Problem von Niwin - 20 Jahre

Ich fühle mich überfordert und ausgelaugt

Ich bin total überfordert mit irgendwie allem. Ich gehe in die zwölfte Klasse eines wirtschaftsgymnasiums und bin ohne Ende am lernen. Wenn ich nach Hause komme, ziehe ich mich um lerne.
Essen gibts nicht. Dafür hab ich überhaupt keine Zeit. Mein Vater investiert sein ganzes Geld in neue Immobilien. Mittlerweile haben wir 14 Häuser. Den ganzen, damit verbundenen papierkram wälzt er alles auf mich ab (Mietverträge, Finanzamt, Steuern, Rechnungen, Telefonate und noch viel mehr), natürlich unentgeltlich. Ich habe aus dem Mund meines Vaters nie ein Wort des Dankes oder der Anerkennung gehört. Ich höre bloß oft von meiner Mutter, dass er sehr dankbar ist, dass ich das alles für ihn mache und deswegen habe ich ein total schlechtes Gewissen und, wenn ich ehrlich bin, Angst ihm zu sagen, dass mich das alles überfordert. Ich hab vor meinem eigenen Vater Angst, weil er mich früher fast täglich ziemlich hart geschlagen hat. In der Schule komm ich kaum noch hinterher und meine Noten sind nicht die besten. Obwohl ich von mittags (nach der Schule) bis spät in die Nacht am lernen bin. Ich komme mir zu Hause vor wie in einer Diktatur. Das Wort meines Vaters ist Gesetz, wenn nicht gibts prügel, ich darf mich nicht mit Freunden (Jungs) unterhalten, ich darf meine beste Freundin nie besuchen gehen (weil ihr Vater zu Hause ist). Es ist mittlerweile soweit gekommen, dass ich viel lieber in der Schule bin und dort auch jeden Tag bis drei Uhr bleibe, als nach Hause zu gehen. Ich schlafe kaum noch, weil ich nur noch lerne. Ich will unbedingt mein Abitur bestehen und danach sofort weeit wegziehen. Ich hasse es mittlerweile zu Hause. Jeder erwartet was von mir.

Meine Schwester hat ihr Abitur schon geschafft und studiert jetzt. Das Abitur hat sie aber grade so noch gepackt und sie musste nicht die kleine dumme Sekretärin spielen

Nuala Anwort von Nuala

Liebe Niwin,

du hast viele Schwierigkeiten benannt, mit denen du aktuell zu kämpfen hast. Allein dein Abitur als wichtigen Meilenstein in deinem Leben zu bestehen, ist schon eine Herausforderung. Doch du berichtest von drastischen familiären Konflikten, die sehr stark von deinem Vater bestimmt scheinen.
Keine Frage: Das sind miserable und dir unwürdige Zustände, eine echte Zumutung in deiner Lage! Nur ist es leider zusätzlich tückisch, dass du bisher keine deutlichen Versuche unternommen hast, deinem Vater die Grenzen aufzuzeigen und du aus Angst und dem schlechten Gewissen stillschweigend die Mehrfachbelastungen auf dich genommen hast. Es kann sehr schwerfallen, ein klares "NEIN!" auszusprechen, wenn man dauerhaft schlecht behandelt und manipuliert wird. Doch du bist längst volljährig und ein eigenständiger Mensch, der eine liebevolle Behandlung auf Augenhöhe verdient. Dafür kannst du einstehen, für dich! Du musst nicht das Aschenputtel der Familie sein. Das bedeutet, dass du für dich überlegen solltest, ob und inwiefern du deinen Eltern dies vermitteln kannst und möchtest.

Mir kommt es so vor, als würde es dich verwundern, dass deine Noten nicht sonderlich prächtig sind. Du schreibst, du lernst so viel und bleibst permanent am Ball. Wahrscheinlich erwartest du, dass sich Anstrengungen in entsprechenden Leistungen widerspiegeln. Doch leider ist das Gegenteil der Fall und das wundert mich kein bisschen. Du hast die denkbar schlechtesten Arbeits- und Lernbedingungen kurz vor deinem Abschluss, die man sich vorstellen kann: Du wirst ausgebeutet, nicht respektiert, in deiner Freiheit stark eingeschränkt, deine Bedürfnisse nicht ernstgenommen - und insgesamt viel zu viel von dir erwartet. Dass alles wirkt sich zwangsläufig auf deine Konzentrationsfähigkeit, deine Motivation und deine generelle Leistung in den Prüfungen aus. Denn wer Angst, Druck und seelische Schmerzen hat, ist in seinem Denken stark eingeschränkt. Die innerliche und äußerliche Freiheit fehlt, die für gute Leistungen so bedeutend ist. Hinzu kommt, dass du dir selbst nichts zu gönnen scheinst und dir selbst sinnlosen Druck machst. Also: Deine Noten spiegeln einfach das wider, was gerade bei dir los ist. Und deswegen kann ich nur betonen, dass du dich nicht noch selbst dafür fertig machen darfst!
Zum effektiven Lernen BRAUCHST du Pausen, ausreichend Schlaf, gutes Essen, frische Luft, Abwechslung und Freizeit. Solange sich nichts grundlegend an deinen Umständen ändert, wirst du weiterhin entsprechende Noten schreiben. Und noch schlimmer: Psychisch immer mehr zu Boden gehen.

Ich will an dieser Stelle gar nicht darauf eingehen, dass dein Vater kein Recht hat, dich derart auszunutzen und dich zu schlagen. Ich vermute, du weißt selbst am besten, dass das alles falsch ist und du daran stückweise zugrunde gehst.
In diesem Zusammenhang finde es gut, dass du für dich schon entschieden hast, nach dem Abitur auszuziehen - sehr weit weg. Bestimmt denkst du da sehnsüchtig an deine Schwester, die diesen Schritt bereits vollzogen hat. Sieh es als Kraftquelle, denn darauf kannst du hinarbeiten!

Was ist jetzt also zutun?
Du schreibst in wenigen Monaten dein Abitur. Du willst danach sowieso raus aus deinem Elternhaus. Aus diesen beiden Punkten ergibt sich für mich die Schlussfolgerung, dass es jetzt vor allem darum gehen muss, wie du halbwegs ungestört deine letzten Schulwochen und Lernphasen gestalten kannst. Mir fallen folgende Dinge ein:
- Am besten wäre es natürlich, wenn du deinen Eltern klar sagen könntest, dass du ab jetzt nur noch schulische Aufgaben erledigen kannst, weil du sonst das Abitur nicht bestehen würdest. Dann hättest du in deinem Zimmer wirklich die nötige Zeit, dich sowohl auszuruhen, als auch gezielt das Wichtigste für die Schule vorzubereiten.
- Dein Ansatz mit dem länger in der Schule Bleiben ist schon gut und absolut nachvollziehbar für mich! Baue es ggf. weiter aus, länger in der Schule zu sein. Solltest du wirklich gar nicht ehrlich und offen mit deinen Eltern sprechen können, musst du zu Notlügen greifen: "Ich bin mit Schulkamerad:innen in einer Lerngruppe."
- Sollte es zuhause nicht zu einer Besserung deines Fühlens kommen oder gar eskalieren, wäre eine vorübergehende Unterkunft bei Freund:innen, Verwandten oder Bekannten ratsam - einfach bis du alle Prüfungen geschrieben und dich ganz auf deinen Wegzug konzentrieren kannst.
- Ziehe in Betracht, dich in ein Frauenhaus zu flüchten - das ist keinesfalls übertrieben! Du hast das Recht, dich in aller Ruhe auf deinen Abschluss vorbereiten zu können, ohne körperliche und seelische Gewalt fürchten zu müssen! Am besten suchst du dir vorbeugend entsprechende Kontaktdaten heraus, sofern es bei dir in der Nähe eine solche Anlaufstelle gibt. Schau beispielsweise hier: https://www.frauen-info-netz.de/
- Auch eine Familienberatungsstelle kann dir helfen, eventuell kannst du deine Mutter unter vier Augen einweihen und mit ihr gemeinsam zu einem Termin gehen.
- Bitte suche dir auch Beistand in deinem Umfeld. Vertraue dich Anderen an, bleibe mit deinem Frust und deinen Ängsten nicht allein! Auch wenn sich das ungerechte Verhalten deines Vaters nicht (schlagartig) ändern wird, kannst du dennoch viel für dich selbst tun. Und das bist du dir auch in gewisser Weise schuldig. Also: Sei gut zu dir selbst, sieh dich nicht als Sklavin anderer Menschen. Verhalte dich ab jetzt anders, brich so gut es geht aus dieser starren Rolle aus. Das klingt schwer, aber vielleicht klappt es zumindest unter dem Fixpunkt "Abitur".

Und auch wenn du jetzt weiterhin nicht die dollsten Zensuren einfährst - das ist wirklich nebensächlich, solange du für dich eine bessere Gesamtsituation erzielen kannst. Im Notfall ziehst du bereits im Sommer aus und wiederholst dein Abitur. Oder hast eben einen nicht so grandiosen Schnitt. Was soll es!
Ich habe hier noch einen Link rund um das Lernen fürs Abi für dich: https://www.nach-dem-abitur.de/10-tipps-gegen-abistress.html

Ich wünsche dir, dass du für dich befriedigende Lernmöglichkeiten schaffen und dich gebührend von deiner Familie abgrenzen kannst.

Alles Gute!
Nuala