Problem von Anonym - 19 Jahre

Essverhalten

Hi liebes Team,

zuerst einmal vielen lieben Dank für die tolle Arbeit, die ihr hier leistet. Ich bin mir sehr sicher, dass ihr mit euren Worten schon vielen eine große Hilfe gewesen seid!

Ich schreibe euch gerade aus dem Moment heraus, weil mich meine eigenen Gedanken zu sehr erschrecken. Oft ist es dann schon besser, wenn ich mich einmal in geschriebener Form gesammelt habe. Weil es aber eine Sache ist, die mich schon einige Jahre beschäftigt, versuche ich es nun bei euch und nicht nur auf Papier.

Zuerst zu der ganz aktuellen Situation:
Ich habe heute den ganzen Tag über einfach gegessen, worauf ich Appetit habe und mir keinerlei Gedanken darüber gemacht, was das ist/ wie gesund oder nicht das werden könnte und habe dabei mehr gegessen als ich es sonst machen würde, weil ich eben einfach mehr süßen Hunger hatte. Jetzt sitze ich an meinem Schreibtisch und könnte heulen, weil ich mich so speckig, unsportlich und verfressen fühle. Dieses hässliche Gefühl ist so stark wie schon lange nicht mehr. Ich muss mich zusammenreißen, meinen sportfreien Tag einzuhalten und mir vor Augen zu führen, dass ich mich genug bewegt habe und genug geleistet habe um meine eigenen Gelüste vor mir zu rechtfertigen. Es ist nicht nur dieses Gefühl, was mich zerreißt, sondern auch einfach die Tatsache, dass mich das Essen wieder so sehr stört.

Bis vor ca. 1,5 Jahren habe ich ein sehr kontrolliertes Essverhalten an den Tag gelegt, zwar ohne ein drastisches Kaloriendefizit, aber einfach immer gesund, keine zuckerhaltigen Getränke, eher etwas weniger, abends häufig nichts, ... . Außerdem habe ich mich täglich gewogen und von meinen Vorsätzen keine Ausnahmen gemacht. Als ich festgestellt habe, dass ich mich zu dem Zeitpunkt schlecht gefühlt habe, wenn die Waage (+-200g) angezeigt hat (vollkommen albern, inzwischen weiß ich, dass sogar größere Schwankungen rein biologisch einfach logisch sind), habe ich den Urlaub mit Freunden draußen genutzt, um "vom Wiegen wegzukommen". Seitdem habe ich das durchgezogen und mich nicht mehr gewogen, wohl wissend, dass meine Hosen mir wohl verraten werden, wenn ich zu stark zunehme;)
Mit dieser Entscheidung ist ein enormer Druck abgefallen und es ging mir besser, bin allgemein einfach wieder glücklicher geworden, weil in meinen Gedanken wieder viel weniger Platz von Essen belegt ist:) Ich habe glaube ich gelernt, dass man in allem ein gesundes Maß finden kann (wohl am ehesten so etwas wie intuitives Essen) und mir geht es meistens wirklich gut damit. Inzwischen fühle ich mich meistens hübsch und mag meine Figur.
Und dann überkommt es mich, so wie heute Abend. Ich fühle mich absolut schlecht, stelle alles in Frage und würde am liebsten Sport treiben bis ich nicht mehr kann, was dann meistens auch mein "Ventil" ist und gut hilft. Oder beschließen, so diszipliniert zu werden wie früher, weil mir das auf eine schräge Art ein sehr positives Gefühl gegeben hat. Eigentlich weiß ich, dass ich seit dem Beschluss mit der Waage nicht viel zugenommen haben kann, weil z.B. mein hautenges Abiballkleid immer noch passt, aber trotzdem fühle ich mich dann so. Wenn nicht inzwischen meine Angst davor, was eine höhere Zahl auf der Waage mit mir machen würde und die Sorge, dann wieder genau dorthin zu kommen, wo ich mal war, mir das verbieten würde, dann würde ich wahrscheinlich zur nächsten Waage laufen, ein noch hässlicheres Gefühl haben als vorher und genauso diszipliniert wieder anfangen wie früher.
Ich habe nie jemandem von diesem Zwiespalt erzählt, nur mein Freund kennt einen Teil der Geschichte und freut sich, dass ich aktuell immer selbstbewusster werde und mich nackt meistens viel wohler fühle als im Anfang. Von diesen "Rückfällen" weiß er auch nichts, weil ich mir albern dabei vorkomme, das anderen zu erzählen. Das hört sich in meinen eigenen Ohren schon an wie richtiges "Mimimi", und ich will nicht, das man denkt, dass ich mich so sehr anstelle. Zumindest bei ihm kann ich mir eigentlich sicher sein, dass er erschrocken wäre und mich nicht für bescheuert erklärt, aber irgendwie kann ich es trotzdem nicht.

Ich hoffe ihr habt eine Idee, wie ich mich nicht so sehr aus der Bahn werfen lasse, wenn es mich wieder überkommt.

Vielen Dank für eure Geduld!

Nuala Anwort von Nuala

Liebe Unbekannte,

du liest dich schon sehr reflektiert. Es scheint für mich so, als seist du jetzt insgesamt auf einem guten Weg - in Gesundheit und Achtsamkeit. Da kann ich dich nur bestätigen und dich bestärken, deine bisherigen Erkenntnisse weiterzuführen und dich von ihnen tragen zu lassen. Verunsicherungen und "Rückfälle" können immer wiederkehren. Doch der Umgang damit ist das Entscheidende. Bestenfalls werden sie dann weniger oder hören ganz auf.

Was ich dir konkret raten kann: Noch weiter gründen, WARUM es überhaupt damals zu deinem sehr kontrollierten Essverhalten gekommen ist. Es geht also um die Ursachen. War es der gesellschaftliche Druck, vielleicht auch in Verbindung mit seelischen Nöten? Diesen Dingen in Ruhe nachzugehen, kann dir sehr viel bringen, um dein Verhalten in Zukunft entsprechend steuern zu können. Hier kann ich dich auch ermuntern, mit deinem Freund zwischendurch das Gespräch zu suchen. Einfach mal ein paar Gedanken teilen. Es muss kein riesen Thema sein, aber wenn ihr Muße habt, wäre es schon toll, das mal aufzugreifen. Allein sein Zuhören ist schon sehr wertvoll.

Außerdem finde ich es sehr wesentlich, das intuitive Essen konsequent wieder zu erlernen und damit die alten Muster "zu überschreiben". Kein Wiegen und kein Kalorienzählen, dafür auf Impulse eingehen und es als okay ansehen, wenn du Lust auf was Süßes hast. Falls dich das arg stört, kannst du dir ja auch gesündere Alternativen überlegen, also z.B. lieber mal einen Löffel Honig nehmen als Gummibärchen zu essen. Oder Obst als energiespendende Snacks. Der Körper verlangt offenbar schneller nach Süßem, wenn er einen Nährstoffmangel hat. Das ist gut zu wissen, denn da kannst du viel vorbeugend machen.

Ansonsten finde ich eine gewisse "Scheiß drauf"- Haltung gut, denn du bist keine Maschine und dein Leben hängt nicht davon ab, was du einmal gegessen hast. Du bist ja nicht "böse" oder "undiszipliniert", nur weil du mal Lust auf was nicht so Gesundes hast. Das ist ja eher eine Suggerierung von außen.

Wenn du wieder in so einem Moment steckst, kannst du auch Folgendes machen: Anstatt dazusitzen und dich selbst zur Schnecke zu machen oder übertrieben mit Sport zu kompensieren, kannst du einen Mittelweg gehen - im wahrsten Sinne des Wortes. Geh in aller Ruhe vor die Türe, gehe spazieren! Also wirklich gehen, nicht joggen. Geh in die Natur, setze dich auf eine einladende Bank, pack dir vielleicht ein gutes Buch ein zum Schmökern, gerne auch ein Notizbuch/Tagebuch, um deine aktuellen Empfindungen aufzuschreiben. So kannst du deiner Reflexion den nötigen Raum geben und somit konstruktiv mit der Situation umgehen. Und wenn du genug hast, gehst du ganz gemütlich wieder nach Hause. Dann "missbrauchst" du den Sport auch nicht (klar, abregen durch Sport ist was Feines, allerdings nicht, wenn damit durch die Hintertür Gewicht reduziert werden soll!).

Dann noch der Tipp, viel zum Thema Diskriminierung von Körpern, Gewicht und Dicksein lesen und dich auszutauschen, denn darin steckt sehr viel, was einen letztlich so negativ beeinflusst. "Fatshaming" und "Lookismus" sind die Stichworte, die du vielleicht schon kennst. Beispielhaft habe ich hier zwei spannende Artikel für dich:
- https://geschichtedergegenwart.ch/uebergewicht-wie-das-kalorienzaehlen-zur-selbsttechnik-wurde/
- https://sz-magazin.sueddeutsche.de/ueber-gewicht-mein-dickes-leben/natuerlich-darf-ich-gluecklich-sein-86372

Ich finde, man muss sich nicht zu hundert Prozent "schön" finden - es reicht schon, sich selbst anzunehmen und sich nicht dauernd niederzumachen. Sich selbst also immer wieder die Hand reichen.
Körper sind so verschieden, sie alle haben ihre Berechtigung. Warum sollte ein schlanker Körper ansprechender sein? Warum muss man irgendwelchen blöden Idealen entsprechen? Ankämpfen sollten wir nicht gegen uns selbst und unser Gewicht, sondern gegen hinderliche und diskriminierende Normen, die uns in unserer Freiheit beschränken.

Ich wünsche dir viel Freude auf deinem weiteren Weg mit mehr Balance und Wohlfühlen! :)
Nuala