfangs noch nicht gut, zeigt das nur, wie nötig du es hast. Das wird sich mit der Zeit bessern. Verbietest du dir jedoch alles Mögliche, wird dein Leben immer mehr von Ängsten und Tabus bestimmt sein. Das ist gewiss kein erstrebenswerter Zustand.

Deine Schüchternheit wiederum ist ein Thema, das zwei Komponenten hat: Da bist einmal du selbst - und dann die Menschen um dich herum, speziell deine Mitschüler. Du sagst sehr wahrscheinlich das Richtige, wenn du festhältst, dass du deinen Mitschülern an geistiger Reife Einiges voraus hast. Insofern bin ich unschlüssig, ob du wirklich dein Licht so sehr unter den Scheffel stellen solltest, zu sagen, "Na ja, ich bin nun mal schüchtern... kann man nix machen." Tatsächlich habe ich eher den Eindruck, dass du dich aufgrund einer Umgebung die dich nicht versteht und dir jeden Versuch, dich zu erklären, als Schwäche auslegt, in eine Art Schale zurückgezogen hast: Lieber erträgst du die Provokationen, die kommen, wenn du schweigst, als die, die du zu erwarten hättest, wenn du dich mitteilen würdest. Denn du merkst seit langem: Den Menschen, der du wirklich bist, den können oder wollen sie nicht würdigen. Sie sind zu sehr auf ihr eigens, beschränktes Feld fokussiert - für alles, was sich davon abhebt, haben sie kein Verständnis. Vielleicht - so ehrlich will ich zu dir sein - wird dich das auch für deine Schulzeit noch begleiten. Mit Sicherheit aber hast du dann die Möglichkeit, wenn du einmal ein Studium oder deine Wunschausbildung beginnst, mit Leuten zusammenzutreffen, die deine Interessen teilen und mit denen du von vorneherein auf einer Wellenlänge liegst. Auch jetzt kann dir das natürlich schon in einem Verein, einer AG oder auch im Internet passieren - es ist sogar wichtig, dass du nach dieser Erfahrung suchst. Genauso wichtig aber ist es, dass du die Schuld für das, was dir tagtäglich passiert, nicht bei suchst, indem du dir zuschreibst, du seist eben so. Du bist wie eine Blüte, die im Moment noch durch ein falsches Klima am Wachsen gehindert wird. Deine wichtigste Herausforderung besteht nicht darin, eine generelle Schüchternheit zu überwinden - die sehe ich bei dir so nicht. Sie besteht eher darin, die Provokationen der Anderen nicht mehr so ernst zu nehmen, schlagfertig zu werden und dich von dem Gedanken zu lösen, dass mit DIR etwas nicht stimmen müsste, nur weil du und Mitschüler nicht harmonieren. Ein großes Problem des Prinzips Schule besteht nun einmal darin, dass man sich die Leute, mit denen man täglich zusammenarbeiten muss, nicht aussuchen kann - und dazu kommt noch, dass auch keiner von euch sich den Lehrplan ausgesucht hat, ihr also oft keinerlei gemeinsame Basis habt. Das ist eine große Anstrengung, die ihr täglich zu überwinden habt; und du hast zudem das Pech, dass du mit deinen Mitschülern keine persönlichen Überschneidungen findest - deswegen hat sich eine Mauer in dir aufgebaut. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es kein Problem mit einer Persönlichkeit, sondern eines mit Gewohnheiten gibt, die sich ändern können. Dafür hast du noch viel Zeit, solltest dir aber zuerst darüber klar werden, dass das Problem nicht automatisch bei dir liegt, nur weil du etwas gerade niemandem recht machen kannst. Fürs Erste wäre es ein Schritt, dir ein paar schlagfertige Antworten zurecht zu legen, um die Sticheleien deiner Mitschüler wegen Dingen, für die du dich eigentlich überhaupt nicht rechtfertigen musst, nicht länger still erdulden zu müssen. Was spricht dagegen, jemandem, der nur, um ein paar dumme Lacher zu ernten, dir ironisch vorhält "Du redest so viel!", auch einmal zu sagen: "Tja, Qualität geht eben über Quantität!" Und wenn er das nicht versteht, umso besser. Dann hast du ihn nämlich gleich überführt. Wer an dein Niveau nicht heranreicht, darf sich auch nicht über dich lustig machen, Jenny. Sage dir das immer wieder.

Ich wünsche dir viel Erfolg auf deinem Weg - vor allem gute Gespräche und optimistische Gedanken. Davon kann man nie genug haben.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul