Problem von Jolina - 18 Jahre

Ich will nicht mehr leben

Immer wieder passiert das Selbe, als würde ich in einer Zeitschleife stecken... es passiert was Gutes, dann gibts Probleme dann ist alles wieder gut und zu guter letzt knallt es dann und es geht mir für den Rest des Jahres schlecht... Ich hab das Gefühl mir kann niemand helfen, weil ich das Gefühl nicht beschreiben kann. Ich fühl mich einfach nur noch schwer als würde ich bald anfangen nicht mehr atmen zu können oder als wäre ich in einem Kriegsgebiet gefangen... Klar hab ich ne beste Freundin, aber wenn ich das Thema Ritzen anspreche wird nicht drüber geredet sondern einfach nur gesagt dass ich es nicht tun soll dies das. Mit meiner Mutter kann ich auch nicht reden die macht mir dann nur Vorwürfe, dass ich das selbe Problem schon wieder habe oder das ich daran schuld sei was manchmal passiert mit meiner Art oder so. Aber ich weiß gar nicht wie meine Art ist, weil ich mich mittlerweile selbst nicht mehr kenne... Ich habe das Gefühl ich lebe im falschen Körper der immer das tut, was mein Verstand nicht will... Ich hab keine Kontrolle mehr uns könnte einfach nur noch schreien... Ich würde gerne mal weinen, aber ich hab angst nicht mehr aufhören zu können und anschließend zu ersticken. Langsam aber sicher pirscht sich der Tod immer mehr von hinten an mich ran, und ich kann rein gar nichts dagegen tun, mich nicht mal für ne Sekunde umdrehen. Ich glaube das Ende ist unausweichlich und es gibt keine andere Lösung, aber trotzdem bitte ich ein letztes Mal um Hilfe, weil ich einfach nicht mehr weiter weiß ...
Liebe Grüße Jolina

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Jolina,

es würde dich wahrscheinlich nur verärgern - und völlig zu Recht! - wenn ich jetzt schriebe, nach dem Motto, es gibt immer einen Weg aus dem Dunkel. Gerade nachdem ich dich so lange habe warten lassen (und ich hoffe so sehr, dass in der Zwischenzeit nichts Schlimmes passiert ist!) muss es dir wie Hohn vorkommen, wenn ich so tun würde, als wäre das alles nur eine Frage von Entscheidungen.

Du hast sehr eindrücklich beschrieben, dass du den Tod als etwas Körperliches empfindest, das immer näher kommt. Du verbietest dir bereits, deine Gefühle auszudrücken, aus Angst, dies könnte dich förmlich schwinden lassen, bis nichts mehr da ist. Doch so schrecklich diese Vorstellung ist, zeigt sie mir doch: Irgendwo in dir drin, mag noch ein Funke an Lebenswillen verborgen sein. Denn obwohl du die Gegenwart des Todes fühlst, bereitet dir der Gedanke immer noch Angst, ihn herbeizurufen. Und hier können wir anknüpfen.

Mit was soll man eine so richtig tiefe, erdrückende Depression vergleichen? Berühmte Menschen, die unter seelischen Qualen und Todesängsten litten, haben von ihrem "schwarzen Hund" (Winston Churchill) oder von der "schwarzen Leber" (Stefan Zweig) gesprochen. Ich persönlich würde es mit einem großen, schwarzen Schimmelpilz vergleichen: Dein Innerstes - deine Seele - ist wie mit einem schwarzen Film überzogen, der immer dichter und dicker wird, je mehr deine Verzweiflung zunimmt. Mit jeder Verständnislosigkeit, die du erfährst, mit jeder Zurückweisung, mit jeder Geringschätzigkeit, die du erfährst, wächst deine innere Wunde und breitet sich immer wütender, immer schwärzer in dir aus. Auf diese Weise entsteht ein Teufelskreis: Während du einerseits nicht sehnlicher wünschst, als endlich von deinem Leiden erlöst zu sein, den Tod sogar fürchtest, führt jeder Versuch, dich zu öffnen, nur dazu, dass du alles noch sinnloser, noch entsetzlicher empfindest. Du ziehst dich in dich selbst zurück, weil dir kein anderer Weg gangbar erscheint, und verschmilzt irgendwann ganz mit der Finsternis; und das ist der Zustand, den du fürchtest: Dass deine aufgestaute Verzweiflung aus dir herausbricht, dich einhüllt und erstickt.

Das ist aber ein Trugschluss; denn die Dunkelheit wird nur mächtiger, je weniger Raum du ihr zu geben versuchst. Daher kann ich dir nur dringend raten: Lass es aus dir herausfließen! Und streng genommen meine ich nicht nur, dass du es zulassen solltest; du solltest es sogar herausfordern. Um dich von der allumfassenden Trauer lösen zu können, musst du sie erst für eine Weile suchen. Vielleicht gelingt dir das durch einen traurigen Film oder ein Buch. Wichtig ist aber: Schäme dich deiner Tränen nicht! Denn der Grund dafür, dass du dein Elend in dir verschließt, ist das Unverständnis deiner Umgebung. Dass deine Mutter und Andere kein Einsehen in deine Probleme haben wollen, führt bei dir zu dem Eindruck, du müsstest, um überleben zu können, alles wegsperren. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Wenn du auf deinen Zustand wirklich aufmerksam machen willst, wenn du vor allem selbst erfahren willst, wohin es für dich gehen soll, dann musst du den dunklen Schmerzensort aufsuchen und alles erleben. Du musst vielleicht einmal weinen, bis es nicht mehr geht; vielleicht wirst du schreien müssen. Aber allein, dass sich etwas bewegt, dass du nicht mehr nur erleidest, sondern dein Leid nach außen zeigst, bedeutet eine Veränderung: Weg vom Erdulden, hin zur Auseinandersetzung. Möglicherweise wird deine Mutter nie ganz verstehen können, was in dir vorgeht - das ist schrecklich genug. Doch du selbst kannst nur dann den Weg zurück in ein selbstbestimmtes Leben gehen, wenn du dir nicht von außen diktieren lässt, wann du verletzt und schmerzerfüllt zu sein hast, sondern dich ganz deinem Drang hingibst. Deine Seele sagt dir, was sie braucht, wenn sie krank ist - und in diesem Fall möchte sie sich hingeben, will wissen, dass sie nicht vergessen ist.

Doch vorher musst du für dich entscheiden: Was liegt mir am Leben? Habe ich noch einen Gedanken, und wenn es nur der leiseste ist, übrig, für eine Ausbildung, Beruf, Beziehung, Familie, Reisen, Filme, Freundschaften? Was WILLST du vom Leben, Jolina? Was waren deine Träume, ehe dich die Dunkelheit eingefangen hat? Deine Angst davor, deinen Tränen freien Lauf zu lassen, mag auch daher kommen, dass du dir abgewöhnt hast, Wünsche, Pläne und Träume zu hegen; es ist schwer, zu weinen, wenn man nicht recht weiß, worum man weinen soll. Ich bin aber sicher: Da gab es etwas. Und da kann es wieder etwas geben. Versuche mit aller Kraft, dir vorzustellen, wie du leben würdest, wenn du es selbst bestimmen könntest. Und sage dir, dass das nicht etwa vergebliche Trugbilder sind, nein - auch wenn du vielleicht nie das beste Verhältnis zu deiner Mutter haben wirst, Jolina, bist du doch ein junges Mädchen, deren Leben gerade erst beginnt. Du erschaffst dir deine eigene Welt, und du kannst selbst anderen Leuten die Freundlichkeit und Güte austeilen, die dir versagt geblieben sind. Dafür wirst du einmal deinen Frieden mit deiner Mutter machen - sie hat es, zum Schaden für sie selbst, leider nicht besser gewusst. Aber willst du, nachdem du soviel erlitten hast, und wo du doch genau weißt, wonach jemand in einer solchen Situation sich sehnt, der Welt wirklich versagen, sich von dir helfen zu lassen? Du hast noch etwas zu geben, Jolina. Du hast noch sehr viel zu geben. Und deshalb kannst du auch vom Leben noch viel erwarten. Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen; nicht sofort. Aber mit kleinen Schritten kommst du dem Ziel näher.

Beginne mit kleinen Schritten: Versuche, um dich herum Sauberkeit und Ordnung herzustellen. Das Aussehen deines Zimmers und deines Bettes, der Zustand, in dem deine Schulsachen, deine Sportkleidung und so weiter sind, spiegelt immer auch deine innere Wirklichkeit wieder; und ebenso, wie dein Inneres auf dein Äußeres ausstrahlt, und auf deine ganze Lebensführung, kannst du deinen Heilungsprozess unterstützen, indem du dich bemühst, alles in Ordnung zu halten, Kontrolle über deinen engsten Lebenskreis auszuüben. Hefte nicht alles wahllos ab oder lass deine Sachen liegen, wo du gerade gehst und stehst, weil es dir sowieso gleichgültig ist - sondern überlege dir ein System, wie du schon morgens in einer geordneten Umgebung aufwachen, und abends in einem gemachten Bett dich zum Schlafen legen kannst. Von Sorgen und Ängsten, von Trennungen und Todesfällen kann man immer überrascht werden; von Klassenarbeiten nicht. Wenn du versuchst, jedes Mal, wenn du mit dir allein bist, deine Gedanken darauf zu richten, wie du vielleicht noch eine Ecke deines Regals umräumen, dein Fensterbrett dekorieren oder deine Wand schmücken könntest, erscheint das auf den ersten Blick als lächerlich kleine Geste. Tatsächlich aber wird, wenn du eine nach der anderen aneinanderreihst, das Band mit dem Leben aufs Neue geknüpft. Es wird nicht leicht, es ist auch lange noch nicht alles - aber es ist ein Anfang. Du musst selbst darüber entscheiden, in was für einem Raum du leben möchtest, welches Licht du um dich haben, welche Farben du sehen, welche Gegenstände du berühren willst - all das sind alltägliche, aber unfassbar wichtige Dinge. Denn wie will man das Ruder im Großen in der Hand behalten, wenn man es im Kleinen nicht hat?

Das Nächste ist: Suche nach körperlichen Erfahrungen. Gehe jeden Tag mindestens einige Minuten nach draußen, um Wind, Regen und Kühle - oder die Sonne - spüren zu können. Versuche dich auszupowern, wenn du es irgendwie kannst. Schaffe dir kleine Rituale: Ein heißes Bad vor dem Schlafengehen; eine bestimmte Filmszene, die du magst, als Aufmunterer nach der Schule; eine Süßigkeit, mit der du dich belohnst. Wähle deine Kleider sorgfältig aus, und behandle sie sorgfältig - fasse jeden Gegenstand so an, als könnte der gerade begonnene Tag der wichtigste von allen sein. Dass du große seelische Prüfungen zu bestehen hast und das auch nicht verstecken sollst, heißt noch nicht, dass du dich selbst deiner Würde berauben oder deine Schönheit nicht zeigen solltest. Vielleicht wird dir all das eine Weile zuwider sein - aber es führt kein Weg daran vorbei: Wenn du wieder leben möchtest, musst du das Leben in jeder Einzelheit umarmen. Zuerst kleine Bereiche, dann fassen die größeren dich nach und nach wieder ein.

Schließlich, Jolina - und das ist nicht nur ein allgemeiner Rat, sondern es hat besondere Dringlichkeit: Suche dir Hilfe. Das muss nicht sofort geschehen, aber wenn dein Zustand sich langfristig nicht bessert, wäre für dich ein geschützter Rahmen sinnvoll, in dem du dich deinen Ängsten stellen und langsam gesund werden kannst. Vielleicht hilft es dir für den Anfang, wenigstens einen Lehrer oder Lehrerin, denen du vertraust, einzuweihen - auch damit man in der Schule etwas Rücksicht auf dich nehmen kann, falls dich mal ein gewaltiger Schmerz unvorhergesehen überwältigt. Aber für die gesamte kommende Zeit bitte ich dich, darüber nachzudenken, ob eine stationäre Therapie nicht eine schlüssige Idee sein könnte. Du beschreibst deinen Zustand mit sehr drastischen Worten; ich hoffe, du wirst es mir nicht übel nehmen, wenn ich das als ebenso drastisch verstehe und in dir eine junge Frau sehe, die wirklich die beste mögliche Hilfe braucht. Und die kann ich dir nicht bieten. Wenn du reden möchtest, kannst du uns gerne wieder schreiben. Auch ich werde dir dann wieder antworten, und zwar diesmal - großes Ehrenwort - so zeitnah wie nur möglich.

Vorerst bleibt mir, dir zu wünschen: Suche die Kraft, zu leben! Und sie wird dich finden. Dass du es kannst, daran glaube ich ganz fest.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul