Problem von Anna - 21 Jahre

Abschlussfeier - Sorgen und Ängste

Hallo.
Vor sehr vielen Jahren hab ich mich an euch gewendet und leider keine Antwort erhalten. Aktuell stehe ich erneut vor dem Problem, was ebenfalls wieder die Schule betrifft.

Ich muss sagen, das ich nun in meiner schulischen vollzeit Ausbildung in einer wirklich tollen Klasse bin. Es ist ein sozialer Beruf und das merkt man an den Leuten auch.

Nun beginnt die Klausurphase bald und im Sommer werden wir fertig sein. Dann gibt es auch eine große Abschlussfeier mit Zeugnisübergabe, gemeinsam auch mit unseren vier Parallelklassen.

Ich möchte da absolut nicht hin. Nicht weil ich keine Lust habe oder die Klasse nicht mag - ganz im Gegenteil. Ich möchte mich nicht 'schön machen' an diesem Tag, da es für mich einfach das schlimmste ist. Ich hasse Kleider und bin nicht dieses Typische Mädchen. Ich bin übergewichtig und finde mich selbst auch nicht wirklich schön. Mittlerweile würde ich sagen, das ich mich akzeptiere.

Es ist nicht so, das ich keine Frau sein möchte. Oft wird das Gedacht. Aber ich bin gerne eine Frau. Ich mag nur einfach den Look einer Frau nicht. Verlieben tue ich mich in Männer.

Ich fühle mich wohl in meinen Schwarzen oder Grauen Tshirts, meinen dunklen Männerpullovern, meinen dunklen Jogginghosen. Ich trage nie etwas anderes. Das würde ich bei der Abschlussfeier auch nicht wollen. Ich möchte kein Kleid tragen, nichts helles, so wie die anderen aus meiner Klasse, die sich jetzt schon den Kopf über ihr Aussehen zerbrechen.

Ich möchte es einfach nicht. Ich würde gerne hin, aber nicht mit der Voraussetzung. Meine Lehrerin sagt auch bereits das sie sich freut uns dort alle so gestylt und zurecht gemacht zu sehen. Aber das bin ich nicht.

Manche würden nun sagen: Stell dich nicht so an, es sind nur ein paar Stunden. Das kann man dafür doch mal aushalten. Für das Team, die Klasse. Aber ich kann das nicht tun, dieses verstellen, dieses mich aufhübschen. Ich hoffe Du, wenn du das Liest, verstehst mich. Ich würde von allen angeschaut werden auf der Bühne, wenn alle schön sind, und ich so, wie ich mich wohlfühle. Sie würden sich abwertendes Denken, da bin ich mir sicher. Nicht meine Klasse, aber die anderen, die Lehrer und Lehrerin, die Schulleitung.

Ich kriege jetzt schon kein Auge zu bei dem Gedanken an diese Abschlussfeier. Laut Lehrern ist es eine schulische Pflichtveranstalltung. Es gibt dort ja auch die Zeugnisse in die Hand. Sie würden mich alle sowieso nicht verstehen. Leider.

Wie soll ich das angehen?

Hat jemand einen Rat für mich...

Anna

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anna,

es tut mir sehr leid, dass du in der Vergangenheit keine Antwort bekommen hast. Ich hoffe, dass sich für deine damaligen Schwierigkeiten eine Lösung gefunden hat und dass es dir hilft, wenn du jetzt eine zeitnahe Antwort erhältst.

Du hast verständlicherweise Angst, die Gepflogenheiten zu übergehen. Diese Angst kommt aber andererseits - so verstehe ich es - ja gerade nicht daher, dass du dich nicht respektiert fühlst und fürchtest, dass alle nur auf einen Fehltritt von dir warten. Du bist vielmehr unruhig, eben weil du in einer Gruppe bist, in der du dich angenommen fühlst, und eine Ausbildung gemacht hast, die du wirklich mit Herzblut verfolgst. Dein Dilemma ist also nicht, dass du bei der Abschlussfeier die letzte Gelegenheit verpassen würdest, vor dem Rest der Mannschaft Gnade zu finden - das ist es nicht. Du möchtest den Menschen, die deine Ausbildungszeit für dich schön gemacht haben, Wertschätzung entgegen bringen. Das aber lässt sich mit deinen persönlichen Überzeugungen und deinem körperlichen Wohlbefinden nicht vereinbaren.

Deine Unruhe ist gut verständlich - denn es wäre ja im Grunde widersprüchlich, wenn du diese für dich so prägende und schöne Zeit mit einem Ritual abschließen würdest, das dir zuwider ist. Und das "Aufhübschen" (speziell der Frauen) ist nun einmal ein gesellschaftliches Ritual. Es geht dabei (behaupte ich) weitaus weniger darum, wie man / frau tatsächlich ausgesehen hat; seien wir ehrlich, wie viele Leute werden sich wohl nach Jahren die Fotos ihrer Abschlussfeier ansehen und NICHTS an sich auszusetzen finden, egal, wie viel Mühe sie sich vorher gemacht haben? Es ist von vorneherein klar, dass es den perfekten Look gar nicht gibt, und dass die Mode uns gnadenlos überholt, während wir noch überlegen, ob wir uns diesem oder jenem Trend anschließen sollen. Nichts, was heute als "schön" angesehen wird, kann das auf ewig bleiben. Und es liegt auch nicht in der menschlichen Natur, dass alle dasselbe Schönheitsempfinden haben.

Kurz und gut: Auch deinen MitschülerInnen - wenn sie vernünftig sind - muss von Anfang an klar sein, nicht jeder wird sie schön finden, man wird in zehn oder zwanzig (gar nicht zu reden von fünfzig) Jahren sich selbst nicht mehr schön finden, und außerdem - wenn hundert Leute sich aufbrezeln, verschwindet im Endeffekt ja der Einzelne unter dem Glitzer. Das Ganze ist also eine Art Wettbewerb, von dem alle wissen, dass sie ihn auch durch die ausgeklügeltste Planung nicht gewinnen können: Diejenige, nach der sich alle umdrehen, wird gut möglich selbst gar nicht damit gerechnet haben. Dafür wird sie aber eher dadurch die Blicke auf sich ziehen, dass sie sich was getraut hat. Und nun - du hast vor, dich was zu trauen, oder wünscht es dir wenigstens. Warum dann nicht auch dazu stehen?

Der Schönheitswettbewerb hat keinen eigentlichen Gewinner, denn "Schönheit" ist eine wandelbare Kategorie. Es gab und gibt Kulturen, in denen rasierte Frauenköpfe, schielende Augen und schiefe Zähne als "schön" empfunden werden - glaub mir das oder nicht. Bei dem, was deine Mitschülerinnen gerade bewegt, geht es um etwas Anderes: Alle wollen schön sein - es werden auch alle schön sein; aber das ist es nicht, was diesen Moment besonders macht. Das Aufbrezeln dient ja gerade dazu, um zu unterstreichen, dass der Moment so bedeutungsvoll IST. Das ist eine Gepflogenheit. Wenn du nun in Jogginghosen und Pullover auftauchen würdest, dann würden sich mit Sicherheit viele Leute denken, dass es für sie auch einfacher so gewesen wäre - und dich somit in gewisser Weise beneiden. Wenn Sie trotzdem die Nase rümpfen, dann nicht, weil sie nicht verstehen, warum du das machst, sondern weil sie dir vorwerfen, dass du nicht beachtet hast, warum SIE das anders machen: Sie werfen dir nicht vor, dich als Person nicht schön gemacht zu haben. Sie werfen dir vor, den Anlass nicht gewürdigt zu haben - so, wie es die Gepflogenheiten vorschreiben. In Wahrheit weiß natürlich jeder, dass Wertschätzung keine Frage des Aussehens, sondern des Herzens und des Auftretens ist. Aber die Konventionen geben uns im Alltag Sicherheit: Wenn ich weiß, wie ich mich unter bestimmten Bedingungen (zum Beispiel bei einem Fest) zu verhalten habe, was ich anziehen und wieviel Mühe ich darauf verwenden soll - dann kann ich zwar immer noch viel falsch machen. Aber ich weiß zumindest, dass ich gewisse Dinge nicht mehr selbst überlegen und damit womöglich daneben liegen könnte. Bei Frauen ist das vielleicht (in unserer Kultur) das "kleine Schwarze" oder dergleichen; bei Männern Hose und Sakko. Man macht damit nichts falsch, deshalb erleichtert es. Aber es schafft auch neue Schwierigkeiten.

Jetzt kommt nämlich der Schönheitswettbewerb ins Spiel: Die Kleiderordnung hilft zwar, mögliche Quellen für Peinlichkeiten zu umschiffen. Sie nimmt den Menschen aber auch das Individuelle und Eigene, macht sie gleich und verwechselbar. Deshalb muss das konventionell "Schöne" noch weiter auf die Spitze getrieben werden, müssen es besondere Kleider, besondere Krawatten und besonderes Make-Up sein... alles, damit man in seiner Angst trotzdem noch als individueller Mensch erkennbar ist. Du begehrst dagegen auf: Du wünschst dir, das zu tragen, was dich ausmacht, was für dich bequem ist - und worin du wertgeschätzt werden möchtest. Du kannst sicher sein, dass es vielen so geht. Du jedoch hast aufgrund deiner Vorgeschichte weniger Bereitschaft, dich einfach in Regeln zu fügen, die nicht auf dich zugeschnitten sind, sondern eine Belastung darstellen.

Wenn alle, die dich in deinen Lieblingsklamotten sehen würden, das auch anerkennen könnten, wäre es für dich vielleicht einfacher, zu dir zu stehen. Deine Angst entsteht aber, weil du das nicht wissen kannst - weil du sogar damit rechnen musst, dass es das genaue Gegenteil sein wird. Doch am Ende hast du nur zwei Möglichkeiten: von Leuten schief angesehen zu werden, die du mit großer Wahrscheinlichkeit zum Großteil nie wieder sehen wirst - allein schon deswegen nicht. Was die betrifft, die du wiedersehen möchtest: Nun, die sollten deine Beweggründe verstehen können und sie akzeptieren. Wenn nicht, sind sie es auch nicht wert. Und was den Rest betrifft, gibt es eine überschaubare Anzahl von Möglichkeiten, wie sie deine Kleidung deuten könnten: Sie könnten sie als das auffassen, was sie in gewisser Weise ist - ein gewolltes Aufbegehren gegen die Konvention, eine Herausforderung. Wenn das geschieht, werden sie dich vielleicht als verbohrt und schamlos ansehen, aber gleichzeitig mit Sicherheit auch bewundern. Denn es gibt nicht viele, die dazu den Mut hätten - ob sie es nun sinnvoll und richtig finden oder nicht. Sie könnten darin auch ein Zeichen von Mut sehen, der Respekt verdient - das wäre ebenso in deinem Sinne. Sie könnten es schlicht als Folge von fehlender Planung sehen, weil du vergessen oder übersehen hast, wie alle sich rausputzen sollen - das wäre auch ein negatives Urteil, aber zumindest noch eines, bei dem man schmunzeln kann. Nur die vierte Möglichkeit ist wirklich absolut negativ: Sie sehen dich als unsensibel und respektlos an, weil du (vermeintlich) nicht reflektierst, wie wichtig und würdig dieser Anlass ist. Für diesen Fall solltest du dir in Erinnerung rufen: Alle, die sich an die Konventionen klammern, lauern gleichzeitig nur auf solche, die sie verletzen, Worüber sollten sie sich sonst das Maul zerreißen? Es ist besser, sie lästern über einen Menschen, der die Konvention bewusst und vollständig verletzt hat, also seine Gründe dafür hatte, als über jemanden, der sich verzweifelt Mühe gegeben hat, aber trotzdem irgendein Detail nicht zu ihrem Gefallen gerichtet hat - sei es der Kragen, der Ausschnitt oder der Lidschatten. Es ist egal. Irgendetwas und irgendjemanden wird es immer treffen. Aber jeden, der sich nicht erkundigen will, was dich bewegt hat, brauchst du nicht wiederzusehen - und die Anderen werden irgendwann sehr wahrscheinlich mit Hochachtung davon sprechen.

Natürlich könnte ich dir jetzt sagen, was dir Andere auch schon gesagt haben. Ich könnte behaupten, deine Überwindung stehe in keinem Verhältnis zu einer völlig gelungen Abschlussfeier. Aber das wäre eine glatte Lüge. Denn jeder, der die Feier besucht, entscheidet selbst, wie er diesen Anlass verbringt und ob seine Gedanken und sein Verhalten dem angemessen sind. Sich an Äußerlichkeiten oder Einzelheiten (und bei einer Feier mit womöglich hunderten Teilnehmern ist ein einzelner Mensch nur eine Einzelheit) festzuklammern ist kleinlich und jeder schadet sich damit am Ende selbst. Dann einem Menschen, der sich vielleicht nicht an den Dresscode gehalten hat, die Schuld dafür zu geben, dass man selbst keine schöne Feier hatte, ist selbstgerecht und lächerlich. Im Gegensatz zu deinen Mitschülerinnen, die Freude daran haben (wenn auch ebenso Stress), sich wenigstens dem Gefühl hingeben zu können, an diesem Tag die Schönste zu sein, hast DU keine Freude an den Gepflogenheiten, sondern würdest sie gerne hinter dir lassen. Dann tu das. Damit verlangst du zwar auch viel von dir - vergiss aber nie: Im Nachhinein wird es sich richtig anfühlen. Denn DU gehörst zu denen, um die sich diese ganze Feier dreht. Da sollst du auch das Recht haben, zu sein, wie du bist. Anders macht es keinen Sinn.

Die andere Frage wäre, ob du dich jemandem anvertrauen willst - oder es einfach tun. Vielleicht wäre es sinnvoll, deine Lehrer (oder sagen wir: Nicht alle, sondern die, deren Meinung dir wichtig ist) darüber zu informieren. Andererseits musst du immer damit rechnen, dass es 1) nicht verstanden wird und 2) aus der ganzen Sache mehr gemacht wird, als sie eigentlich bedeutet. Es ist deine Abschlussfeier - du entscheidest, wie du dorthin gehst. Ich würde dir etwas Anderes gesagt haben, da bin ich ganz offen, wenn du zu der Hochzeit eines guten Freundes gingest oder zum Geburtstag deiner Oma - da reden wir von anderen Fällen, doch in diesem Fall bist du selbst (mit) die Hauptperson. Du musst selbst entscheiden, ob du quasi "um Erlaubnis fragen" willst (wohl wissend, dass du dich nicht daran halten willst und wirst), oder ob du dir die Überlegenheit leisten möchtest, die dir zusteht: Deinen besonderen Tag als du selbst zu verbringen. Es wird nicht leicht werden - darüber machst du dir sicherlich auch keine Illusionen. Deshalb solltest du dir überlegen, wie du reagieren wirst, wenn du darauf angesprochen, kritisiert oder gar verspottet wirst. Da du eine Diskussion nicht gewinnen kannst - wer sich darüber aufregt oder lästert, WILL das und keine Argumente hören - solltest du deine Entgegnung kurz halten. Du kannst sagen: Ich gehe zu meiner Abschlussfeier so, wie ich mich wohlfühle. Ich habe weder Zeit noch Lust, eine Puppe aus mir zu machen." - oder etwas von ähnlicher Länge. Nicht zu scharf, doch musst du auch Überzeugung in deine Stimme legen. Es wird nicht das letzte Mal in deinem Leben sein, dass du vor der Frage stehst, ob du dich den sozialen Regeln beugen willst oder nicht - und deine Abschlussfeier ist letztlich nur der Anfang. Der erste in einer langen Kette von Terminen, bei denen dein persönliches Wohlbefinden mit dem kollidiert, was "üblich" ist oder "sich gehört". Du wirst jedesmal von Neuem abwägen müssen - diesmal aber hast du, wie ich finde, deine Entscheidung im Grunde schon getroffen. Nur bist du nicht sicher, ob du sie auch durchsetzen und dazu stehen kannst. Ich rate dir: Tu es. Denn du gewinnst dabei mehr, als wenn du es nicht tust.

Ich wünsche dir die Sicherheit, die du brauchst, deine Entscheidungen zu wahren und zu verteidigen - jetzt, morgen und für dein weiteres Leben.

Wenn du mir berichten möchtest, wie die Sache ausgegangen ist, würde ich mich sehr freuen. Ich verspreche dir, dass ich dich nicht übergehen werde.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul