Problem von Sarah - 20 Jahre

Innere Leere

Hallo,
Ich habe in letzter Zeit ein Problem. Und zwar falle ich langsam in ein schwarzes Loch. Ich fühle mich innerlich total leer und finde das Leben sinnlos. Ich weine am Tag mehrmals. Das geht seit einigen Tagen so. Auf der Arbeit oder mit Freunden lasse ich mir nichts anmerken. Ich lache, höre zu, tue so als ob alles in Ordnung wäre. Aber diese innere Leere ist immer da. Ich kann meine wahren Emotionen so gut verbergen und eine Maske tragen, dass ich manchmal selbst staune. Von außen betrachtet würde niemand ahnen, dass es mir innerlich sehr schlecht geht. Ich habe immer ein offenes Ohr für meine Mitmenschen, höre mir ihre Sorgen und Probleme an und helfe so gern. Jedoch meine eigenen Probleme bleiben bei mir. Ich erzähle sie höchstens meiner Mama und das eher oberflächlich. Ich habe meine ganzen sozialen Netzwerke deaktiviert und habe keine Lust mit anderen zu kommunizieren. Ich habe viele Freunde, die mir wichtig sind, daran liegts nicht. Ich weiß nicht was ich in letzter Zeit habe. Dann habe ich in der Nacht an meinem Geburtstag plötzlich angefangen zu weinen. Ich hatte keine Ahnung warum. Obwohl ich davor mit meinen Freunden gefeiert hatte und ne schöne Zeit hatte, war ich traurig. Es schien, als ob etwas fehlen würde. Danach bin ich zufällig auf die Borderline Persönlichkeitssörung gestoßen. Ich weiß, dass man sich niemals selbst diagnostizieren sollte ohne professionelle Hilfe aber ich habe verblüffend viele Merkmale gefunden, die auf mich zutreffen. Beispielsweise: meine Beziehungen waren immer sehr intensiv aber auch unstabil und kurz. Ich wurde einige Male verlassen. Ich habe in den anfänglichen Phasen meine Partner immer idealisiert und sie einfach perfekt gefunden und dann beim kleinsten Fehler oder etwas was mir nicht ganz gefallen hat, haben sie für mich ihren Wert verloren. Und das war bis jetzt immer wieder so, wie Ping Pong, einmal perfekt, einmal total unperfekt, so ein schwarz-weiß Denken. Zudem habe ich Stimmungsschwankungen, ich kann an einem Tag total viel lachen, und später sehr traurig sein und in ein schwarzes Loch fallen. Ich kann bei einer Kleinigkeit ziemlich sauer werden, beispielsweise wenn ich irgendwo wo Menschen sind allein unterwegs bin und das Gefühl habe, dass mich jemand schief ansieht, verdrehe ich die Augen und denke mir was es da zum Glotzen gibt und bin genervt. Ich habe auch oft das Gefühl, dass mich alle anschauen und irgendwie meine Makel sehen und urteilen könnten. Ich habe Angst vor dem Verlassen werden. In Beziehungen, bei einer kleinsten Veränderung also zb. wenn mein Partner länger als sonst zum Antworten braucht oder wenn er nicht mehr so viele Kosenamen verwendet wie am Anfang oder wenn er mal keine Zeit zum Treffen hat, denke ich mir, dass er mich verlassen möchte. Ich male mir Szenarien aus wie er sich von mir trennen möchte. Dann versuche ich heimlich zu manipulieren. In meiner letzten Beziehung hatte ich meinen Freund mal für eine Woche nicht gesehen, da er anscheinend viel um die Ohren hatte wegen Arbeit usw. Ich hatte mal einen Tag vorgeschlagen zum Treffen und er konnte nicht, da er schon Besuch aus dem Ausland hatte. Dann war ich so sauer, dass ich geschworen hatte ihn das gleiche fühlen zu lassen. Somit recherchierte ich im Internet nach Methoden, um den Partner mehr an mich zu binden, wenn man als eine Partnerin zu anhänglich war, da ich das Gefühl hatte, dass er sich emotional von mir entfernt hatte. Ich fing an mich nicht mehr bei ihm zu melden und viel mehr was mit meinen Freunden und Familie zu machen damit er sehen konnte was ich für ein tolles Leben führe und das mich das attraktiver für ihn macht. Daraufhin fing er an sich mehr zu melden und fragte öfter was los sei. Ich anwortete spät und kurz mit der Begründung, dass ich mich zurzeit auf mein Leben fokussieren wolle und viel um die Ohren habe. Er wollte sich an einem Tag treffen, ich sagte ich hätte schon was mit Freunden vor. So ging das eine Woche bis er sich auch nicht mehr meldete und wir zwei ganze Tage keinen Kontakt hatten. Daraufhin meldete ich mich und sagte, dass ich nun mehr Zeit hätte. Er trennte sich von mir mit der Begründung, dass ich zu distanziert sei und er in letzter Zeit sowieso nicht das Gefühl hatte, als ob wir noch zusammen wären. Er sagte, ich hätte mich um 180 Grad geändert. Somit hatte ich meine eigene Beziehung sabotiert. Ich hatte Angst vor dem Verlassen werden und habe versucht, ihn zu manipulieren. Und sonst habe ich große Angst vor einer Abweisung. Ich habe gute beständige Freundschaften. Jedoch wenn mal eine Freundin keine Zeit hat denke ich mir, ich sei unwillkommen. Ich versuche dann immer wieder diese Gedanken loszuwerden und auch zu ignorieren, aber das ist nicht so einfach. Ich bin auch manchmal ziemlich aggressiv aber das sieht nur meine Mutter, wenn wir uns streiten, schreie ich oft laut. Sie sagt auch sehr oft, dass ich Stimmungsschwankungen hätte. Jedoch kennen Außenstehende diese aggressive Seite von mir nicht bzw haben mal erlebt, wie ich mich über etwas scheinbar Unwichtigem aufgeregt hatte. Es reicht ein Wort, eine Bemerkung, um meine Stimmung für den Tag zu ändern. Ich bin eine sehr fröhliche Person und erlebe Glücksgefühle sehr intensiv, jedoch leider auch alle anderen, negativen Gefühle auch. Somit belasten mich meine eigenen Gefühle und ich leide darunter. Ich fresse meine eigenen negativen Gefühle in mich hinein, damit jeder denkt ich wäre sehr stark. Ich habe auch hin und wieder das Gefühl, dass ich nicht genau weiß wer ich eigentlich bin, welche Merkmale mich zu der Person macht, die ich bin. Ich kann zum Beispiel durch einen Künstler, einer Rolle im Film oder durch ein Buch versuchen, die Eigenschaften der Person an mich anzunehemen. Somit hatte ich erst vor kurzem den Drang, so cool, unbekümmert und distanziert zu sein. Ich habe versucht, mal total lieb zu sein, durch eine Sängerin, die ich zu der Zeit toll fand. Ich habe meinen Traumjob so oft gewechselt, mal basierend auf einer Serie, die ich mal gesehen hatte. Es ist so, als ob ich keine Ahnung habe wer ich bin. Ich habe mich mal mit 14/15 geritzt, es war eine schwere Zeit für mich. Ich hatte und habe oft Gedanken über den Tod. Wie es wohl wäre, wenn ich nicht mehr da wäre. Was meine Mitmenschen denken würden, wie es ihnen dabei gehen würde. Ich glaube, dass meine Probleme ihren Ursprung wahrscheinlich in meiner Kindheit haben. Meine Eltern haben sich immer extrem gestritten, seit dem ich denken kann. Ich war noch ein Kind, 5,6,7,8,.. Jahre alt. Sie haben sich mit Sachen beworfen. Die schlimmste Erfahrung habe ich immer noch vor meinen Augen, dieses schreckliche Bild: Sie stritten sich wieder lauthals, meine Mama war in der Küche beim Kochen und Papa war im Wohnzimmer gleich nebenan, ich saß vor der Küche,weil ich Angst hatte, dass die ganze Situation eskalieren könnte. Während meine ältere Schwester sich bei jedem Streit immer in ihr Zimmer verkroch und alles ignorierte, blieb ich vorsichtshalber immer in der Nähe meiner Eltern. Jedenfalls rannte Papa plötzlich in die Küche, schnappte sich ein riesiges Brotmesser und ging langsam mit weit aufgerissenen Augen auf meine Mama zu. Ich stellte mich vor meine Mama und zwischen den beiden. Ich weinte und flehte. Er legte es weg und ging aus der Küche raus. Dann stritten sie weiter. Ich wurde auch manchmal von meiner Mama geschlagen, da sie eine schwere Zeit wegen Papa hatte und sie auch zu dem Zeitpunkt unter Depressionen leidete. Ich wuchs mit Streit auf bis ich 11 war und die beiden sich endlich scheiden ließen, auf den Wunsch von Mama. Ich habe keine einzige glückliche Erinnerung an meine Kindheit, also kein glückliches Familenbild. Einzeln waren sie in Ordnung, sie kümmerten sich um mich. Als ein Paar waren sie schrecklich. Ich weiß nicht, ob meine aktuellen Probleme damit was zu tun haben. Wie gesagt vermute ich auch die Borderline Krankheit bei mir. Ich ziehe eine Therapie in Betracht, aber wollte mir die Wartezeit einfach bisschen verbessern, weshalb ich hier meine aktuelle schlimme Situation beschrieben habe. Irgendetwas stimmt mit mir nicht und ich habe Angst, dass alles schlimmer werden könnte. Bitte helft mir.

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Sarah,

ich möchte dich wegen der langen Wartezeit um Entschuldigung bitten. Wenn sich an deiner Stimmung in den letzten Tage oder Wochen etwas gebessert haben sollte, freut mich das. Vielleicht aber kannst du Manches von dem, was ich schreiben werde, auch auf dein Leben im Allgemeinen beziehen - auch dann, wenn die Krisensituation, in der du uns geschrieben hast, sich entspannt haben sollte. Und natürlich hoffe ich sehr, dass es so ist.

Ich möchte für den Anfang auf deine Frage nach der Borderline-Persönlichkeitsstörung eingehen. Ich kann hierzu auch kein Fachwissen beisteuern; meine Einschätzung kommt aus den eigenen Erfahrungen, die ich in meiner Beziehung mit einem Mädchen gewonnen habe, die Borderlinerin ist. Natürlich hat meine Wahrnehmung in deinem Fall nicht wirklich etwas zu besagen - ein Experte, der dich über längere Zeit erlebt und direkt mit dir spricht, würde sich vielleicht anders äußern. Ich weiß es nicht. Trotzdem ist meine persönliche Empfindung die, dass ich dich nicht als Borderlinerin wahrnehme. Denn dein gesamter Text zeigt ja, dass du deine eigenen Bedürfnisse sehr genau kennst und auf ihre Erfüllung hinarbeitest. Teilweise hast du dabei das genaue Gegenteil von dem erreicht, was du wolltest, und teilweise hast du deine Methoden ungünstig - um nicht zu sagen, fahrlässig - gewählt. Im Ganzen aber muss man sagen, dass du in jeder Situation ein Bewusstsein deines Handels und auch der möglichen Folgen hast. Du hast ein ausgeprägtes Verständnis der Emotionen, die du bei anderen Menschen auslöst, und auch wenn dein Herz deinen Verstand immer wieder ausknockt, kann man von einer kontrollierten Handlungsweise, auch über einen langen Zeitraum hinweg, sprechen.

Dein Umgang mit deinem Exfreund war ja nicht die Folge einer Reihe von plötzlichen Stimmungsschwankungen, die dich überwältigten: Es war vielmehr ein allgemeiner Eindruck, den du von ihm hattest, und der sich bei dir durch dein tägliches Erleben immer mehr verfestigt hat. Irgendwann war es dann wohl schon nicht mehr die eigentliche Angst, ihn zu verlieren, sondern das bloße Bewusstsein, dass du ihn verlieren könntest, dass dich zu diesem Handeln bewogen hat: Ehe du ihn verlorst, so scheint mir, wolltest du unbedingt spüren, dass er sich um dich bemüht, wolltest unbedingt auskosten, dass ein Mensch dir dadurch einen Beweis erbringt, dass du liebenswert bist. Zwar bist du damit eindeutig zu weit gegangen, da du in Kauf genommen hast, dass ihr euch entfremdet. Doch hatte das Ganze eine eindeutige Linie, einen roten Faden, eine Begründung. Auch wenn dein Ex vielleicht nicht unbedingt Verständnis dafür gehabt hätte, muss man doch sagen, dass du die ganze Sache sehr kalkuliert angegangen bist. Ich sehe hier keinen Kontrollverlust, keine Versklavung durch Emotionsschübe, sondern ich habe ganz im Gegenteil den Eindruck, dass du um deine ständigen Verlustängste ganz genau weißt und versuchst, damit umzugehen. Natürlich ist es keine lohnenswerte Strategie, jemanden eifersüchtig zu machen, an dem dir so viel liegt. Doch wir können daran sehen, dass du um deinen Zustand weißt und ihn vor allem auch als ständige Gewissheit wahrnimmst: Deswegen musstest du auch in deinem Verhalten gegenüber deinem Ex so konsequent sein und konntest nicht nach ein, zwei Wochen aufhören: Wo das Problem ständig ist, muss auch die Strategie dauerhaft sein. Und hier können wir ansetzen.

Rational betrachtet, weißt du ganz genau, dass deine Ängste die Wirklichkeit weit hinter sich zurücklassen. Das hat seine Gründe: Dein Urvertrauen ist enttäuscht worden, und von deiner Kindheit her begleitet dich das Gefühl, dass alles gefährdet ist. Wenn wir mal ganz unromantisch auf die Welt schauen, ist dieser Gedanke ja auch nicht ganz falsch: Nichts ist für ewig - und niemand weiß, was morgen geschieht. Eine Beziehung endet trotzdem nur in den seltensten Fällen urplötzlich. In aller Regel ist eine lange Vorgeschichte gegeben, die ein verständiger Mensch dann schon längst wahrgenommen hat. Und wenn er sie nicht wahrgenommen hat, ist trotzdem nicht gesagt, dass sie nicht da waren. Nehmen wir einmal an, dein Exfreund hätte in der Zeit, als du zuerst Zweifel hattest, tatsächlich schon mit den Gedanken bei anderen Frauen gewesen, oder hätte dich sogar betrogen: Dann wäre das wohl der Moment gewesen, in dem dir zum ersten Mal bewusst geworden wäre, dass eure Beziehung auseinander driftet. Aber überraschend wäre es nicht gewesen. Du hättest mit Sicherheit schon vorher kleine und kleinste Zeichen bemerkt, die zeigen, dass sich in seinem Verhalten etwas verändert. Seine tatsächliche Unerreichbarkeit wäre dann nur der letzte Schritt in einem langen Prozess der Unsicherheit gewesen. Von diesem Punkt her kannst du sehen, warum ein Gefühl der Eifersucht und Verlustangst, das dich PLÖTZLICH und mit aller Macht erfasst, eben keine reale Grundlage haben kann: Selbst wenn du sehr verliebt bist, kommt so etwas nicht aus heiterem Himmel; es beginnt klein und verfestigt sich immer mehr. Wenn du dich aber in einer an sich perfekten Beziehung auf einmal an Erlebnisse erinnert fühlst, die weiter in der Vergangenheit liegen, und dich deshalb mit Verlustängsten plagst, dann ist ja die Beziehung an sich ganz unschuldig: Es ist vielmehr so, dass ziemlich zufällig ein Muster entstanden ist, das dich an etwas Anderes erinnert - aber nichts damit zu tun haben muss. Deshalb gilt es in solchen Situation, dich immer wieder zu ermahnen: Triff keine Entscheidungen und schmiede keine Pläne, ehe du nicht wirklich begründet handeln kannst. Du musst dir nicht verbieten, Angst, Eifersucht oder Unwohlsein zu empfinden. Du kannst dir jedoch sagen: "Gut, angenommen, das Ganze geht den Bach runter - dann bleiben wir doch gerade deshalb fest am Ball, um noch mehr Beweise dafür sammeln zu können." Auf diese Weise bist du dann zwar misstrauisch, aber nicht mehr in heller Aufregung; und wenn du misstraust, glaubst du - auch das ist ein Vorteil - nicht mehr mit Bestimmtheit daran, dass etwas "im Busch" ist. Du bist von einer Überzeugung zu einer Erwägung gelangt und kannst somit vorsichtiger handeln, da du ja etwas erhalten willst - was du sonst vielleicht schon verloren gegeben hättest.

Alles in allem gesehen, solltest du dich immer wieder daran erinnern, dass Verluste einen Prozess darstellen. Diesen Prozess kann man durchaus steuern: Man kann ihn bremsen, zum Stillstand bringen, beschleunigen oder auch ganz ignorieren. Mit Sicherheit ist irgendwann der "Point of no return" erreicht - in einigen Beziehungen früher als in anderen. Wenn du dich aber an diesem glaubst - was sollte dich in einer solchen Lage hindern (oder anders gesagt: was würde dagegen sprechen?) dich sofort zu trennen? Genau das hast du aber in der Vergangenheit nicht gemacht, sondern du hast versucht, den Untergang dessen, was du liebtest, auszukosten. Man könnte fast von einem Versuch sprechen, deinen Verlust (was doch das genaue Gegenteil von Kontrolle ist) zu kontrollieren. Zwar hast du mit Methoden gearbeitet, um deinen Freund an dich zu binden. Aber mit dem Verstand wusstest du, dass du ihn damit verunsichern, entnerven und somit - falls er ohnehin schon im Zweifel über seine Gefühle gewesen wäre - ihm seine Entscheidung nur erleichtert hättest. Du selbst beschreibst es so, dass du ihn fühlen lassen wolltest, was du gefühlt hast. Mit anderen Worten: Du wolltest die Dinge in der Hand behalten, auch als sie dir schon verloren schienen und du extrem frustriert warst. Und das ist es auch, was du erlernen musst: Die Kontrolle abgeben zu können.

Denn was dir in Form einer Trennung sehr drastisch begegnet, begegnet dir ja auch im Alltag abertausendfach in verkleinerter, aber oft kaum weniger belastender Form: Über einen Großteil der Dinge, die passieren - und zwar einschließlich des eigenen Handels - hat man keine wirkliche Kontrolle. Natürlich, ich entscheide, ob ich in einer Situation lächle, den Rücken zudrehe, einen Faustschlag platziere oder was auch immer. Darüber habe ich - prinzipiell zumindest - die Kontrolle. Aber eigentlich auch wieder nicht: Ich entscheide nicht, wie kurz der Moment ist, den ich Zeit habe, um einer sympathischen Person zuzulächeln. Ich muss damit leben, wenn es sie zu spät erreicht oder gar nicht, und wenn durch eine winzige Sekunde des Zögerns ein hoffnungsvoller Flirt oder eine beginnende Freundschaft schon den ersten kleinen Dämpfer haben. Ob das wirklich so ist, ist dabei unwesentlich - es genügt ja schon, dass ich es so empfinde. Wenn etwas wirklich wichtig ist, soll es perfekt sein. Und bei dir ist der Pferektionismus umso stärker ausgeprägt, weil du nach dem verlorenen Land deiner Kindheit suchst, das du nie hattest. Es gibt wahrscheinlich wenige Kindheiten, die völlig perfekt sind - aber es gibt immerhin einige, die glücklich sind, auf ihre art. Deine war es nicht, und das begleitet dich. Jeden Tag erlebst du die schiere Unmöglichkeit, die Details deines Handelns und dessen Folgen vollständig zu kontrollieren. Da du es aber immer wieder zu erreichen versuchst - ein Kampf, den du nicht gewinnen kannst - wachsen dein Frust und deine Anspannung dir im Alltag über den Kopf. Solange, bis sie in Ärger umschlagen und du "um dich schlägst", um wenigstens in der Sabotage von etwas (so wie etwa deiner letzten Beziehung) die Kontrolle zu haben. Letztendlich gibst du damit aber einen tollen Menschen und vielleicht eine gemeinsame Zukunft für ein relativ kurzzeitiges Machterlebnis auf. Das ist sehr schade, zumal du ja selbst darunter leidest.

Gleichzeitig gewinnst du dadurch ein gutes Übungsfeld für die großen Herausforderungen, die diejenigen Menschen betreffen, die dich durch dein Leben begleiten sollen: Freunde und Partner. Für den Anfang solltest du versuchen, zu der spontanen Unsicherheit und dem Ärger, die dich anfliegen, weil etwas deiner Hoffnung zuwider zu laufen scheint, eine Distanz zu entwickeln: Wenn du dich dem Gefühl ergibst, dass jemand sich gerade nicht meldet oder gerade nicht zurückgegrüßt hat, weil es ein Problem mit dir gibt (während es in Wirklichkeit tausend andere Gründe geben kann), bleibst du auf lange Sicht Sklavin deiner Gefühle. Doch wenn du beginnst, zwischen deinem Handeln und deinem Gefühl eine rationale Ebene einzuziehen, und dich daran gewöhnst, in jeder Situation erst einmal den Gedanken "Wie wahrscheinlich ist das, was ich spontan annehmen will, wirklich?" durchzuspielen, dann wird deine Verletzbarkeit nach und nach geringer werden. Natürlich ist es nicht das Ziel, dich ganz gegen Emotionen abzuschirmen - damit wärst du wiederum gefangen in einem unerfüllbaren Anspruch. Manchmal muss man sich erlauben, irrational zu sein - es ist menschlich und notwendig. Auch Liebe ist ja ein zutiefst irrationales Gefühl; es ist totale Hingabe, und wenn man sie nicht zulassen kann, entgeht einem unfassbar viel. Gerade deswegen solltest du dir zuerst ein Ritual der Achtsamkeit angewöhnen, damit du - auch wenn du einmal wütend oder verängstigt bist und es partout nicht anders kannst und willst - früher oder später zu vernünftigem Handeln zurückkehrst. Bisher hast du es so gehalten, dass du von Emotionen direkt zu Annahmen über Tatsachen kamst, nach denen du dich gerichtet hast - ohne Rücksicht darauf, wie sinnvoll oder wie wahrscheinlich es ist, was du annimmst und tust. Du solltest einen Zustand anstreben, in dem es deine Gewohnheit ist, auch gegenüber dir selbst zu argumentieren und erst einmal eine Weile zu überlegen, ob du wirklich Grund hast, etwas zu sehen, wie deine spontane Empfindung es sagt. Oftmals wird sie richtig liegen - manchmal aber auch nicht.

Früher oder später wirst du dann bemerken, dass ein Großteil der Dinge, die du tust, in ihren Auswirkungen gar nicht so dramatisch sind, ja, dass sie oftmals schnell vergessen werden. Jeder Mensch hat ja eine andere Wahrnehmung der Ereignisse, und was dir als weltbewegend, peinlich und einschneidend vorkommt, hat ein Anderer womöglich bald vergessen. Das kann frustrierend sein, aber man kann es auch als großes Geschenk nehmen: Ich bin nicht so wichtig, dass alles sich nur dafür interessiert, wie man mir schaden, mein Leben beschädigen, mir die Dinge nehmen kann, die ich liebe. Und wenn du dich daran gewöhnt hast, dir klar zu machen, dass du von einer falschen Voraussetzung ausgehst, wenn du meinst, jeder wolle sich bei der ersten Gelegenheit von dir abwenden und du müsstest perfekt sein, um angenommen zu werden (weil sich schlicht niemand so viele Gedanken über einen Menschen macht, als dass er perfekt sein müsste - auch über dich nicht), dann wird dir auch klar werden, dass du dich auch einfach mal nur treiben lassen kannst. Denn was hast du zu verlieren? Diejenigen Menschen, denen wirklich etwas an dir liegt, werden dich gerade wegen deiner Marotten und deiner schwachen Momente schätzen und lieben - und die, die davon unangenehm berührt sind, liegen von vorneherein nicht auf deiner Wellenlänge. Zwar hat jeder Mensch immer noch etwas, woran er oder sie arbeiten kann - doch das sollte dir besser jemand, mit dem du gut kannst, direkt kommunizieren, statt dass du es aus Redepausen, zufälligen Gesten oder schlechter Laune, die du auf dich beziehst, schließt. Wem du wichtig bist, der sollte auch die Stirn haben, mit dir zu reden, wenn du einen Fehler machst. Wenn er oder sie das nicht kann, dann kann auch das Problem nicht so gewichtig sein.

Die emotionale, manchmal auch wütende Seite deiner selbst, die du beschrieben hast, muss vielleicht auch ihren Platz haben. Natürlich ist es schwer vertretbar, wenn es zu lauten Streitszenen kommt. Aber auch nur dann, wenn sie keinen Effekt zeigen. Wenn du dich immer und immer wieder streitest, weil die Kommunikation einfach nicht gelingen mag, dann wächst deine Wut dadurch nur noch. Dann kann es sinnvoller sein, die Konfrontation zu meiden, bis du dich innerlich gesammelt hast und genau weißt, was du sagen willst. Es ist zwar sinnvoll, an sich zu arbeiten - du musst dir aber auch die dazu nötige Zeit geben. Wenn es dir Sicherheit gibt, über den Stand deiner Psyche Bescheid zu wissen, kannst du natürlich wegen deiner Überlegung zu Borderline einen Spezialisten aufsuchen; ich selbst denke allerdings, dass es für dich das Wichtigste ist, von deiner ständigen Gehetztheit aufgrund von Verlustängsten loszukommen. Das gelingt dir aber nicht durch eine Therapie, sondern durch konsequentes Anwenden in deinem eigenen Alltag. Daher mag der Rat dir ungewöhnlich erscheinen - aber nach meinem Text verstehst du ihn: Nimm dich selbst nicht so wichtig. Und damit ist natürlich nicht gemeint, dass du nicht auf dein Recht aller Arten bestehen solltest, sondern dass du den Gedanken als Schutz verwenden solltest, dass nicht alles mit dir zu tun hat und nicht jedermann zu deinem Schaden intrigiert. Hast du das einmal verinnerlicht, wird es - da bin ich sicher - immer weiter aufwärts gehen. Aber bis dahin musst du auch dir selbst gegenüber so viel Nachsicht haben, dass du viele Altlasten mitbringst, und dass niemals alles klappen kann (einschließlich Beziehungen). Aber ihr Fortbestehen entscheidet sich nicht daran, ob dein Verhalten an einem Tag oder in einem Moment ungünstig war, sondern daran, dass sich über einen langen Zeitraum zeigt, dass du mit jemandem nicht harmonierst. Und wenn du das, was du täglich erlebst, sorgfältig prüfst, statt immer das Schlimmste zu ahnen, wird dein Handeln sich insgesamt mehr zu deinem Vorteil auswirken. Und das wäre so schön - denn wie du es beschreibst, bist du ein sehr engagierter Mensch. Und das ist auch mein Wunsch an dich: Engagiere dich weiter so intensiv - aber versuche nicht mehr, dir zu schaden. Du verdienst etwas viel, viel Besseres.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul